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Die Bürgerversammlung sollte um zwanzig Uhr beginnen.

Astrid und van Appeldorn waren pünktlich, aber als sie an der alten Dorfschule ankamen, die heute den Gemeindesaal, zwei Vorschulklassen und Räume für die verschiedenen örtlichen Vereine beherbergte, war die Veranstaltung offenbar schon im Gange. Die Fenster waren erleuchtet, Stimmengemurmel drang nach draußen.

Auf dem Fahrradständer neben dem Eingang saß Bruno Schlüter und rauchte.

Astrid blieb vor ihm stehen. »Sieht ganz so aus, als wären wir zu spät. Guten Abend!«

»Guten Abend. Sie sind überhaupt nicht zu spät. Aber bei denen gibt es nie eine Tagesordnung oder so etwas. Um zwanzig vor waren alle da, also haben sie angefangen.«

»Scheint mir recht gesittet zuzugehen.« Van Appeldorn hatte durchs Fenster gelinst.

»Das ist hier immer so.«

»Und was tun Sie hier draußen? Wollten Sie nicht Rede und Antwort stehen?«

Schlüter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als Erstes haben die beiden Anwälte, die beauftragt waren, berichtet, dass mit dem Bau des Aussiedlerheimes alles rechtens und in Ordnung ist. Daraufhin habe ich mir erst mal ein Piepken genehmigt. Nicht, dass es daran irgendeinen Zweifel gegeben hätte! Was soll’s. Meine Frau macht sich bei solchen Veranstaltungen sowieso viel besser als ich. Mit Ihnen gehe ich aber gern wieder rein.« Er klopfte seine Pfeife an der Schuhsohle aus und verstaute sie in der Tasche seiner braunen Lederweste.

»Was mir eben eingefallen ist«, meinte van Appeldorn. »Von wem haben Sie das Grundstück damals eigentlich gekauft?«

»Von der Kirche. War übrigens äußerst günstig.«

»Und die wussten, was Sie vorhatten?«

»Natürlich. Da sollte was Soziales hin, sonst hätte ich das Stück Land gar nicht gekriegt.«

Sie blieben hinter der gläsernen Schwingtür zum Saal stehen, einem rechteckigen Raum mit kahlen, weiß gestrichenen Wänden. Nur an der Stirnseite hing ein schlichtes Kreuz aus hellem Eichenholz. Die Tische waren in einem Oval angeordnet, in der Mitte gähnte ein Loch, das unüberwindbar schien, weil die Gruppe der Anwesenden ziemlich groß war: vierzig bis fünfzig Leute, zwei Drittel davon Männer.

Der Mann, der gerade sprach, hatte ihnen den Rücken zugewandt. Er schien um die passenden Worte zu ringen, denn sie sahen, wie er seine herabhängenden Hände immer wieder zu Fäusten ballte. »Es geht uns doch einzig und allein darum, dass die Anzahl der Leute zu groß ist«, hörten sie. »Zwischen fünfzig und hundert Menschen, die integriert werden müssen …«

»Jelinek«, flüsterte Schlüter. »Auch ein Zugezogener, aber vor zwanzig Jahren schon. Hat sich gerade verbessert.«

Astrid entdeckte den Hotelbesitzer, der nicht so recht bei der Sache schien. Neben ihm, direkt unter dem Kreuz, saß ein knochiger, alter Mann mit vollem, weißem Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Er fixierte sie aus hellen Augen.

»Waldemar von Bahlow«, raunte Schlüter. »Ehemals Besitzer eines Rittergutes in Brandenburg. Rechts neben ihm seine drei Söhne, links von ihm der Pastor.«

Jetzt hatten auch andere im Saal sie bemerkt und fingen an zu tuscheln. Viele kannten sie schon von den ergebnislosen Befragungen, die sie den ganzen Tag in Eroglus Nachbarschaft geführt hatten.

Jelinek verstummte und drehte sich zur Tür.

Van Appeldorn schob sie auf.

»Entschuldigung?« Der Pastor hatte eine weiche Stimme. »Ich höre gerade, dass Sie von der Kriminalpolizei sind. Können wir Ihnen helfen?«

»Nein, danke, im Moment nicht«, antwortete Astrid kühl. »Machen Sie ruhig weiter. Wir werden dann sehen.«

Keiner sagte etwas, man schaute betreten vor sich hin, nur von Bahlow musterte sie immer noch.

Frau Schlüter ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Sie saß dicht beim Ausgang und stand jetzt entschlossen auf. »Es ist mir unbegreiflich«, rief sie, »dass ich gerade Ihnen hier in diesem Dorf diese Dinge immer wieder sagen muss! Sie alle sind selbst als Fremde hierher gekommen. Sie alle sind mit offenen Armen von den Menschen empfangen und angenommen worden! Und da wagen Sie es heute …«

Weiter kam sie erst einmal nicht. Das Gemurre wurde zu laut.

»Wir waren alle deutsch«, rief jemand.

»Aber das sind die Menschen aus Kasachstan und Wolhynien doch auch!«, konterte Lore Schlüter.

Waldemar von Bahlow schlug kurz mit der Faust auf den Tisch und stand auf, erstaunlich schnell und sicher für sein Alter. »Aber wir, Frau Schlüter, wurden nicht in ein Wohnheim gesteckt und kriegten das Geld vorn und hinten reingeschoben. Wir bekamen nichts als ein Stück Acker, Brachland, das wir mit unserer Hände Arbeit zum Blühen bringen mussten. Und das haben wir geschafft, alle gemeinsam. Und es war, weiß Gott, nicht leicht. Wir haben es geschafft, auch wenn es Blut und Tränen gekostet hat, auch wenn viele von uns aus ihrer Heimat nicht nur einmal, sondern sogar zweimal vertrieben worden waren. Dies hier ist unser Werk, auf das wir zu Recht stolz sein dürfen. Und ich schwöre Ihnen, wir werden es verteidigen.«

Er erntete weder Zustimmung noch Protest, es blieb ganz still, und Astrid fragte sich, ob das an ihrer Anwesenheit lag.

Von Bahlow schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass er gegen die Wand schlug, und wandte sich zum Gehen.

»Aber Herr von Bahlow!« Der Pastor stand auf und fasste den alten Mann beim Arm. »Wir alle haben Verständnis, dass Sie erregt sind, aber wir dürfen uns nicht von Bitterkeit und Hass leiten lassen.«

»Halten Sie den Mund!« Von Bahlow machte sich frei. »Sie Grünschnabel!«

Jetzt hatten sich auch seine Söhne erhoben, aber ein kurzes Kopfrucken des Alten hielt sie davon ab, ihm zu folgen. Er verließ den Raum aufrecht und ohne jemanden anzuschauen.

Lore Schlüter fand ihre Sprache wieder. »Was soll das denn heißen? ›Wir werden es verteidigen?‹ Was haben Sie vor?«, schrie sie hinter ihm her und drehte sich dann wieder zum Saal. »Weiß hier eigentlich irgendeiner, was die Menschen, die bei uns Aufnahme finden, alles mitgemacht haben? Welche Schicksale dahinter stecken? Die Russlanddeutschen, die jetzt aus Kasachstan kommen, sind seit 1941 immer nur Verfolgte gewesen, Ausgestoßene, Geächtete in einem Land, in das man sie verschleppt hat, dessen Sprache sie nicht einmal sprechen. Und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben diese armen Kreaturen nicht einmal mehr genug zu essen! Und da stellen Sie sich hin, da erdreisten Sie sich.«

»Einen Augenblick, Frau Schlüter.« Der Pastor legte die Hände ineinander. »Wir sollten uns alle erst einmal wieder beruhigen, nicht wahr? Und.« Er machte eine Pause und sah einen nach dem anderen an. »… wir sollten einander zuhören, miteinander sprechen und gemeinsam eine Lösung finden.« Jetzt lächelte er. »Wir wollen nun die Hand unseres Nachbarn nehmen und ein Gebet sprechen: Herr, wir bitten dich um Besonnenheit. Gib unserem Geist Klarheit und erfülle unsere Herzen mit Wärme. Amen. Und jetzt lassen Sie uns die große Runde auflösen und die Tische zu kleinen Gruppen zusammenschieben. Von Angesicht zu Angesicht redet es sich leichter. Ich habe in der Küche etwas zum Knabbern vorbereitet und Getränke kühl gestellt. Die beiden Beamten sind selbstverständlich herzlich gebeten, unsere Gäste zu sein.«

»Ohne mich«, zischte Schlüter van Appeldorn ins Ohr, während im Saal Geschäftigkeit ausbrach. Die Gemeinde schien solche Aktionen gewöhnt zu sein. Ohne weitere Anweisungen wurden Tische und Stühle gerückt, ein paar Frauen liefen in die Küche und kamen mit Tabletts voller Gläser und Schüsselchen wieder zurück. Zehn Minuten später brannte auf jeder Tischgruppe eine Kerze, die Frauen schenkten Weißwein aus, der Pfarrer verteilte Servietten.

Nicht nur Schlüters hatten sich aus dem Staub gemacht. Mehrere, hauptsächlich ältere Leute waren hinausgegangen. »Besorg mir auch ein Glas Wein, ja?«, flüsterte Astrid. »Ich bin gleich wieder da.«

Van Appeldorn nickte, er hatte dieselbe Idee gehabt. Aber draußen war niemand zu sehen. Anscheinend hatten sich alle unverzüglich auf den Heimweg gemacht.

Als Astrid in den Saal zurückkehrte, stand der Pastor neben van Appeldorn. »Ich sagte gerade zu Ihrem Kollegen, wie bestürzt wir alle sind über die Brandstiftung. Sie waren heute den ganzen Tag im Dorf. Haben Sie schon einen Anhaltspunkt?«

»Leider nicht.« Astrid nahm van Appeldorn das Weinglas aus der Hand.

»Glauben Sie denn, dass es jemand aus dem Dorf war?« Zwei Frauen mittleren Alters hatten sich zu ihnen gesellt.

»Bei unserer Arbeit kommt es nicht darauf an, was wir glauben«, entgegnete van Appeldorn schroff, aber die Frau ließ sich nicht beirren.

»Niemals, das schwör ich Ihnen, niemals hat das einer von uns getan! Wir sind doch alle froh, dass wir endlich wieder ein Geschäft im Ort haben. Und die Eroglus, das sind doch wirklich sympathische Leute.«

»Ja!« Die andere lächelte versonnen. »Neuerdings reißt sich sogar mein Sohnemann darum, einkaufen zu gehen. Aber nur wenn die Ayse hinter der Theke steht.« Sie zwinkerte ihrer Freundin zu. Die kicherte. »Und da ist er nicht der Einzige! Das Mädchen ist ja auch eine kleine Schönheit.« Dann wurde sie wieder ernst. »Herr Pfarrer, die Frauenhilfe hat sich überlegt, dass wir den Eroglus einen Brief schreiben wollen. Wie Leid es uns tut und dass sie doch bitte den Laden wieder öffnen sollen. Vielleicht könnte man auch ein bisschen was sammeln.«

»Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee!«

Van Appeldorn und Astrid blieben noch über eine Stunde. Sie lernten eine Menge über die Bedeutung des Erntedankfestes in Nierswalde, erfuhren, dass der Pastor die Erntekrone segnen würde, dass man sich Psalm 23 wünschte, hörten Müttern zu, die sich darüber austauschten, wie man für die Kindergruppe im Umzug Broschen aus grünen Böhnchen und Ohrgehänge aus jungen Karotten bastelte. Noch etliche Male bedauerte man Eroglus Schicksal, beteuerte, dass es keiner aus dem Ort gewesen sein konnte. Nur über das Aussiedlerheim sprach niemand mehr.