13

Im Angesicht der internationalen Koryphäen in ihren nagelneuen Kitteln wirkte die kleine Prosektur noch schäbiger als sonst, aber Toppe stellte fest, dass die Männer aus Leiden, Wien, Bologna und Düsseldorf sich herzlich wenig für ihre Umgebung interessierten. Die meisten hatten nicht einmal bemerkt, dass Klaus van Gemmern und er an der Wand standen und das Spektakel beobachteten.

Arend Bonhoeffer führte die Sektion durch und kam ein paar Mal ins Schwitzen. Henry hatte Recht behalten, teilweise musste er mit Hammer und Meißel arbeiten. Die ganze Zeit wurde lebhaft debattiert. Man verständigte sich, mehr oder weniger flüssig, in englischer Sprache.

Nach zweieinhalb Stunden schloss Bonhoeffer endlich die Versammlung mit einer souveränen Geste und wohlgesetzten Worten. Dann suchte er Toppes Blick. »I am awfully sorry«, wandte er sich kurz der Runde zu, »but I have to leave you for a couple of minutes. Chief Inspector Toppe – the gentleman over there – needs some information immediately. So, would you please be so kind as to follow Henry to the lounge? We have prepared a little refreshment for you there. I shall be with you in no time.«

Er streifte Handschuhe und Kittel ab und nahm die beiden Polizisten mit in sein kleines, fensterloses Büro. »Heute brauche ich einen Calvados«, meinte er. »An so einem Tag weiß ich dann wieder, warum ich mich für die kleine Karriere entschieden habe. Ständig könnte ich diesen Auftrieb nicht ertragen.« Er entkorkte die Flasche und goss drei Wassergläser halb voll. »Reden wir mal wieder wie normale Menschen. Es handelt sich also um eine männliche Leiche, zum Todeszeitpunkt zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Um genauer zu sein, müssen wir erst den Zahnstatus haben. Der Tod ist vor acht bis zwölf Jahren eingetreten. Auch das kann ich nach weiteren Analysen genauer eingrenzen. Mit großer Sicherheit ist der Mann ermordet worden. Gestorben ist er jedenfalls an einem Genickschuss und der Schusskanal weist darauf hin, dass es kein Selbstmord gewesen ist. Mich erinnert das Bild an die Art von Hinrichtung, die bei der SS beliebt war. Es handelt sich um ein 9-mm-Geschoss und der Schuss war aufgesetzt.« Toppe staunte. »Das kann man heute noch feststellen?«

»Wenn wir nur ein Skelett hätten, ginge das vermutlich nicht, aber wir haben ja eine Fettwachsleiche. Bei einem aufgesetzten Schuss kommt es zu Temperaturen von über 1.000 °C und wir konnten im Nacken des Toten eindeutige Verbrennungsspuren ausmachen. Die Luftsäule vor dem Geschoss trifft mit zirka 2.000 bar auf das Gewebe auf. Wenn man einen Schuss aufsetzt, kann sogar eine Platzpatrone tödlich sein. Beim Austritt des Geschosses ist jedenfalls der Unterkiefer weggerissen worden. 9 mm, also. Ihr solltet die Kugel suchen, damit wir die Waffe zuordnen können.«

Van Gemmern stellte den Schnaps, an dem er nicht einmal genippt hatte, auf dem Schreibtisch ab. »Die Fundstelle ist eindeutig nicht der Tatort. Es gibt dort keine Kugel, keine Hülse und vor allem keinen Unterkiefer, nicht einmal nennenswerte Blutspuren.« Er dachte nach. »9 mm Parabellum, Vollmantelgeschoss vermutlich, weil ausschließlich der Kiefer weggerissen worden ist. Da kommen so einige Waffen in Frage. SS-Methode, haben Sie gesagt. Die Wehrmachtswaffe damals war eine 9 mm Walther P 38. Die gleiche benutzt die Bundeswehr heute noch. Man hat sie nur umbenannt in Walther P 1.

Aber da gibt es noch eine ganze Reihe anderer. Die Glock beim österreichischen Heer, die P 7 bei der bayerischen Polizei, unsere P 5, die Heckler & Koch … Über die Waffe kann man nichts einkreisen, fürchte ich.«

An diesem Freitag machten sie alle pünktlich Feierabend und Toppe zündete zum ersten Mal in diesem Herbst den Kamin in seinem Zimmer an. Katharina wollte unbedingt helfen, aber die Holzscheite waren zu sperrig für ihre kleinen Hände. Als Toppe mit anfassen wollte, wurde sie böse: »Lass sie! ’leine machen!« Dann zog sie ein Schüppchen.

Astrid kniete sich vor sie hin. »Sollen wir baden gehen?«

So leicht ließ sich Katharina nicht von ihren Plänen abbringen, man konnte sehen, wie sie überlegte. »Mama mit!«, entschied sie schließlich.

Astrid lachte. »Ja, Mama kommt mit in die Wanne.«

»Lapplappen?«

»Natürlich kriegst du deinen Entenwaschlappen.« Sie nahm ihre Tochter auf den Arm und ging mit ihr zu Walter Heinrichs hinüber. »Kriegt Walter einen Kuss?«

»Nein! Lapplappen!«

»Aber von mir kriegt er einen«, lachte Astrid und küsste Heinrichs herzhaft auf den Mund. »Danke für alles. Danke, dass es dich gibt.«

Heinrichs wurde ganz heiser. »Was ist das eigentlich für ein Haushalt hier? Alle naselang wird einem Wein aufgedrängt, aber wenn man wirklich welchen möchte, fragt einen keiner. Heute habe ich Zeit. Also?«

Toppe sputete sich. Er wusste, dass Heinrichs neugierig war und dass er sich freute, wenn er noch ein kleines bisschen an der Arbeit teilhaben konnte, die so viele Jahre sein Leben bestimmt hatte.

»Feiner Tropfen!« Heinrichs schlürfte genüsslich und machte es sich im Sessel bequem. »Eine Fettwachsleiche! Ist das nicht fantastisch?«

Toppe schlug die Augen gen Himmel. »Ich kann’s nicht mehr hören, ehrlich. Für mich ist das in erster Linie ein Mensch, der getötet worden ist, und wir haben die aparte Aufgabe, einen zehn Jahre alten Mord aufzuklären.«

»Ja, ja, das musst du mir nicht erzählen, aber ich kann mich jetzt dem Luxus hingeben und in aller Ruhe meinen spinnerten Ideen nachgehen.« Er nahm noch einen Schluck Bordeaux und kaute darauf herum. »Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie oft ich euch in all den Jahren auf den Geist gegangen bin?«

Toppe grinste nur. Heinrichs und seine Begeisterung für historische Kriminalfälle. Ständig hatte er Parallelen gesehen und obskure Theorien entwickelt. Natürlich war er ihnen damit auf die Nerven gefallen, aber oft genug hatte er, wenn sie mal wieder auf der Stelle traten, mit seinen Ideen den Ermittlungen die entscheidende Wendung gegeben. »Was hast du vor?«, fragte er jetzt.

»Was wohl?«, entgegnete Toppe und griff nach seiner Zigarettenschachtel, aber Heinrichs kam ihm zuvor.

»Ja, Chef«, leierte er herunter, »ich weiß, ich darf nicht rauchen. Ja, Chef, ich hatte einen Herzinfarkt. Ja, Chef. gib mal dein Feuerzeug.«

Toppe warf es ihm zu. »Im Moment können wir nur die Listen aller vermissten Personen von etwa 1987 bis 1992 durchgehen. Reine Fleißarbeit.«

»Mit den vagen Angaben, die ihr habt? Wie sieht denn das Gesicht des Toten aus? Könnte man ein Foto davon in der Presse veröffentlichen?«

»Ganz bestimmt nicht!«

»Ich würde mir den schon gern mal angucken«, meinte Heinrichs versonnen und Toppe ahnte, dass nun eine Heinrichs’sche Eingebung folgen würde. Und so war es dann auch. »Mir ist da gerade was eingefallen … Also, an deiner Stelle würde ich mal mit Henry sprechen.«

»Henry?« Mit allem Möglichen hatte Toppe gerechnet, aber das versetzte ihn nun doch in Erstaunen.

»Sag bloß, du weißt das nicht! Henry hat ein ganz exklusives Hobby, Anthropometrie, wenn dir das was sagt. Und er ist verdammt gut darin.«

Toppe musste einen Augenblick nachdenken. »Ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt. Das macht man doch inzwischen bestimmt am Computer, oder?«

»Am Computer!« Heinrichs war empört. »Das ist doch Stümperkram!«

»Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass es noch Leute gibt, die Köpfe vermessen und Gesichter nachmodellieren wie in Gorki Park.«

»Gorki Park«, meinte Heinrichs herablassend. »Die Ursprünge dieser Methode liegen bei der Sureté in Paris im letzten Jahrhundert, aber richtig weiterentwickelt hat sie Cesare Lombroso, und das Ganze hat durchaus wissenschaftlichen Anspruch. Henry macht das sehr gut. Er arbeitet mit Plastilin. Ich habe so einiges von ihm gesehen. Der ist ein echter Künstler.«

Toppe stellte sein Weinglas ab. »Lass uns mal konkret werden.«

»Wie ich diesen Satz vermisst habe!«

Sie lachten beide.

»Du meinst also, Henry könnte das Gesicht des Mannes rekonstruieren.«

»Bestimmt! Ich glaube sogar, dass das bei einer Fettwachsleiche einfacher ist als sonst. Soweit ich weiß, ist da noch Muskelgewebe vorhanden und dergleichen.«

»Ja«, nickte Toppe, »das habe ich inzwischen auch gelernt. Ich werde Henry fragen. Ich glaube, er kommt heute Abend sowieso her. Wenn er die Rekonstruktion hinkriegt, könnten wir Fotos machen und sie veröffentlichen.«

»Mit der Frage: Wer kennt diesen Mann?«, führte Heinrichs den Satz weiter. »Genau, versuchen muss man’s, obwohl mir die Chance, dass sich jemand nach so langer Zeit darauf meldet, ziemlich gering scheint.«

»Ich weiß nicht«, meinte Toppe. »Wir haben den Vorteil, dass das Dorf sehr klein ist. Dort kennt praktisch jeder jeden und Fremde fallen mit Sicherheit auf. Du kommst doch aus der Gegend. Erzähl mir mal was über dieses Nierswalde.«

Heinrichs hatte schon immer gern erzählt. »Im Krieg war die ganze Ecke dort noch ein zusammenhängendes Stück Reichswald. Mich wundert eigentlich, dass nicht schon viel öfter eine Leiche ausgegraben wurde. 1945 ist es da an der Frontlinie unheimlich zur Sache gegangen. Die toten Soldaten, und das waren nicht wenige, kann ich dir sagen, hat man gleich vor Ort in Gräben verscharrt. Der Wald war durch den Krieg natürlich ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, die Engländer und die Holländer haben eine Menge abgeholzt, und dann hat es ein, zwei Jahre später auch noch schlimm gebrannt. Also stellte man sich die Frage, sollte man aufforsten oder roden. Man hat sich dann fürs Roden entschieden. Schließlich waren das Hungerjahre und man brauchte dringend Ackerland. Außerdem gab es eine Menge Heimatvertriebener aus dem Osten, Bauern, die irgendwo angesiedelt werden mussten. Lübke war damals bei uns Landwirtschaftsminister und hat die Sache ins Rollen gebracht. Eine Siedlungsgesellschaft, das Rheinische Heim, hat die Durchführung übernommen und die Ortschaften geplant: A, B und C. Namen haben die erst später bekommen: Nierswalde, Reichswalde und Rodenwalde. Richtige Dörfer mit Kirche und Schule sind nur die ersten beiden geworden. Um Geld zu sparen, hat man in Reichswalde nur Katholiken angesiedelt und in Nierswalde die Evangelischen. So brauchte man jeweils nur eine Kirche zu bauen. Es hat hier damals eine Menge böses Blut gegeben. Schließlich hatten viele einheimische Bauern ihre Pachthöfe verloren und brauchten ebenfalls eine neue Existenzgrundlage. Letztendlich hat man sich darauf geeinigt, dass zumindest ein Drittel der Siedlerstellen an Niederrheiner gehen sollte. Beim Kreis konnte man sich um so eine Stelle bewerben. Die Ackerfläche, die den einzelnen Bauern zugeteilt wurde, berechnete sich nach der Größe des Grundbesitzes, den die Vertriebenen in ihrer jeweiligen Heimat verloren hatten. Da gab es dann den nächsten Aufstand. Die meisten Flüchtlinge hatten ja keine Papiere mehr und konnten nichts beweisen. Wenn sie sagten, in Pommern hätten sie ein Landgut von 200 ha gehabt, dann konnte man das glauben oder nicht.«

Toppe erinnerte sich. »Das habe ich als Kind mitgekriegt. Meine Mutter hat sich darüber amüsiert, aber mein Onkel meinte immer, wenn man das Land, das die Flüchtlinge besessen haben wollten, zusammenrechnet, dann hätten die deutschen Ostgebiete flächenmäßig so groß sein müssen wie die gesamte Sowjetunion.«

»Hier hat man sich darüber überhaupt nicht amüsiert. Das war ein ganz schönes Hauen und Stechen. Aber dann sind die Dörfer doch in Rekordzeit aus dem Boden gestampft worden. Es gab nur zwei Häusertypen, die von einer Uni entworfen worden waren. Man konnte also fix bauen, jeder half jedem und die Leute sind sehr schnell, so verschieden sie auch waren, zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. In Nierswalde hat man schon 1950 das erste Erntefest gefeiert, da waren noch nicht mal alle Häuser fertig und eine Kirche gab es auch noch nicht. Man war stolz auf die neue Heimat, aber man war gleichzeitig auch wirklich dankbar. Mit den Jahren haben manche ihre Betriebe aufgegeben und sind weggezogen, neue Bürger sind gekommen, aber die wurden sofort integriert. Ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen, aber soweit ich mich erinnern kann, ist es in dem Dorf immer ruhig und gesittet zugegangen. Oder hatten wir je einen Fall in Nierswalde?«

»Nicht in meiner Zeit«, antwortete Toppe, »aber dafür kommt es jetzt Schlag auf Schlag und knüppeldick.«

»Ich kann dir am Montag ein Buch über die Siedlungsgeschichte mitbringen, mit dem Dorfmotto: ›Aus Not und Tod zu Heim und Brote. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen. Ist allerdings ein bisschen viel Blut und Boden drin und für deinen Geschmack wahrscheinlich auch zu viel vom lieben Gott.«

Toppe stand auf und legte Holz nach. »Macht nichts, ich werd’s überleben.«

In der Halle hörte er Astrid leise mit Katharina sprechen – Zeit fürs Gutenachtschmusen.

Henry war geradezu begeistert, als Toppe ihn fragte. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Hobby mal irgendwann der Polizei helfen könnte. Guck nicht so skeptisch, Helmut, ich bin ganz sicher, dass ich ein gutes Ergebnis hinbekomme.«

»Daran zweifele ich ja gar nicht, ich fühle mich nur nicht wohl, wenn du dafür deine Freizeit opferst. Und es gibt nicht einmal Geld dafür.«

»Geld! Wer braucht schon Geld?« Henry breitete theatralisch die Arme aus. »Ich muss wohl nicht fragen, wie schnell du die Rekonstruktion brauchst.«

Entschuldigend hob Toppe die Hände.

»Dann lass mich mal überlegen. eine Woche wird es wohl dauern, wenn ich heute Abend gleich anfange und wenn ich einen habe, der mir assistiert. Wie sieht es mit dir aus, Gabischatz?«

»Mit mir?« Gabi guckte verdutzt. »Du willst mich mit in deinen Leichenkeller nehmen?«

»Dich am allerliebsten, das weißt du doch. Ich erkläre dir auch alles ganz genau, kein Problem. Und es ist überhaupt nicht eklig. Es wird dir Spaß machen, glaub mir.«

»Warum nicht?«, antwortete Gabi langsam. »Warum eigentlich nicht?« Sie strahlte Henry an und Toppe wunderte sich einmal mehr über seine frühere Frau. Sie genoss es, sich an diesen Bären anzulehnen und ihn das Tempo bestimmen zu lassen. Gleichzeitig traute sie sich Dinge zu, an die sie früher nicht im Traum gedachte hatte oder vor denen sie weggelaufen war.

Am nächsten Morgen kämpfte er sich mühsam aus einem bleischweren Schlaf. Er fühlte sich wie ein schlaffer Ballon.

Aus der Küche kamen muntere Töne. Astrid schmetterte »Siehst du die kleinen Matrosen?« und Katharina unterstützte sie mit fröhlichem Krähen. Es roch nach gebratenem Speck.

Er bekämpfte den Impuls, sich noch einmal in den Kissen zu vergraben, und tapste ins Badezimmer. An Tagen wie diesem wollte er sich nur irgendwo einigeln und allein sein, aber er hatte sich geschworen, seine alten Fehler nicht zu wiederholen. Und Fehler waren es doch wohl gewesen …

Beim Rasieren schnitt er sich zweimal.

»Morgen, meine beiden!«, rief er, als er in die Küche kam. »Mm, riecht das guut!«

Astrid hielt in der Bewegung inne und schaute ihn an. Dann verteilte sie den Speck auf den Tellern und setzte sich.

»Du? Wär’s ein Problem, wenn ich gleich mit Katharina für zwei, drei Stündchen zu meinen Eltern fahre? Sie haben sich im Garten einen Whirlpool bauen lassen und den würde ich gern ausprobieren.«

Toppe schüttelte den Kopf. »Ach, komm, das musst du wirklich nicht, nur weil ich mal wieder.«

Aber sie legte ihm schnell die Hand auf den Arm. »Es ist in Ordnung, ehrlich. Mir geht es gut.«

Und er wusste, dass es stimmte.

Meistens half es ihm, wenn er einfach aus dem Haus und zwei Stunden im Wald oder auf dem Truppenübungsplatz spazieren ging. Aber sonntags tummelten sich dort die Klever Hunde nebst ihren Herrchen und Frauchen und vermutlich würden etliche Leute da sein, die zum ersten Mal in diesem Jahr ihre Drachen steigen ließen.

Schließlich setzte er sich ins Auto und fuhr an den Rhein. An dieser Stelle war er schon einmal gewesen, als eine Wasserleiche angetrieben worden war.

Wie viele schöne Orte in der Gegend hatte er nur im Zusammenhang mit dem Tod kennen gelernt?

Er schob die Bilder beiseite, ignorierte das Autogerippe, das im Buschwerk klemmte, achtete nicht auf den Müll bei den Ölwerken, sondern wandte sich nach links, wo sich ein breiter, heller Sandstreifen am Ufer entlangzog und Trauerweiden geheimnisvolle Lauben bildeten.

Der Fluss war träge heute, es waren kaum Schiffe unterwegs.

Toppe setzte sich ans äußerste Ende einer Buhne und atmete ein paar Mal tief durch. Zwischen den Steinblöcken unter seinen Füßen schwappte schwarzes Wasser.

Er versuchte an nichts zu denken, aber wie so oft schossen ihm willkürliche Gedankenfragmente durch den Kopf: »Mir ist es hier zu kalt. Ich gehe nach Südamerika.« Das waren Sätze aus einer Geschichte von Peter Bichsel, die er mochte und oft gelesen hatte. Er schalt sich selbst kitschig und wehleidig.

Vielleicht wäre er besser nach Nierswalde gefahren, durchs Dorf gewandert und hätte versucht, die Atmosphäre dort zu erfassen?

Er zündete sich eine Zigarette an und begann zu sortieren: Wenn Deniz Eroglu kein Geständnis ablegte – und das würde er nicht tun –, mussten sie die Brandstiftung aus Mangel an Beweisen zu den Akten legen.

Was den Vandalismus anging, hatten sie genug Spuren, die jederzeit als Beweis reichen würden, wenn man die Verdächtigen gefunden hatte. Aber konnten sie von jedem Dorfbewohner Fingerabdrücke nehmen oder alle Gummistiefel kontrollieren? Wenn es sich um ein Kapitalverbrechen gehandelt hätte, würden sie zu jedem Mittel greifen, aber bei einer simplen Sachbeschädigung?

Es widerstrebte ihm aufzugeben.

Wie viele Einwohner hatte Nierswalde? Wenn die Chefin ihnen einen zusätzlichen Mann bewilligte, konnten sie wahrscheinlich in zwei bis drei Wochen jeden Dörfler überprüft haben.

Schade, dass Ackermann nicht da war. Der hätte sich mit Feuereifer auf so eine Aufgabe gestürzt.

Und wenn die Täter gar nicht aus Nierswalde kamen? Wenn das Motiv hinter all dem, genau wie bei der Brandstiftung, gar nicht Fremdenhass war, sondern ein interner Zwist? Vielleicht wollte irgendjemand Schlüter in den Karren fahren. Rechtsanwälte machten sich Feinde.

Und schließlich war da noch der Tote, der weder etwas mit der Brandstiftung noch mit dem Vandalismus zu tun hatte. Oder? Ein Mord, der zehn Jahre zurücklag.

Bizarr war nicht nur die Leiche, bizarr war auch das, was Henry machte. Wieso hatte er sich gestern bloß so schnell von Walters Enthusiasmus anstecken lassen? Wurde er langsam ein bisschen wunderlich, spleenig? Dieser Beruf veränderte einen. Es gab genug ältere Kollegen, die der Welt nur noch mit Zynismus gegenübertraten. Und sie wussten es nicht einmal.

Nun ja, zumindest war der Versuch einer Rekonstruktion des Gesichtes spannender als das, was in den nächsten Tagen Routine sein würde: Vermisstenlisten heraussuchen und überprüfen, Fotos anschauen, mit Leuten reden. Vielleicht war van Gemmern erfolgreich und fand noch mehr als nur den hellblauen Hemdknopf, und man konnte den Toten über seine Kleidung identifizieren. Wenn die denn bei der Vermisstenmeldung angegeben worden war Sollten sie den Toten tatsächlich identifizieren, blieb immer noch die zentrale Frage: Wer hatte den Mann mit einem aufgesetzten Genickschuss getötet, ihn gewissermaßen hingerichtet? Warum richtete man einen Menschen hin? Wer richtete einen Menschen hin?

Und wo war es passiert? Nicht an der Fundstelle, das wussten sie.

In der Nähe? In Nierswalde? Diesem Dorf, in dem die Siedler auf Gedeih und Verderb zusammenhielten. Aus Not und Tod zu Heim und Brot …

Empfand man das heute noch so?

Der Mann hatte unmittelbar unter dem Fundament des Spielhauses gelegen. Wann war das Haus gebaut worden? Wer genau war am Bau beteiligt gewesen?

Sie würden nicht nur die Vermisstenlisten überprüfen, sie würden auch mit den älteren Dorfbewohnern sprechen müssen, mit denen, die gesiedelt hatten, die sich alle noch kannten.

Von Bahlow war kein schlechter Anfang. Einer der ersten Siedler, der Mann, der anscheinend den Bürgerprotest organisiert hatte. Wie ging so etwas eigentlich zusammen mit dem Motto: Aus Not und Tod …?

Er würde es herausfinden.

Toppe stand auf, kletterte zum Ufer zurück und sammelte ein paar flache Steine. Er bückte sich leicht und fitschte den ersten übers Wasser.

»Achtmal, gar nicht schlecht«, sagte jemand hinter ihm.

Es war ein Pärchen, jung noch, vielleicht siebzehn.

»Ja.« Toppe lächelte und drückte dem Jungen die restlichen Steine in die Hand. »Ja, finde ich eigentlich auch.«