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Cox meldete sich den ganzen Dienstag über nicht, die Mailbox blieb leer.
»Pädagogisch höchst ungeschickt«, meinte Astrid. »Erst gibt er uns mehrere großartige Einführungen und dann lässt er die Übungsphase aus. Er könnte doch wenigstens mailen, dass er gut angekommen ist.«
Toppe beantragte die Exhumierung von Helene Opitz’ Leichnam. Die Chefin zuckte nicht mit der Wimper, sie kümmerte sich sogar selbst um den Staatsanwalt und den Chemiker, die bei einem solchen Ereignis dabei sein mussten.
Nachdem er alle Telefonate erledigt hatte, setzte Toppe den Termin auf morgen, Mittwoch, um 15 Uhr fest. Dann fuhr er nach Nettetal-Kaldenkirchen und besuchte von Bahlows frühere Pächter. Wegen des dichten Verkehrs auf der Autobahn verspätete er sich um eine halbe Stunde, etwas, das er hasste.
Die Pächter hielten von Bahlow für ein ausgemachtes Schwein. Vor fünfzehn Jahren hatte er händeringend jemanden für seinen Besitz an der Waldstraße gesucht und ihnen fast die Füße geküsst, als sie den Betrieb übernommen hatten. Per Handschlag hatte man besiegelt, dass die regelmäßig anstehende Verlängerung des Pachtvertrages für beide Seiten eine Pro-forma-Angelegenheit sein würde. So war es dann auch zunächst gewesen. Was von Bahlow ihnen allerdings verschwiegen hatte, war, dass er den Pachtzins konstant kräftig zu erhöhen gedachte. Als sie einmal in einem finanziellen Engpass gesteckt hatten, hatte er ihnen unverzüglich eine Räumungsklage geschickt, sie aber im letzten Moment wieder zurückgezogen.
»Der hat uns schikaniert, wo er konnte. Jeden Monat machte er einen Kontrollgang, schritt wie ein Großgrundbesitzer seine Morgen ab und überzeugte sich davon, dass wir alles im Schuss hatten. Eigentlich hätten wir froh sein müssen, dass er letztes Jahr aus heiterem Himmel den Vertrag nicht mehr verlängern wollte.«
Aber die Leute hatten keine andere Existenzgrundlage gehabt und natürlich gekämpft, zumindest um Fristverlängerung gebeten, aber von Bahlow war knallhart geblieben.
Es hatte damit geendet, dass die Pächter für ein paar Monate bei Verwandten hatten unterschlüpfen müssen, denn so schnell fand man keinen neuen Betrieb. Inzwischen standen sie wieder auf eigenen Füßen und konnten sich einen Anwalt leisten. Sie würden gegen von Bahlow klagen, denn der hatte sich geweigert, ihnen eine Entschädigung zu zahlen für Saatgut, Jungpflanzen, die schon in den Treibhäusern wuchsen, und für das, was auf den Feldern erntereif war.
»Im letzten Jahr schon hat er den Vertrag nicht mehr verlängert. Dann muss er da schon gewusst haben, dass er Jelineks umsiedeln wollte.« Toppe grübelte auf der Rückfahrt düster vor sich hin und landete in einem Stau, der so lange dauerte, dass er auch noch die letzten angenehmeren Gedanken verlor.
Van Appeldorn und Astrid waren beide den ganzen Tag unterwegs gewesen und warteten schon auf ihn. Sie hatten ebenfalls Merkwürdiges erfahren: Waldemar von Bahlow hatte bei all seinen Haus- und Grundstückskäufen immer bar bezahlt. Ob es sich um 70.000, 120.000 oder sogar einmal 186.000 Mark gehandelt hatte, immer hatte er das Geld in einem Koffer mitgebracht und bar auf die Hand gezahlt.
Sie saßen noch eine Weile zusammen und versuchten, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, aber es kam wenig dabei heraus. Von Ackermann hörten sie nichts.
Am Mittwochmorgen war endlich eine Nachricht von Cox da. Er hatte sie in der letzten Nacht abgeschickt:
Opitz’ Kösliner Existenz bewiesen. Kein Waisenhaus mehr (ausgebombt, nicht wieder aufgebaut), dafür Geburtsurkunde und Taufschein. Mit Dolmetscher auf dem Weg zu einem Priester, der Konstantin von Bahlow gekannt haben soll. Später dazu mehr. Menschen sehr gastfreundlich, Wodka höchstprozentig, deshalb (Kombination: Gastfreundschaft-Wodka) erst jetzt Meldung; Essen reichhaltig – es gibt hier kein Alka-Seltzer!! An Ackermann: bisher nur nach Alkoholgenuss leckere Frauen gesehen. Hotel spottet jeder Beschreibung. Hatte keine Gelegenheit mehr, Reiseführer umzutauschen. P. C.
Exhumierungen waren niemals angenehm, aber wenn man, wie die beiden lieben Kollegen, Schuster und Schumacher, vergessen hatte, den Friedhof abzusperren, wurde es schlimm.
Toppe sah das traurige, mahnende Gesicht des Pastors. Etliche andere Leute hatten sich eingefunden und alle drückten sie ihre Missbilligung aus. Sensationsgier entdeckte er nur bei den Arbeitern der benachbarten Baustelle. Die fanden es viel prickelnder, auf dem Kirchhof zu stehen und zu glotzen, als die zweite Betondecke zu gießen und das Holz für den Dachstuhl auf Maß zu sägen.
Es ging schnell heute, die Totengräber waren fix, sie hatten den Sarg schon herausgehoben. Der Chemiker sprang ins Grab, um seine Bodenproben zu nehmen. Van Gemmern fuhr in seine Handschuhe und beugte sich hinab, um den Sarg zu öffnen. Der Leichnam musste vor Ort in Augenschein genommen und in den Transportsarg umgebettet werden.
»Stopp!«, rief Toppe. Er wusste, was sie erwartete. Drei bis vier Monate nach dem Tod, das war der schlimmste Zeitpunkt für eine Exhumierung. Der Leichnam würde durch die Gase im Körperinnern aufgetrieben sein, besonders am Unterleib, am Hals, im Gesicht, die Augäpfel würden herausquellen. Die Haut würde grün verfärbt sein, vielleicht auch schon bräunlich schwarz und sich in großen Fetzen ablösen. Schimmelpilze würden das Gesicht und die Hände mit dichtem Pelz überziehen und am allerschlimmsten war der bestialische Gestank, wenn der Sarg geöffnet wurde.
»Bitte gehen Sie jetzt. Verlassen Sie den Friedhof.«
Keiner rührte sich, keiner sah ihn auch nur an, alle starrten auf den Sarg.
Toppe packte den Pastor fest beim Arm. »Sorgen Sie mit dafür, dass die Leute verschwinden. Was jetzt kommt, will keiner wirklich sehen, glauben Sie mir.«
Gemeinsam mit den beiden nachlässigen grünen Kollegen redeten sie auf die Leute ein, drängten sie zurück. Die Reihen lösten sich nur zögernd auf und man sammelte sich auf der Straße, immer noch gespannt.
Toppe ging entschlossen hinüber zum Grab. Er nickte kurz und van Gemmern setzte sich die Nasenklammer auf. Dann öffneten sie gemeinsam den Sargdeckel. Die beiden Bestatter warteten schon. Toppe hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und tat seine Pflicht: Er nahm die Leiche in Augenschein – für den Bruchteil einer Sekunde. Als sie das, was einmal Helene Opitz gewesen war, umbetteten, raunte die Menge an der Straße und irgendjemand schrie.
Toppe wischte sich die kalten Schweißperlen von der Oberlippe. Hoffentlich war es das wert.
Im Präsidium erwartete ihn eine neue E-Mail von Cox:
Betrifft: Konstantin von Bahlow. Priester und alle alten Leute, zu denen er mich mitgenommen hat, heute noch Angst und Schrecken. Von Bahlow anscheinend nur wenige Monate in Köslin stationiert, dennoch sich blutiges Denkmal gesetzt. Erschießungen von Kriegsgefangenen (hier sagen sie: »so genannte« Kriegsgefangene) an der Tagesordnung. Auch sonst Brutalität belegt: Hinrichtung eines Jungen, der Huhn gestohlen hatte; »Verräter« mit Zunge an Schuppenwand genagelt etc. (ausführliche Gesprächsprotokolle folgen). Fazit: Konstantin von Bahlow ist ein Kriegsverbrecher der ersten Güte. Gibt Zentralstelle für solche in Berlin. Möglicherweise auf Rückweg besuchen u. mehr Belege sammeln? Fahre heute noch weiter nach Prenzlau. Hoffentlich Hotel besser Erbitte E-Mail, wenn neue Anweisungen oder Wendung. P. C.
Toppe legte sich aufs Bett und verschränkte die Hände im Nacken. Er war heilfroh, dass Katharina schon beim Abendbrot fast eingeschlafen war und sich widerspruchslos hatte hinlegen lassen. Ihm war übel.
Er schloss die Augen und dämmerte tatsächlich ein.
Als Astrid ihn weckte, fühlte er sich steif und fremd.
»Komm, ich habe Zwiebelkuchen gebacken und Wein kalt gestellt.«
»Wann hast du das denn gemacht?«, fragte er, Watte im Mund.
»Du hast zwei Stunden tief geschlafen.«
Unbeholfen stand Toppe auf. »Ich habe das Gefühl, als wären es höchstens fünf Minuten gewesen. Schläft Katharina?«
»Wie ein Stein. Walter ist unbezahlbar. Der hält sie den ganzen Tag auf Trab, trotzdem ist sie nie überdreht. Er hat auch eine Frau aufgetan, die dreimal in der Woche zum Putzen und Bügeln kommen will, aber das müssen wir noch mit Gabi abstimmen.«
»Heißt das, wir kriegen tatsächlich mal freie Wochenenden?«
Toppe schnitt vier große Stücke vom duftenden Zwiebelkuchen ab und legte sie auf ihre Teller. Seine Lebensgeister reckten die Köpfe und fingen an, lustig herumzukribbeln.
Astrid öffnete die Weinflasche. »Und Ackermann hat angerufen.«
Toppes Lebensgeister stolperten übereinander.
»Keine Panik, war privat.« Astrid lächelte und goss den Wein in die Gläser. »Er hat nur gebrüllt: Mach die Kiste an! Mach die Kiste an! Henry ist auf West 3!«
»Und?«
»Ich hab eingeschaltet, aber nur noch die letzten Sätze und den Abspann mitgekriegt. Also habe ich Ackermann wieder angerufen. Nach der Wissenschaftsshow werden Henry und Gabi jetzt anscheinend durch alle Magazine gereicht.«
»Gabi?«
»Gabi auch, ja. Und sie haben wohl ein Angebot von einer Filmgesellschaft in Hollywood.«
»Was?«
»Das war jetzt nur Ackermann, bitte. Gabi ist noch nicht zu Hause. Wer weiß, was der sich da zusammengeschustert hat. Und bevor du fragst, er wühlt immer noch im Archiv rum, aber fündig geworden ist er noch nicht.«
»Gut.« Und das meinte Toppe wirklich so. Er schloss genüsslich die Augen und biss in sein warmes Kuchenstück. »Absolut köstlich! Dann sind wir beide also morgen ganz allein. Peter unterwegs in der kalten Heimat, Norbert zieht um und Ackermann ist unter staubigen Papierbergen begraben … Nur du und ich. Wann hatten wir das zum letzten Mal?«