20
Bei der Familie Maier saßen drei Generationen um den Mittagstisch versammelt: Karl Maier, seine Frau, deren Mutter und der erwachsene Sohn des Ehepaares.
»Leute, die etwas auf sich halten, essen pünktlich um zwölf Uhr«, meinte die Oma streng. »So ist es Tradition und davon halten wir viel!«
Van Appeldorn entschuldigte sich so galant, dass Astrid sich nur mit Mühe das Lachen verbeißen konnte.
»Lass gut sein, Mutter«, griff der Schwiegersohn ein und machte eine einladende Handbewegung. »Setzen Sie sich ruhig zu uns, wir sind schon fertig.«
»Es gibt noch Kompott!«, beharrte die Oma. Dann blinzelte sie Astrid an. »Sie kenne ich doch aus dem Fernsehen!«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, meinte Astrid. »Aber ich war vor ein paar Tagen schon einmal hier.«
»Tier?«, rief die Frau. »Was für ein Tier?«
Der Enkel verdrehte die Augen. »Mach dein Hörgerät an, Omma!«
Sie reagierte nicht, begriff erst, als er auf sein Ohr zeigte.
Frau Maier räumte das Geschirr zusammen und verschwand damit in der Küche, ihr Mann zündete sich eine Zigarre an. Er war sechzig Jahre alt und Invalide.
»Kaputte Gelenke«, sagte er. »Die ganzen Jahre die harte körperliche Arbeit, bei Wind und Wetter auf dem Feld, das bleibt einem nicht in den Kleidern hängen.«
Sein Sohn arbeitete in Pfalzdorf als Schlosser, die Gärtnerei betrieb er nur im Nebenerwerb. »Das ist bei vielen hier so. Die kleinen Betriebe, das läuft nicht mehr.«
»Sie haben heute Morgen bei der Polizei in Kleve angerufen und gesagt, bei dem Toten aus der Baugrube handele es sich um Jakob Opitz.«
»Ja«, sagte Maier. »Erst hab ich ja gedacht, ich halte mich da raus, geht mich nichts an, aber dann. Ich meine, der Opitz war ja im Grunde ein feiner Kerl.«
»Was war der?«, keifte die Oma. »Ein Taugenichts war der, ein Nixnutz, wie er im Buche steht!«
»Halt dich da raus, Omma«, fuhr der Enkel sie an. »Was weißt du denn schon?«
»Auf alle Fälle mehr als du, du Schnösel!«
Es handelte sich anscheinend um eine streitlustige Familie, Astrid und van Appeldorn kamen gar nicht mehr dazwischen.
»Opitz, wenn ich den Namen schon höre! Der hat unsere Jugend verhetzt mit dieser Negermusik und der Qualmerei. Wegen dem hat sich die Volkstanzgruppe aufgelöst. War plötzlich zu altmodisch, muss man sich mal vorstellen! Nee, nee, die Frorieps, die haben mir was Leid getan. Hatten sich einen Kuckuck ins Nest geholt. Wer weiß, aus was für einem Stall der kam, wer weiß?«
»Jetzt ist es aber gut, Mutter!« Karl Maier legte seine Zigarre im Aschenbecher ab. »Frorieps waren sehr stolz auf ihren Jungen.«
»Ha!« Sie pikste ihm ihren Zeigefinger in die Brust. »Da hat der ja auch noch nicht gesoffen.«
Der Enkel besann sich schließlich wieder auf die Polizei. »Wie können wir Ihnen denn helfen?«
»Wenn Sie wissen wollen, wer Jakob umgebracht hat«, meinte sein Vater, »da kann ich Ihnen jedenfalls nicht helfen. Der war zwar nicht gerade beliebt in den letzten Jahren, aber deshalb bringt man doch keinen um die Ecke.«
»Es geht um das Spielhaus«, sagte Astrid. »Sie wissen ja, dass man Opitz’ Leiche unter dem Fundament gefunden hat. Versuchen Sie doch mal, sich an die Bauzeit zu erinnern. Die Grube ist vor Ostern ausgeschachtet worden, am Dienstag nach Ostern hat man das Fundament gegossen.«
»Man ist gut, das war ich. Aber nee, ich zermartere mir schon das Hirn, seit die Leiche entdeckt worden ist. Mir fällt einfach nichts ein. Da war nichts. Das halbe Dorf hat damals mitgeholfen, sogar Prinz Richard persönlich!«
Der Enkel lachte und machte eine Kopfbewegung Richtung Hotel. »Richard von Bahlow. Der macht sich sonst nicht gern die Hände schmutzig. Neuerdings hängt er richtig den dicken Macker raus. Wenn in Düsseldorf Messe ist, hat der seinen Schuppen immer gerammelt voll. Ist ja kein Wunder, wenn einem der Papa die Knete rüberschiebt, dass man mit der Werbung richtig groß auf die Kacke hauen kann: Idyllisches Landhotel, nur knapp eine Stunde vom Düsseldorfer Zentrum entfernt!«
»Der alte von Bahlow«, fragte Astrid. »Hat der auch bei dem Bau mitgeholfen?«
Jetzt lachte Vater Maier schallend. »Der doch nicht!«
»Fängst du schon wieder an?« Die Oma wurde giftig. »Dem Opitz die Stange halten und über Waldemar herziehen! Das hab ich gern. Wo wäre denn das Dorf ohne diesen Mann?«
»Das kann ich dir sagen, Omma«, meinte der Enkel böse. »Ohne den gäbe es hier bestimmt noch eine ganze Menge mehr Traditionsbetriebe. Aber der musste sich ja alles unter den Nagel reißen!«
»Für gutes Geld! Betrügen tut der keinen!«
»Und? Der hat die ganze Infrastruktur kaputtgemacht.«
»Steck du ruhig weiter den Kopf in den Sand, Mutter.«
Karl Maier sprang seinem Sohn zur Seite. »Da bist du ja groß drin. Dabei weißt du genauso gut wie ich, dass Waldemar ein faules Ei ist. Bis heute kann dir kein Mensch ’sagen, wie der überhaupt auf die Liste gekommen ist.«
»Welche Liste?«, fragte van Appeldorn schnell.
»Wenn man sich um eine Siedlungsstelle beworben hatte, kam man auf eine Liste. Von Bahlow hat da nie draufgestanden, aber dann sitzt er Ende 49 plötzlich – patsch! – auf dem schönsten Grundstück an der Königsberger Straße. Jetzt frag ich Sie: Wie geht so was? Alle anderen haben sich das hart erkämpft, mitgerodet, mitgebaut, monatelang in einer Baracke gehaust. Und als alles fast fertig ist, da reitet Baron von Bahlow ein.«
»Dr. Bach wird schon gewusst haben, was er tut«, meinte die Oma störrisch. »Das war ein so feiner Mensch.«
»Der Bach, dass ich nicht lache!«
»Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, sagte van Appeldorn, »aber wer ist Dr. Bach?«
»Der hat damals die Erwerbsflächen unter den Bewerbern verteilt, war quasi der verlängerte Arm vom lieben Gott. Gerade der! Man wundert sich doch immer noch, wie schnell gewisse Leute ihren Persilschein gekriegt haben.«
Er bemerkte Astrids fragenden Blick. »Entnazifizierung! Man munkelte, dass der Bach sogar in Kategorie zwei gekommen ist, also nicht bloß Mitläufer, aber wie das damals so war: 1948 schon wieder in Amt und Würden. Geht mir doch alle weg!«
Der Enkel schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich würde ja gern noch mitdiskutieren, aber leider, meine Mittagspause ist um.«
»Wir müssen auch weiter«, meinte Astrid und erhob sich ebenfalls. »Wenn einem von Ihnen noch etwas einfällt …«
»Ja, sicher«, sagte Maier, »dann rufen wir Sie an. Mit welcher Waffe ist Opitz eigentlich erschossen worden? Hier gibt es so einige Jagdbesessene. Vielleicht war das Ganze ja ein Unfall.«
»Nein, bestimmt nicht. Opitz wurde durch einen aufgesetzten Genickschuss mit einer 9-mm-Pistole getötet.«
»Interessant. so eine hatte mein Vater auch, damals bei der Wehrmacht.«
Sie trafen sich wieder an der Bank auf dem Spielplatz.
Hüseyin hatte Verstärkung gekriegt; mittlerweile standen drei Eroglu-Lieferwagen vorm Haus und es wurde kräftig gearbeitet.
Cox öffnete seine Aktentasche und holte sein Butterbrot und das Schokoladenpäckchen heraus. »Das mit dem Kaffee ist gar keine schlechte Idee, Astrid. Ich denke, den nehme ich ins Menü auf.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »An der Triftstraße ist doch eine Tankstelle, oder? Ich besorge uns was zu essen.«
Aber alles, was es dort außer Süßigkeiten gab, waren zweifelhaft aussehende Salate in Plastikschalen mit eingearbeiteter Gabel. Astrid wählte die drei aus, die am frischesten wirkten, einen Eiersalat Großmütterchen, einen Nudelsalat Florida und einen Salat Nizza. Das gräuliche Stück Thunfisch, das obendrauf lag, konnte man ja notfalls entsorgen.
Von keinem aß sie letztendlich mehr als einen Bissen, sie schmeckten alle nach Benzoesäure. Auch Toppe rümpfte die Nase und lehnte dankend ab. Van Appeldorn ließ nicht ein Nüdelchen übrig, er wischte sogar die letzten Tupfer Mayonnaise mit dem Finger aus den Schalen. »Scheußlich, aber immer noch besser als ein knurrender Magen.«
Auf der Pastorenliste standen noch 44 Leute, 23 davon lebten nicht mehr in Nierswalde, blieben 21. Sie beschlossen, sich einzeln auf den Weg zu machen und sich um sechs Uhr spätestens wieder an der Bank zu treffen. Keiner machte eine Pause, sie gingen von Haus zu Haus. Zwischendurch trafen sie sich manchmal an einer Straßenecke oder sahen einen der anderen in der Ferne.
Peter Cox war als Erster am Treffpunkt, allerdings musste er gestehen, dass er sich den Letzten auf seinem Zettel, Richard von Bahlow, für heute geschenkt hatte.
Astrid kam erst um fünf vor halb sieben.
»Mal wieder ein bisschen verplaudert, Frau Kollegin?« Van Appeldorn stapfte mit den Füßen, ihm war kalt. »Wie ich immer sage: Die weiche Welle kostet nur Zeit.«
»Ach, halt die Klappe!«
Der Tenor in all ihren Vernehmungen war fast der gleiche: Man hatte eine Menge Spaß gehabt beim Bau des Spielhauses. Die Kinder hatten mitgeholfen, alles war entspannt und lustig vonstatten gegangen. Jeder hatte mitangefasst, wenn er die Zeit dazu hatte, wenn nicht, waren genug andere da gewesen. Über Opitz gab es nichts zu sagen. Der hatte in den Jahren seine Tage im Schuppen verbracht und war erst rausgekommen, wenn die Kneipe abends geöffnet wurde. Meist war er dann schon angetrunken gewesen. In von Bahlows Gaststätten-Restaurant hatte er einen Stammplatz an der Theke gehabt und dort getrunken, bis der Laden dichtgemacht hatte.
Alle Befragten waren offen gewesen, bemüht zu helfen. Warum machten sie dann so dicht, wenn es um den Vandalismus ging? Selbst Cox musste zugeben, dass man etwas verschwieg. Jeder schien zu wissen oder zumindest zu ahnen, wer hier sein Unwesen trieb, aber man verriet nichts, man war eine Gemeinschaft. Eigentlich hatte man auch über Opitz nur widerstrebend geredet. Er war ein unglücklicher Mensch gewesen und er hatte sich danebenbenommen. Das hängte man nicht an die große Glocke.
Am Präsidium sprang Astrid aus dem Wagen und schob ihren Jackenärmel hoch. »Du lieber Himmel, schon nach sieben! Der arme Walter! Katharina quengelt ihm sicher die Ohren voll. Und wenn ich nicht bald was zu essen kriege, wird mir schlecht.«
Auch van Appeldorn sah auf die Uhr. »Ich würde den Bericht ja noch schreiben, aber ich treffe mich um acht mit Ulli in unserem neuen Haus.«
»Morgen früh«, entschied Toppe. »Wenn wir uns alle an die Berichte setzen, sind wir in einer Stunde fertig.«
»Ich will ja kein Spielverderber sein«, raunte Cox, »aber ich fürchte, wir können uns noch nicht aus dem Staub machen.«
Charlotte Meinhard stand mit verschränkten Armen oben an der Eingangstreppe. Sie trug eine weit fallende rehbraune Hose und einen dunkelbraunen Pullover, keine Kette, ein gutes Zeichen eigentlich, und sie kam sogar zu ihnen herunter. »Bei mir ist heute Mittag eine Beschwerde eingegangen«, meinte sie und schaute auf den kleinen Zettel in ihrer Hand. »Waldemar von Bahlow ist mit Ihrer Art der Befragung nicht einverstanden, Herr van Appeldorn. Er fühlt sich herabgewürdigt und gedenkt nicht, das hinzunehmen. Die Beschwerde wird in den nächsten Tagen noch schriftlich zugestellt werden.«
Van Appeldorn legte die Hand aufs Autodach und kreuzte locker die langen Beine. »Fein! Und was erwarten Sie jetzt von mir? Soll ich mich in Sack und Asche hüllen und Buße tun?«
Um Meinhards Augen bildeten sich lauter Lachfältchen. »Sie haben mich missverstanden. Die Beschwerde richtet sich nicht gegen Sie, sondern gegen mich. Der hat mir zu verstehen gegeben, dass es mein Fehler als Vorgesetzte ist, wenn sich meine Mitarbeiter im Ton vergreifen.«
»Und an wen will er die Beschwerde richten? An den Innenminister oder gleich an den Kanzler?«
»Wir werden sehen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, van Appeldorn.«
Was waren das denn für Töne? Wo war der Herr van Appeldorn geblieben?
»… dokumentieren Sie mir bitte jetzt gleich noch kurz Ihr Gespräch mit von Bahlow, damit ich wenigstens irgendwas in der Hand habe. Gehört der Mann eigentlich zum Kreis Ihrer Verdächtigen? Meiner Erfahrung nach haben Menschen wie dieser, wenn sie so dicke Geschütze auffahren, meist etwas zu verbergen.«
»Norbert, Jung!«
Van Appeldorn hatte Ackermann auf der Treppe entdeckt und sich in den Flur zurückgezogen, nicht schnell genug allerdings.
»Hasset schon gehört? Henry kommt im Fernsehen, bei Jan Pütz inne Wissenschaftsshow. Is’ dat nich’ ’n Ding? Warte ma’ ab, der wird noch weltberühmt.«
»Prima, finde ich wirklich prima.«
Van Appeldorn fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Jupp Ackermann war ihm, solange sie sich kannten, immer auf die Nerven gefallen, und das hatte er ihm auch gern deutlich zu verstehen gegeben. Aber im letzten Jahr, als Anna diesen Mist gebaut hatte, war Ackermann ein echter Freund gewesen, der beste, den man sich wünschen konnte.
»Was machst du eigentlich hier? Ich denke, du hast Urlaub.«
»Hatte! Die Betonung liegt auf ›hatte‹! Die Elektrik is’ unter Dach un’ Fach, un’ wat jetz’ kommt, Tapeten un’ Anstreichen un’ so wat, dat is’ mehr so die Spezialität von meine Frauen. Die Nadine hat grad Semesterferien, un’ die beiden Kleinen hat die Mutti auch drangekriegt. Ich kann dir sagen, die sind vielleicht am Brasseln. Denen kommt man besser nich’ unter de Füße.«
»Verstehe ich gut, Ackermann, aber ich bin ziemlich in Eile. Ich wollte mich schon vor zwanzig Minuten mit Ulli in unserem neuen Haus treffen. Wir müssen Tapeten abreißen.«
»Un’ wie macht er dat?«, fragte Ackermann herausfordernd. »Dat Tapetenabreißen?«
Jetzt wurde van Appeldorn doch langsam ungeduldig. »Himmel! Wie wohl? Mit Tapetenablöser und Spachtel.«
»Da hasset! Genau so hab ich mir dat vorgestellt. Tapetenablöser un’ Spachtel! Bisse ausse Steinzeit, oder wat? Wollteste da noch nächs’ Jahr mit zugange sein? Da nimmt man die Giftspritze für, dat weiß doch jedes Blaach.«
»Klar doch, Ackermann, Giftspritze.« Van Appeldorn zeigte ihm den Vogel.
»Die, wo de auch Unkrautex mit versprühs’, dat Rückending. Warm Wasser rein, ordentlich Spüli dabei, drauf spritzen, zehn Minütkes warten, un’ schon ziehste jede Bahn ganz von selbs’ ab. Ich seh schon, ich muss gleich ma’ ebkes bei euch vorbeikommen mit meine Spritze. Kann man sich ja nich’ mit angucken so Anfänger im Tapezierwesen!«
»Hast du nicht gerade noch erzählt, dass du keine Ahnung davon hast?« Van Appeldorn wehrte sich noch.
»Dat hab ich nich’ gesacht! Wenn einer davon Ahnung hat, Jung … Ach wat! Hat wat mit de Kräfteverteilung inne Familie zu tun, aber dat verstehs’ du wahrscheinlich sowieso nich’. Wie isset jetz’? Könnt er Hilfe brauchen?«
Ulli mochte Ackermann, hatte ihn von Anfang an gemocht. Sie amüsierte sich über seine Sprüche und Geschichten. Sie fragte und fragte und ließ ihn erzählen, und Ackermann drehte voll auf. Irgendwann ertappte sich van Appeldorn dabei, dass auch er genüsslich Ackermanns Selbstgedrehte rauchte, während sie die Einwirkzeit der Lauge abwarteten – die Methode funktionierte tatsächlich –, und Spaß hatten. Dann klingelte sein Mobiltelefon.
Es war seine Frau. »Ich muss dich sprechen. Komm bitte sofort her!«
»Ist was passiert?«
»Passiert? Der Brief von deinem Anwalt, der ist passiert! Und ich sage dir schon mal gleich, ich bestehe auf dem vollen Trennungsjahr. Auf irgendwelchen anderen Mist lasse ich mich nicht ein. Und was den Unterhalt betrifft, da werden dir noch die Augen übergehen, verstanden?«
»Gut, verstanden.«
»Das ist alles? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Nein.«
»Ach, jetzt kapier ich! Du hast wohl gerade dein Betthäschen auf dem Schoß.«
»Marion.«
»Und außerdem geht es Nora ganz schlecht.«
»Was hat sie denn?«
»Fieber, sie hat hohes Fieber.«
»Wie hoch?«
»Hoch genug. Ich habe furchtbare Angst!«
»Ruf den Arzt an.«
»Das ist doch nicht zu fassen! Hörst du dich eigentlich manchmal selbst? Dein Kind geht hier vor lauter Kummer vor die Hunde und du sagst, ich soll den Arzt anrufen.«
»Ich war gestern viereinhalb Stunden mit Nora zusammen. Sie war kerngesund und wir hatten eine Menge Freude. Außerdem weiß sie, dass ich sie am Samstag wieder abhole und dass sie bei uns übernachtet.«
»Bei uns? Dein Flittchen ist also immer mit von der Partie? Genau so hab ich mir das vorgestellt. Aber das habe ich heute schon mit meinem Anwalt besprochen, ob das moralisch zu vertreten ist. Ob man das dem Kind zumuten kann, werden wir vor Gericht klären. Bald, mein Lieber, sehr bald.«
»In Ordnung. Auf Wiedersehen, Marion.« Ulli hockte sich neben ihn auf den Boden und nahm ihn in die Arme. Ackermann zog leise die letzten beiden Tapetenbahnen ab und drehte sich dann mit kleistrigen Fingern eine| neue Zigarette. »Scheißspiel … Aber wat anderes: Ich hab mich ma’ so umgetan von wegen Nierswalde. Interessiert dat wen?«
»Im Moment, glaube ich, nicht so, Jupp«, antwortete Ulli leise.
»Is’ schon klar.« Ackermann begann, seine Utensilien zusammenzupacken. »War ’n Versuch wert«, murmelte er vor sich hin. »Un’ ich hätt’ auch noch ’ne Frage gehabt.«
Van Appeldorn drehte sich um und grinste auf einmal. »Hast du noch eine von deinen lockeren Javaanse Jongens?«
»Klaro!« Ackermann warf ihm die Zigarette zu. »Soll ich dir zeigen, wie de die bloß mit eine Hand selbs’ so locker hinkriegs’? Bring ich dir in null Komma nix bei.«
»Ein anderes Mal. Also, was wolltest du über Nierswalde sagen?«
»Nix Großartiges, ich hab bloß ma’ so rumgehorcht. Also, dat mit dem Zusammenhalten wie Pech un’ Schwefel, dat kann irgendwie nich’ so ganz stimmen. Ich mein, früher war dat sicher so. Dat musste dir vorstellen wie bei Asterix: ’n kleines, von unbeugsame Evangelen bevölkertes Dorf mitten inne Diaspora unter de katholischen Feinde. Dat schmiedet zusammen. Aber heut’? Die Brut von den Siedlern von neunenvierzich/fuffzich, die hat sich meist schon inne Siebziger vom Acker gemacht. Von wegen alles alte Betriebe! Jede Menge Zugezogene.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Ja, weiß ich auch noch nich’. Jedenfalls, früher müssen dat ganz schöne Puritaner gewesen sein, die genau wussten, wo et langgeht mitte Moral, aber ich mein, die letzten fuffzich Jahre sind an den Leuten doch auch nich’ einfach so vorbeigerauscht. Höchstens vielleicht an so ’n paar alten Säcken.«
Ulli Beckmann sah verwirrt aus, sie kannte Ackermann doch noch nicht so gut.
»Den Eindruck habe ich auch«, meinte van Appeldorn.
»Ich weiß, wen du meins’, den Kaiser von Nierswalde, wa, diesen Bahlow? Oder vielleicht’ müsstet besser heißen: Exkaiser. Dat isset doch, wat ich mein’.«
»Was meinst du denn, verflucht? Spuck’s schon aus, Ackermann.«
»War nett, du könns’ dich ma’ so langsam an ›Jupp‹ gewöhnen, aber egal. Über den spuck ich ers’ ma’ noch gar nix aus, weil nix Genaues weiß man nich’. Aber dat kommt noch. Lass ma’.«
Van Appeldorn lehnte sich gegen die Wand und zog Ulli fester in seine Arme. »Und dann hattest du noch eine Frage.«
»Och …« Ackermann legte den Kopf schief. »Ich wollt nur wissen, ob er mich nich’ doch brauchen könnt bei eure Arbeit. Ich mein, wat die Finanzen von diesen Rittergutbesitzer angeht, zum Beispiel. Du weiß’, dat is’ mein Spezialgebiet. Ackermann kommt hinter alles.«
Das wusste van Appeldorn in der Tat, nicht umsonst war Ackermann die Nummer eins im Betrugsdezernat. Was er nicht wusste, war, wie Ackermann an seine Informationen gekommen war, und der ließ sich heute ausnahmsweise mal nicht in die Karten gucken.
»Herrenmenschen«, meinte er nur, »dat is’ ’ne Rasse für sich. Geldgeschäfte von so Leute offen legen, dat wird schwer ohne Befugnisse, sach ich dir. Schwer, aber nich’ unmöglich. Et gibt immer Mittel un’ Wege. Darfste bloß keinem sagen.«
»Ich kläre das mit Helmut. Wir müssen uns morgen sowieso erst noch abstimmen. Ich hätte nichts dagegen, wenn du Maulwurf spielst.«
»Dat wär Spitze! Du weiß’ ja: Mord is’ …«
»Bitte sag es nicht!«
»Okay, weil du et bis’. Übrigens, der Bahlow, der soll ja ’ne ganz große Erfindung gemacht haben, munkelt man. Wenn dat ma’ alles so stimmt.«