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Wie benommen beobachtete ich noch am gleichen Tag, wie sich die Quäkertruppen ergaben. Nur in dieser Situation fühlten sich ihre Offiziere zur Kapitulation berechtigt.
Nicht einmal die Ältesten erwarteten von ihren Untergebenen, daß sie in einer Lage weiterkämpften, die von einem toten Truppen-Kommandeur aus bestimmten taktischen Erwägungen geschaffen worden war, von der seine Offiziere keine Kenntnis hatten. Und die übriggebliebenen, überlebenden Truppen waren mehr wert als die Schadenersatzforderungen, die die Exoten erheben würden.
Ich wartete die Kapitulation- und Schlichtungsverträge nicht ab. Es gab nichts mehr, worauf ich hätte warten müssen. Einen Augenblick lang war auf diesem Schlachtfeld alles in der Schwebe gewesen – wie eine große, überwältigende Woge über uns allen, eine schäumende und gischtende und sich weiter auftürmende Welle, die über uns hereinzubrechen drohte, mit einer Wucht, die ihr Echo auf alle Welten der Menschheit werfen würde. Jetzt plötzlich war sie an uns vorbeigerollt. Nichts erinnerte mehr an sie, nur ein leises Davonschäumen in der Ferne, ein Abtropfen in Vergangenheit und Gewesenes.
Hier gab es nichts mehr für mich zu tun. Nichts.
Wenn es Jamethon gelungen wäre, Kensie zu töten … selbst wenn er als Ergebnis davon die Exoten zu einer praktisch kampflosen Kapitulation gezwungen hätte – ich hätte den Vorfall am Verhandlungstisch zu einem Werkzeug der Zerstörung machen können. Aber er hatte es nur versucht, war gescheitert und gestorben. Wer konnte die öffentliche Meinung damit gegen die Quäker aufbringen?
Ich ging an Bord eines Raumschiffes und flog zurück zur Erde, wie ein Mann, der in einem Traum gefangen ist. Und ich fragte mich nach dem Warum.
Auf der Erde angekommen, sagte ich meinen Redakteuren, ich sei körperlich nicht ganz auf der Höhe. Sie sahen mich nur einmal an und glaubten mir. Ich nahm unbeschränkten Urlaub und verbrachte die meiste Zeit im Zentralarchiv der Nachrichtendienste im Haager Schiedshof. Dort durchstöberte ich blindlings ganze Aktenberge und Stapel aus Nachschlagewerken über die Quäker, die Dorsai und die Exotischen Welten. Nach was suchte ich? Ich wußte es nicht. Ich folgte auch den Nachrichtenberichten von Santa Maria, die die Kapitulations- und Schlichtungsverträge betrafen. Und ich trank eine Menge, während ich sie studierte.
Ich fühlte mich so betäubt und benommen wie ein Soldat, der wegen eines schweren Dienstvergehens zum Tode verurteilt worden war. Dann wurde in den Nachrichtenberichten gemeldet, daß Jamethons Leiche zur Bestattung nach Harmonie zurückgebracht werden sollte. Und plötzlich begriff ich, daß ich genau darauf gewartet hatte: die von Fanatikern durchgeführte abscheuliche Ehrung eines Fanatikers, der mit vier Helfershelfern versucht hatte, den von seinen Männern isolierten feindlichen Kommandeur unter einer Verhandlungsflagge zu ermorden. Ich konnte noch immer einige bestimmte Artikel verfassen.
Ich rasierte mich, duschte und sammelte mich wieder einigermaßen. Dann machte ich mich auf, eine Passage nach Harmonie zu arrangieren, und ich gab vor, dort über die Bestattung von Jamethon berichten zu wollen.
Die Glückwünsche von Piers und meine Berufung in den Gilderat, die ich noch auf Santa Maria erhalten hatte, kamen mir gut zustatten. Dadurch hatte ich absolute Priorität und erhielt einen Platz an Bord des nächsten Linienschiffes, das hinausflog.
Fünf Tage später war ich auf Harmonie, in der gleichen kleinen Stadt namens Eingedenk-des-Herrn, die ich zuvor schon einmal mit dem Ältesten Strahlenden besucht hatte. Die Gebäude der Ortschaft bestanden noch immer aus Beton und Blasenplastik und hatten sich in den vergangenen drei Jahren nicht verändert. Doch der steinige Boden der Farmen in der Nähe der Stadt war umgepflügt worden – wie auch die Felder von Santa Maria, als ich jene andere Welt betreten hatte –, denn in der nördlichen Hemisphäre von Harmonie begann nun gerade der Frühling. Und wie an jenem ersten Tag auf Santa Maria regnete es auch hier, als ich vom Raumhafen aus zur Stadt fuhr. Doch in den Ackerfurchen der Quäkerfelder zeigte sich nicht die fette Schwärze, wie in den Äckern auf Santa Maria – nur eine dünne und scharf abgegrenzte Dunkelheit in den Pfützen, ein Farbton, der den Uniformen der Quäker entsprach.
Ich erreichte die Kirche gerade in dem Augenblick, als die Teilnehmer der Totenfeier sich zur Messe zu versammeln begannen. Der Himmel war eine tiefhängende, dunkle und tropfende Masse, und im Innern der Kirche war es so düster, daß ich mich kaum orientieren konnte: Die Quäker gestatteten sich nicht den Luxus von Fenstern oder künstlicher Beleuchtung in ihren Gotteshäusern. Trübes, graues Licht und kalter Wind und Regen drangen durch das türlose Portal an der Rückfront der Kirche. Durch die einzelne rechteckige Öffnung im Dach sickerte mattes und von Feuchtigkeit durchsetztes Tageslicht auf Jamethons Leiche, die auf einem Gestell aufgebahrt war, das auf einer Plattform stand. Man hatte einen transparenten Schirm aufgestellt, um den Toten vor dem Regen zu schützen, und die Nässe wurde durch einen Abfluß in der Rückwand von der offenen Plattform abgeleitet. Der Älteste aber, der die Totenmesse leitete – und jeder andere, der hinaufstieg, um Jamethon die letzte Ehre zu erweisen –, würde direkt unter dem Himmel stehen und somit mitten im Regen.
Ich reihte mich in die Gruppe von Menschen ein, die langsam durch den Mittelgang und an dem Toten vorbeischritten. Die Brüstungen rechts und links von mir, hinter denen die Gemeinde während der Messe stehen würde, waren im Halbdunkel kaum zu erkennen. Die Sparren des sich in einem spitzen Winkel nach oben hin verjüngenden Daches waren von Finsternis eingehüllt. Es gab keine Musik. Doch in den Geländerreihen zu beiden Seiten und in der Gruppe, mit der ich nun schritt, war das leise Flüstern von Stimmen zu vernehmen, die jede für sich allein beteten; und diese Stimmen vermischten sich zu einem rhythmischen Hauch von Melancholie und Trauer. Die Menschen hier waren alle sehr dunkel und wie Jamethon von nordafrikanischer Herkunft. Dunkles wurde in Dunkelheit getaucht und in der Düsternis vor meinen Blicken verborgen.
Schließlich gelangte ich auf die Plattform und kam an Jamethon vorbei. Er sah so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Der Tod hatte nicht die Macht gehabt, sein Gesicht zu wandeln. Er lag auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, und seine Lippen waren so fest und gerade wie immer. Seine Augen aber waren geschlossen.
Aufgrund der Feuchtigkeit begann ich nun immer mehr zu hinken, und als ich mich von dem Toten abwandte, spürte ich, wie jemand meinen Ellbogen berührte. Ich drehte mich abrupt um. Ich trug nicht meine Korrespondentenuniform. Ich war in Zivil hier.
Ich sah in das Gesicht des jungen Mädchens hinab, das ich in Jamethons Massivbild gesehen hatte. In dem grauen und trüben Licht hatte ihr glattes Gesicht Ähnlichkeit mit einer Madonna auf dem Kirchenfensterglas einer uralten Kathedrale von Alterde.
„Sie sind verwundet worden“, sagte es in einer weichen Stimme zu mir. „Sie müssen einer der Söldner sein, die mit ihm auf Newton waren, bevor er nach Harmonie zurückbeordert wurde. Seine Familie, der ich ebenfalls angehöre, fände Trost vor dem Herrn, wenn Sie uns besuchten.“
Der Wind wehte Regen durch die Dachöffnung über uns; die Nässe hüllte mich ganz ein, und ihre eisige Kälte jagte mir plötzlich einen so frostigen Schauer durch den ganzen Körper, daß mein Blut selbst zu gefrieren drohte.
„Nein!“ sagte ich. „Das bin ich nicht. Ich kannte ihn nicht.“ Und ich wandte mich abrupt von ihr ab, drängte mich durch die Gruppe und eilte durch den Mittelgang von ihr fort.
Nach etwa fünfzehn Metern kam mir zu Bewußtsein, was ich tat, und ich wurde langsamer. Das Mädchen war in der Dunkelheit der Körper hinter mir bereits nicht mehr zu sehen. Etwas ruhiger nun ging ich zum rückwärtigen Bereich der Kirche. Hier befand sich eine kleine freie Fläche, an die sich die langen Reihen der Geländer und Brüstungen anschlossen. Hier blieb ich stehen und beobachtete die hereinkommenden Kirchgänger. Und sie kamen ohne Ende. Sie traten ein, mit ihren schwarzen Gewändern und gesenkten Köpfen, und sie sprachen oder beteten mit leisen Stimmen.
Ich blieb, wo ich war, ein wenig abseits des Eingangs. Ich war halb benommen, und meine Gedanken rannen nur träge dahin, als würden sie von dem Frost in meinen Gliedern und der Erschöpfung, die ich von der Erde mitgebracht hatte, eingefroren. Um mich herum summten die Stimmen. Ich döste fast, während ich reglos dastand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, warum ich hierhergekommen war.
Dann wehte mir eine Stimme aus dem Durcheinander entgegen, löste meine Benommenheit auf und brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück.
„… er hat es abgestritten, aber ich bin sicher, er ist einer von diesen Söldnern, die mit Jamethon auf Newton waren. Er hinkt und kann nur ein Soldat sein, der einmal verwundet worden ist.“
Es war die Stimme von Jamethons Schwester, und sie sprach nun mehr in dem Tonfall eines Quäkers, als das bei mir, einem Fremden gegenüber, der Fall gewesen war. Ich war nun wieder ganz wach und sah sie neben dem Eingang stehen, nur ein paar Meter von mir entfernt. Sie stand an der Seite von zwei gesetzten Leuten, die ich als das ältere Ehepaar auf Jamethons Massivbild wiedererkannte. Ein Blitz aus schierem und frostigen Schrecken durchfuhr mich.
„Nein!“ Ich schrie sie fast an. „Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn nie gekannt. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!“ Und ich drehte mich um und stürzte durch das offene Portal aus der Kirche hinaus, in den Regen, in den Vorhang aus verschleiernder Nässe.
Ich lief dreißig oder vierzig Meter weiter, wie von Sinnen. Dann stellte ich fest, daß mir niemand folgte. Ich blieb stehen.
Ich war allein draußen. Es war sogar noch dunkler geworden, und der Regen fiel plötzlich schneller und dichter. Er verbarg alles um mich herum hinter einer trommelnden und schimmernden Portiere. Ich konnte nicht einmal die auf dem Parkplatz abgestellten Bodenwagen erkennen, denen ich gegenüberstand. Und von der Kirche aus konnte ich ganz bestimmt nicht gesehen werden. Ich hob mein Gesicht dem heftigen Regenguß entgegen und ließ die Tropfen auf meinen Wangen und den geschlossenen Lidern zerplatzen.
„Sie kannten ihn also nicht?“ sagte eine Stimme hinter mir.
Die Worte schienen mich in der Mitte zu durchteilen, und ich fühlte mich so, wie sich ein in die Enge getriebener Wolf fühlen mußte. Und wie ein solcher Wolf wirbelte ich herum.
„Ja, ich kannte ihn!“ sagte ich.
Padma blickte mich an, und der Regen schien seine blaue Robe nicht einmal zu benetzen. Er hatte die leeren Hände, die nicht einmal in seinem ganzen Leben eine Waffe gehalten hatten, vor dem Bauch gefaltet. Aber der Wolf in mir wußte, daß er – soweit es mich betraf – bewaffnet und ein Jäger war.
„Sie?“ brachte ich hervor. „Was machen Sie hier?“
„Es wurde berechnet, daß Sie hierherkommen“, sagte Padma sanft. „Also kam ich ebenfalls. Aber warum sind Sie hier, Tam? Unter den Leuten dort drinnen befinden sich sicherlich zumindest ein paar Fanatiker, die die einschlägigen Gerüchte kennen. Und die machen Sie mitverantwortlich, was Jamethons Tod und die Kapitulation der Quäker betrifft.“
„Gerüchte!“ sagte ich. „Wer hat sie in die Welt gesetzt?“
„Sie selbst“, sagte Padma. „Durch Ihre Handlungen auf Santa Maria.“ Er starrte mich an. „Haben Sie nicht gewußt, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, indem Sie heute hier sind?“
Ich öffnete den Mund, um das abzustreiten. Doch dann stellte ich fest, daß ich es tatsächlich gewußt hatte.
„Was, wenn ihnen jemand zuruft“, sagte Padma, „daß Tam Olyn inkognito unter ihnen weilt, der Berichterstatter des Feldzugs von Santa Maria?“
Der Wolf in mir blickte ihn grimmig an.
„Können Sie es mit Ihren exotischen Prinzipien vereinbaren, so etwas zu tun?“
„Wir werden mißverstanden“, antwortete Padma ruhig. „Wir mieten nicht aufgrund irgendeines moralischen Gebotes Soldaten, die für uns kämpfen, sondern weil wir unsere emotionale Perspektive verlieren, wenn wir direkt betroffen sind.“
Es gab keine Furcht mehr in mir, nur ein schwaches Gefühl von Leere.
„Dann sagen Sie es ihnen“, forderte ich ihn auf.
Padmas sonderbare, nußfarbenen Augen blickten mich an.
„Wäre nur das erforderlich gewesen“, sagte er, „dann hätte ich ihnen eine Nachricht zukommen lassen können. Dann hätte ich nicht persönlich hierherkommen müssen.“
„Und warum kamen Sie hierher?“ Meine Stimme kratzte in der Kehle. „Warum sollten Sie sich oder die Exoten um mich sorgen?“
„Wir sorgen uns um jedes Individuum“, sagte Padma. „Aber wir sorgen uns mehr um die menschliche Rasse als Ganzes. Und Sie stellen noch immer eine Gefahr für sie dar. Sie sind ein latenter Idealist, Tam, der auf den Weg der Zerstörung gezwungen wurde. Wie bei anderen Wissenschaften hat auch hier das Gesetz von der Erhaltung der Energie bei Ursache und Wirkung Gültigkeit. Ihr Zerstörungswille fand kein Ventil auf Santa Maria. Und nun … was, wenn er sich nach innen wendet, um Sie selbst zu zerstören – oder nach außen, gegen die ganze Menschheit?“
Ich lachte, und ich hörte die Rauheit meines Lachens.
„Und was wollen Sie jetzt machen?“ fragte ich.
„Ich will Ihnen zeigen, daß das Messer in Ihrer Hand die Hand abschneidet, die es hält – gegen wen oder was Sie es auch richten. Ich habe eine Neuigkeit für Sie. Kensie Graeme ist tot.“
„Tot?“ Der Regen schien mir nun plötzlich entgegenzudröhnen, und der Boden des Parkplatzes zu meinen Füßen glitt davon, als sei er nur der Schatten einer anderen Realität.
„Er wurde vor fünf Tagen von drei Angehörigen der Blauen Front ermorden.“
„Ermordet?“ flüsterte ich. „Warum?“
„Weil der Krieg vorüber war“, sagte Padma. „Weil Jamethons Tod und die Kapitulation der Quäker-Streitkräfte ohne vorherige Kampfhandlungen, die die Landwirtschaft arg in Mitleidenschaft gezogen hätten, die Sympathie der Zivilbevölkerung unseren Truppen gegenüber erheblich gesteigert hat. Weil die Blaue Front aufgrund dieses Sympathiezuwachses weiter als jemals zuvor von der Macht entfernt ist. Sie hofften, unsere Truppen durch die Ermordung Graemes zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung provozieren zu können, so daß die Regierung von Santa Maria die Soldaten zu uns Exoten zurückschicken müßte und einer Rebellion der Blauen Front somit schutzlos ausgeliefert wäre.“
Ich starrte ihn an.
„Alles steht in einer Wechselbeziehung zueinander“, fuhr Padma fort. „Kensie war für eine endgültige Versetzung an einen Schreibtischposten daheim auf Mara oder Kultis vorgesehen. Er und sein Bruder Ian hätten für den Rest ihres Berufslebens keinen Krieg mehr führen müssen. Durch Jamethons Tod, der eine kampflose Kapitulation seiner Truppen möglich machte, wurde eine Situation geschaffen, die die Blaue Front veranlaßte, Kensie zu ermorden. Wenn es auf Santa Maria nicht zu der Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Jamethon gekommen wäre und wenn Jamethon nicht gewonnen hätte, dann würde Kensie noch leben. Unsere Kalkulationen beweisen das.“
„Jamethon und ich?“ Mein Atem war plötzlich trocken.
„Ja“, sage Padma. „Sie waren der Faktor, der Jamethon zu seiner Lösung verhalf.“
„Ich habe ihm geholfen?“ sagte ich. „Ich?“
„Er hat in Sie hineingesehen“, sagte Padma. „Er hat durch die rachsüchtige und zerstörerische Oberfläche gesehen, die Sie für Ihr Selbst halten – bis hin zu dem kreativen Kern in Ihnen, der so fest in Ihnen verankert ist, daß er nicht einmal von Ihrem Onkel ausgetilgt werden konnte.“
Zwischen uns trommelte und donnerte der Regen. Aber jedes Wort von Padma drang klar und trocken zu mir durch.
„Ich glaube Ihnen nicht!“ schrie ich. „Ich glaube nicht, daß er so etwas gesehen hat! Ich glaube nicht, daß er dazu in der Lage war!“
„Ich sagte Ihnen“, fuhr Padma fort, „Sie würden den evolutionären Fortschritt unserer Splitterkulturen nicht ganz begreifen. Jamethons Glaube war nicht von einer Art, die durch äußere Einflußnahme erschüttert werden kann. Wenn Sie tatsächlich so wären wie Ihr Onkel Mathias, dann hätte er Ihnen nicht einmal zugehört. Er hätte Sie als einen Menschen ohne Seele ignoriert. Statt dessen aber hat er Sie als Besessenen gesehen, als einen Mann, der – wie er es ausgedrückt hätte – mit der Stimme des Satans sprach.“
„Das glaube ich nicht!“ schrie ich.
„Sie glauben es“, sagte Padma. „Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als es zu glauben. Denn nur dadurch konnte Jamethon seine Lösung finden.“
„Lösung!“
„Er war ein Mann, der für seinen Glauben zu sterben bereit war. Aber als Kommandeur fand er es unverantwortlich, seine Männer aus einem so persönlichen Motiv in den Tod ziehen zu lassen.“ Padma musterte mich, und für einen Augenblick ließ der Regen ein wenig nach. „Aber Sie boten ihm etwas an, das er für die sündige Verlockung des Teufels halten mußte: sein Leben in dieser Welt, wenn er seinen Glauben und seine Männer verraten und damit den Konflikt vermeiden würde, der zu seinem und ihrem Tod führen mußte.“
„Was waren das für verrückte Überlegungen?“ sagte ich. In der Kirche waren die Gebete verstummt, und eine einzelne, kräftige und tiefe Stimme hatte mit der Totenmesse begonnen.
„Sie waren nicht verrückt“, widersprach Padma. „In dem Augenblick, als er sich darüber klarwurde, lag die Antwort auf der Hand. Er brauchte nur das Gegenteil von dem zu tun, was ihm der Satan anbot. Er mußte die absolute Notwendigkeit des eigenen Todes akzeptieren.“
„Und das war eine Lösung?“ Ich versuchte zu lachen, doch meine Kehle brannte.
„Es war die einzige Lösung“, sagte Padma. „Als er das begriffen hatte, sah er sofort, daß es nur einen Ausweg gab: Es gab nur eine Situation, in der seine Männer kapitulieren würden – wenn er tot war und sie sich in einer unhaltbaren Kampfposition befanden, aus Gründen, die nur er kannte.“
Ich spürte, wie das Echo seiner Worte in mir gleich einer rhetorischen Lanze durch mein Innerstes schnitt.
„Aber er wollte nicht sterben!“ sagte ich.
„Er überließ die Entscheidung seinem Gott“, gab Padma zurück. „Er arrangierte es so, daß ihn nur ein Wunder retten konnte.“
„Was sagen Sie da?“ Ich starrte ihn an. „Er stellte einen Verhandlungstisch mit Parlamentärflagge auf. Er nahm vier Männer …“
„Da war keine Flagge. Und die Männer waren alt und wollten einen Märtyrertod sterben.“
„Er nahm vier!“ schrie ich. „Vier plus eins ergibt fünf. Und alle fünf gegen Kensie – einen Mann. Ich stand an diesem Tisch und habe es gesehen. Fünf gegen …“
„Tam.“
Dieses eine Wort ließ mich innehalten. Plötzlich begann ich mich zu fürchten. Ich wollte nicht hören, was er mir zu sagen gedachte. Ich fürchtete, daß ich wußte, was er mir sagen würde, daß ich es bereits seit einiger Zeit wußte. Und ich wollte es nicht hören … ich wollte es nicht von ihm hören. Der Regen strömte noch heftiger, prasselte auf uns nieder und trommelte unbarmherzig auf den Asphalt. Doch trotz des Rauschens und Strömens drang jedes Wort deutlich und erbarmungslos zu mir durch.
Padmas Stimme begann wie der Regen in meinen Ohren zu dröhnen, und ich fühlte mich plötzlich so kalt und haltlos und von aller Wirklichkeit getrennt, als hätte ich hohes Fieber. „Glauben Sie, daß sich Jamethon auch nur einen Augenblick lang selbst etwas vorgemacht hat, so wie Sie die ganze Zeit über? Er war das Produkt einer Splitterkultur, und in Kensie erkannte er ein anderes. Glauben Sie, daß er es auch nur einen Augenblick lang für möglich hielt, er und seine vier alten Fanatiker könnten – ohne die Unterstützung eines Wunders – einen bewaffneten, wachsamen und einsatzbereiten Soldaten der Dorsai wie Kensie Graeme umbringen, bevor sie von ihm niedergeschossen und selbst getötet wurden?“
Selbst … selbst … selbst …
Dieses Wort zog mich davon, weit weg von dem trüben Tag und dem Regen. Es hob mich aus der Nässe und trug mich fort zu den Winden jenseits der dunklen Wolken. Und es brachte mich schließlich in das hoch gelegene, kalte und steinige Land, das ich schon einmal kurz erblickt hatte – damals, als ich Kensie Graeme gefragt hatte, ob er es jemals zulassen würde, daß gefangene Quäker umgebracht wurden. Es war dieses Land, das ich immer gemieden hatte, doch jetzt betrat ich es endlich.
Und ich erinnerte mich.
Von Anfang an hatte ich tief in meinem Innern gewußt, daß der Fanatiker, der Dave und die anderen ermordet hatte, nicht für alle Quäker stand. Jamethon war kein eiskalter Killer. Ich hatte versucht, ihn dazu zu machen, um meine eigene Lüge zu bestätigen – damit ich meine Augen verschlossen halten konnte vor dem einen Menschen von allen vierzehn Welten, dessen Anblick ich nicht ertrug. Und dieser eine Mensch war nicht der Gruppenführer, der Dave und die anderen massakriert hatte, nicht einmal Mathias.
Ich selbst war es.
Jamethon war kein gewöhnlicher Fanatiker, nicht mehr als Kensie ein gewöhnlicher Soldat oder Padma ein gewöhnlicher Philosoph war. Sie waren mehr als das – und insgeheim hatte ich das immer gewußt, tief in meinem Innern, dort, wo ich dieses Wissen ignorieren konnte. Aus diesem Grund hatten sie nicht auf meine versuchten Manipulationen reagiert und sich nicht wie von mir geplant verhalten. Aus diesem Grund … genau aus diesem Grund.
Das hoch gelegene, steinige und kalte Land meiner Vision war nicht nur für die Dorsai da. Es war für sie alle da: ein Land, wo die Fetzen aus Falschheit und Illusion fortgezerrt wurden von dem sauberen und kühlen Wind ehrlicher Standhaftigkeit und Überzeugung, wo Heuchelei dahinsiechte und starb und wo nur das leben konnte, was offen und rein war.
Für sie war es da – für all jene, die das reine Wesen ihrer Splitterkultur verkörperten. Und dieses reine Wesen war es, das ihnen ihre wirkliche Stärke verlieh. Sie waren jenseits allen Zweifels – genau das war der Punkt. Und genau das machte sie unbesiegbar, nicht in erster Linie all die Fähigkeiten von Körper und Geist. Denn ein Mann wie Kensie konnte niemals unterworfen werden. Und einer wie Jamethon würde nie seinen Glauben verraten.
Hatte mir Jamethon selbst das nicht klar und deutlich gesagt? Hatte er nicht gesagt: „Lassen Sie es mich Ihnen für meine eigene Person bezeugen“ und dann hinzugefügt, selbst wenn das Universum um ihn herum einstürzte und sich sein Gott und seine Religion als Täuschung erwiesen, so würde seine innerste Überzeugung davon nicht erschüttert werden?
Und so war es auch mit Kensie: Auch wenn sich seine Armeen um ihn herum zurückzögen und ihn allein ließen … Kensie würde sich nicht von der Stelle rühren, um seinen Posten zu verlassen und seine Pflicht zu vernachlässigen. Er stellte sich allein dem Kampf, zögen ihm auch ganze Heere entgegen. Denn sie konnten ihn zwar töten, aber niemals unterwerfen.
Und auch mit Padma: Selbst wenn alle seine exotischen Kalkulationen und Theorien von einem Augenblick zum anderen über den Haufen geworfen wurden – wenn sie sich als falsch und irrig erwiesen –, es würde seinen Glauben an die vorwärts gerichtete Evolution des menschlichen Geistes, der er sein Leben gewidmet hatte, nicht ins Wanken bringen.
Mit Recht betraten sie das hoch gelegene und steinige Land … sie alle: Dorsai und Quäker und Exoten. Und ich war einfältig genug gewesen, es ebenfalls zu betreten und zu versuchen, dort gegen einen von ihnen zu kämpfen. Kein Wunder, daß ich besiegt worden war – so wie es Mathias immer vorausgesagt hatte. Ich hatte nie eine Chance gehabt zu gewinnen.
Und so kehrte ich zu dem trüben Tag und dem strömenden Regen zurück. Meine Knie drohten, unter meinem eigenen Gewicht nachzugeben; ich war wie ein Strohhalm, der von einer Sturmbö abgeknickt worden war. Der Regen ließ nach, und Padma stützte mich. Benommen und erstaunt bemerkte ich die Kraft seiner Hände; bei Jamethon war es ähnlich gewesen.
„Lassen Sie mich gehen“, murmelte ich.
„Wohin würden Sie gehen, Tam?“ fragte er.
„Irgendwohin“, flüsterte ich. „Ich höre auf. Ich vergrabe mich irgendwo und vergesse das alles. Ich lasse alles hinter mir und gebe auf.“ Schließlich gelang es mir, meine Knie wieder zu strecken.
„So einfach ist das nicht“, sagte Padma und ließ mich los. „Eine einmal begonnene Handlung ruft ein soziales Echo hervor, das niemals verklingt. Die Ursache kann ihre Wirkung nie rückgängig machen. Sie können nicht einfach aufhören, Tam. Sie können jetzt nur die Seite wechseln.“
„Die Seite?“ frage ich. Der Regen um uns herum ließ nun rasch nach. „Von welcher Seite sprechen Sie?“ Ich starrte ihn wie betäubt an.
„Von der Seite, bei der es sich um die Kraft im Menschen handelt, die gegen seine eigene Entwicklung gerichtet ist“, sagte Padma. „Die Seite, der sich Ihr Onkel verschrieb. Und von der evolutionären Seite, auf der wir stehen.“ Es nieselte jetzt nur noch, und es klarte auf. Durch die dünner werdenden Wolken sickerte mattes Sonnenlicht, das die Düsternis über dem Parkplatz, auf dem wir standen, ein wenig weiter zurückdrängte. „Beide sind starke Winde, die das Segel der menschlichen Angelegenheiten sogar schon dann aufblähen, wenn es noch gewoben wird. Ich habe es Ihnen vor langer Zeit einmal gesagt, Tam: Für jemanden wie Sie gibt es keine andere Möglichkeit, als auf das Entwicklungsmuster des einen oder des anderen Weges Druck auszuüben. Sie können frei wählen – aber Sie sind nicht frei. Entscheiden Sie sich also einfach dazu, mit der Macht Ihrer Einflußnahme den Wind der Evolution zu unterstützen, anstatt jene Kraft, die sich ihr entgegenstemmt.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein“, murmelte ich. „Es ist sinnlos. Das wissen Sie. Sie haben es selbst erlebt. Ich habe Himmel und Erde und die Politik von vierzehn Welten gegen Jamethon in Bewegung gesetzt – und er hat trotzdem gewonnen. Ich kann nichts mehr tun. Lassen Sie mich nur allein.“
„Selbst wenn ich Sie nun in Ruhe ließe“, sagte Padma, „bei den Ereignissen wäre das nicht der Fall. Machen Sie die Augen auf, Tam, und sehen Sie die Dinge so, wie sie sind. Sie sind längst direkt betroffen. Hören Sie.“ Für einen Augenblick erstrahlten seine nußfarbenen Augen sogar in dem trüben Licht um uns herum. „Das Muster auf Santa Maria ist von einer Kraft beeinflußt worden, die sich in Gestalt einer individuellen Einheit darbot, die sich durch einen persönlichen Verlust leiten ließ und auf Gewalt orientiert war: Sie, Tam.“
Ich versuchte erneut, den Kopf zu schütteln, doch ich wußte, daß er recht hatte.
„Sie waren auf Santa Maria nur auf Ihre bewußte Einflußnahme fixiert“, fuhr Padma fort. „Doch das Gesetz über die Erhaltung der Energie hat überall Gültigkeit. Als Jamethon Ihre Pläne vereitelte, wurde damit die Kraft nicht zerstört, die Sie zur Beeinflussung der Situation freigesetzt hatten. Sie wurde nur umgewandelt und brachte die Einheit eines anderen Individuums in den Mittelpunkt des Musters. Ein Individuum, das nun ebenfalls durch einen persönlichen Verlust gesteuert wurde und auf eine gewaltsame Beeinflussung des Musters orientiert war.“
Ich befeuchtete die Lippen.
„Welches andere Individuum?“
„Ian Graeme.“
Ich stand reglos da und starrte ihn an.
„Ian fand die drei Mörder seines Bruders, die in einem Hotelzimmer in Blauvain untergetaucht waren“, sagte Padma. „Er brachte sie eigenhändig um – und damit beruhigte er die Söldner und vereitelte die Pläne der Blauen Front, aus der Situation irgendeinen Nutzen zu ziehen. Doch dann quittierte Ian den Dienst und kehrte nach Hause zurück, nach Dorsai. Er ist jetzt mit der gleichen Bitterkeit und dem Gefühl des Verlustes erfüllt, wie Sie es waren, als Sie nach Santa Maria kamen.“ Padma zögerte. „Er hat nun ein großes Ursachenpotential. Welche Auswirkungen es auf das zukünftige Evolutionsmuster haben wird, bleibt abzuwarten.“
Er hielt erneut inne und beobachtete mich mit seinen fesselnden, gelbbraunen Augen.
„Verstehen Sie jetzt, Tam“, fuhr er kurz darauf fort, „daß sich jemand wie Sie nicht einfach entscheiden kann, das Netz aus Geschehnissen nicht mehr zu beeinflussen? Ich sage Ihnen, Sie können nur die Seite wechseln.“ Sein Tonfall wurde weicher. „Muß ich Sie nun noch daran erinnern, daß Sie noch immer mit einer Kraft erfüllt sind – nur mit einer anderen jetzt? Sie haben die volle Wucht der Wirkung von Jamethons Selbstaufopferung zur Rettung seiner Männer in sich aufgenommen.“
Seine Worte waren wie ein Faustschlag in meine Magengrube – ein so harter Hieb wie der, mit dem ich Janol Marat niedergestreckt hatte, als ich aus Kensies Lager auf Santa Maria geflohen war. Ich begann zu zittern – trotz des wärmeren und helleren Sonnenlichts, das nun zu uns herabsickerte.
Es stimmte. Ich konnte es nicht abstreiten. Jamethon hatte sein Leben für einen Glauben gegeben, während ich mit meinem Vorhaben, die Dinge in die von mir gewünschte Richtung zu lenken, alle Glaubenssätze verraten hatte. Und damit hatte er den harten Kern in meinem Innern geschmolzen und verändert, so wie ein Blitz die Klinge des Schwertes schmilzt und verändert, die sich ihm entgegenreckt. Ich konnte nicht abstreiten, was mit mir geschehen war.
„Es ist sinnlos“, sagte ich und zitterte noch immer. „Es macht keinen Unterschied. Ich bin nicht stark genug, um noch etwas zu ändern. Sie wissen doch: Ich habe alles gegen Jamethon in Bewegung gesetzt, und er gewann dennoch.“
„Aber Jamethon war aufrichtig“, sagte Padma. „Und als Sie ihn bekämpften, kämpften Sie gleichzeitig gegen Ihr wahres Selbst. Sehen Sie mich an, Tam!“
Ich sah ihn an. Die nußfarbenen Magnete seiner Augen packten mich und hielten mich fest.
„Uns erwartet noch eine bestimmte Aufgabe“, sagte er. „Sie wurde auf den Exotischen Welten errechnet, und sie veranlaßte mich erst dazu, hierherzukommen. Wissen Sie noch, Tam, wie Sie mich in Mark Torres Büro beschuldigten, Sie zu hypnotisieren?“
Ich nickte.
„Es war keine Hypnose – jedenfalls nicht ganz“, sagte er. „Ich habe Ihnen nur geholfen, einen Verbindungstunnel zwischen Ihrem bewußten und unbewußten Ich zu öffnen. Haben Sie den Mut – nachdem Sie nun erlebt haben, wozu Jamethon fähig war –, gemeinsam mit mir zu versuchen, ihn erneut zu öffnen?“
Seine Worte hingen schwerelos zwischen uns. Und gefangen im Kerker des Augenblicks vernahm ich die kräftige, stolz erhobene Stimme, die im Innern der Kirche betete. Ich sah, wie sich die Sonne bemühte, die dünner werdenden Wolken über uns zu durchdringen. Und zur gleichen Zeit sah ich vor meinem geistigen Auge die dunklen Hänge des Tals, das mein Selbst war – so wie es Padma an jenem lange zurückliegenden Tag in der Enzyklopädie beschrieben hatte. Sie waren immer noch da, hoch und steil; sie engten mich ein und schirmten das Sonnenlicht ab. Nur weit von mir war heller Schein, und der Weg, der dorthin führte, war wie ein schmaler Tunnel.
Ich dachte an den Ort des Blitzes, den ich damals gesehen hatte, als Padma den Finger auf mich gerichtet hatte. Und so schwach und geschlagen und besiegt, wie ich mich nun fühlte, erfüllte mich die Vorstellung, diese Zone des Kampfes erneut aufzusuchen, mit einer müden Hoffnungslosigkeit. Ich war nicht mehr stark genug, um dem Blitz noch einmal gegenüberzutreten. Vielleicht war ich es nie.
„Denn er war ein Soldat seines Volkes, der Jünger des Herrn und ein Soldat Gottes.“ Die einzelne Stimme, die in der Kirche das Gebet sprach, drang leise an meine Ohren. „Und er versagte nie und war immer ein treuer Diener des Herrn, unseres Herrn, des Herrn aller Stärke und Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Deshalb möge er nun von uns gehen und in die Reihen jener eintreten, die ihre sterblichen Hüllen abgestreift haben und vom Herrn gesegnet und willkommen geheißen werden.“
Ich hörte diese Worte – und plötzlich hallte mein Innerstes wider in dem allesumfassenden Gefühl einer Heimkehr – einer endgültigen Rückkehr nach einem ewigen Zuhause – und in dem Echo eines unerschütterlichen Vertrauens in den Glauben meiner Vorväter. Die Reihen jener, die niemals wanken, schlossen sich tröstend um mich. Und ich, der ich ebenfalls nie gewankt hatte, trat hinzu und marschierte vorwärts mit ihnen. In diesem Moment – in diesem einen Augenblick – spürte ich das, was Jamethon empfunden haben mußte, als er mir auf Santa Maria gegenüberstand. Und seiner Entscheidung für Leben oder Tod. Nur eine einzige Sekunde lang spürte ich es, doch das reicht völlig aus.
„Fangen Sie an“, sagte ich zu Padma, und ich hörte meine eigene Stimme wie aus weiter Ferne.
Ich sah, wie er den Finger auf mich richtete.
Dunkelheit hüllte mich ein – Dunkelheit und Wut. Ich befand mich im Land des Blitzes, doch hier wohnte nicht mehr nur der Blitz allein, sondern auch trübe Düsternis und Wolken und Sturm und Donner. Die wütenden Gewalten um mich herum schleuderten und wirbelten mich umher, fesselten mich an den Boden, und ich versuchte mit aller Kraft, in die Höhe zu kommen, mir den Weg freizukämpfen in die hellen und ruhigen Zonen über den Gewitterwolken. Doch es waren meine eigenen Anstrengungen, die mich zu Boden stürzen ließen, mich wild umherwirbelten und nach unten preßten, anstatt emporzuheben – und endlich begriff ich.
Denn der Sturm wehte in meinem Innern; ich hatte ihn selbst erschaffen. Es war das wütende Tosen in mir, das Gefüge aus Gewalt und Rache und Zerstörung, das ich in all den Jahren selbst konstruiert hatte. Und so, wie ich die Stärken der anderen gegen sie selbst gerichtet hatte, so wandte ich nun meine eigene Stärke gegen mich. Sie trieb mich tiefer und immer tiefer hinab, immer weiter in meine eigene Dunkelheit, bis letztendlich alles Licht erlöschen wollte.
Ich stürzte hinab, denn mein innerer Sturm war stärker als mein Wille. Ich fiel weiter in die finsteren Tiefen meiner Seele. Doch als die Dunkelheit mich völlig einhüllte und ich aufgeben wollte, stellte ich fest, daß ich es nicht konnte. Etwas anderes in mir ließ es nicht zu. Es wehrte sich noch immer und stemmte sich den schwarzen Böen entgegen. Und dann wußte ich auch, was es war.
Es war das, was Mathias nie hatte eliminieren können, als ich noch ein Kind gewesen war. Es war das ganze Erbe der Erde und des vorwärts strebenden Menschen. Es war Leonidas{6} mit seinen dreihundert Kriegern bei den Thermopylen. Es war der Auszug der Israeliten in die Wüste und ihre Durchquerung des Roten Meeres. Es war das Parthenon auf der Akropolis, der weiße Schimmer über Athen.
Das war es – der unnachgiebige Geist aller Menschen –, was in mir jetzt nicht nachgeben wollte. In meinem hin und her gezerrten, sturmgepeitschten Geist, der in der Finsternis ertrank, reckte sich plötzlich etwas mit unbändiger Freude empor. Denn ich wußte mit einemmal, daß es auch für mich da war – jenes hoch gelegene und steinige Land, in dem die Luft rein war und alle Fetzen aus Heuchelei und Schwindel fortgerissen wurden.
Ich hatte Jamethon auf dem Gebiet seiner Stärke angegriffen – aus den inneren Stellungen meiner eigenen Schwäche. Das hatte Padma damit gemeint, als er sagte, ich hätte mich sogar in dem Augenblick selbst bekämpft, als ich gegen Jamethon antrat. Aus diesem Grund hatte ich verloren, denn ich hatte mein wankelmütiges Verlangen gegen seinen unerschütterlichen Glauben gestellt. Aber meine Niederlage bedeutete nicht, daß ich kein Gebiet innerer Stärke besaß. Es war da. Es war immer da, tief in mir verborgen, die ganze Zeit über!
Jetzt sah ich es ganz deutlich. Und es erschien mir nun wie das Siegesgeläut von Glocken, als ich erneut die rauhe Stimme Mark Torres vernahm, die triumphierend zwischen meinen Gedanken erscholl. Und auch die Stimme von Lisa, die mich, wie ich nun begriff, besser als ich selbst verstanden und mich nie aufgegeben hatte. Lisa. Und als ich wieder an sie dachte, hörte ich sie alle.
All die Millionen und Milliarden summender Stimmen – die Stimmen aller Menschen, seit der Homo sapiens sich das erstemal erhoben hatte und fortan aufrecht gegangen war. Sie umgaben mich erneut, wie auch damals am Transitpunkt des Indexzimmers der Letzten Enzyklopädie. Und sie umringten mich wie Schwingen, die mich unbesiegbar machten und emportrugen, durch die trübe Finsternis hinauf. Sie gaben mir einen Mut, der der Vetter von Kensies Mut war, ein Vertrauen, das der Vater von Jamethons Vertrauen war, ein Begreifen, das der Bruder von Padmas Begreifen war.
All das spülte nun die Furcht und die Mißgunst fort, die mir Mathias gegenüber den Neuen Welten eingepflanzt hatte, ein für allemal. Endlich sah ich es ganz deutlich vor mir. Sie verkörperten nur eine einzige Wesensart, doch ich vereinte das ganze Spektrum in mir. Als Mensch der Erde, der ich war, gehörte ich zum Abstammungsfundament, zum Stamm des Stammbaums. Ich war Teil aller Menschen auf den Neuen Welten. Und dort gab es nicht einen einzigen, der nicht ein Echo seines Wesens in mir hätte finden können.
So durchbrach ich schließlich die letzte Schicht der Dunkelheit und stieß ins Licht vor – zu jenem Ort, in dem mein wahrer Blitz glühte, in die endlose Weite, wo der wirkliche Kampf stattfand: der Kampf aufrechter Menschen gegen das uralte und fremde Dunkel, das uns für alle Zeiten daran hindern will, mehr zu werden als Tiere. Und in der Ferne, wie am Ende eines langen Tunnels, sah ich Padma auf dem Parkplatz stehen, im heller werdenden Licht und nachlassenden Regen. Er sprach zu mir.
„Jetzt verstehen Sie“, sagte er, „warum die Enzyklopädie Sie braucht. Nur Mark Torre hat sie so weit bringen können. Und nur Sie können die Aufgabe beenden, denn die große Mehrheit der irdischen Bevölkerung kann das Bild der Zukunft noch nicht sehen, das mit ihrer Fertigstellung zusammenhängt. Sie haben die Kluft zwischen den Splitterkulturen und den Menschen der Erde in sich selbst überbrückt; Sie können die Enzyklopädie nach der Vision gestalten, die Sie jetzt sehen, so daß nach ihrer Vollendung auch jene verstehen, die dieses Bild bis jetzt noch nicht erkennen. Und damit legen Sie den Grundstein für die Neuformung, die beginnt, wenn die Menschen der Splitterkulturen zurückkehren, um sich wieder mit dem Abstammungsfundament auf der Erde zu verschmelzen – zu einem neuen, entwickelteren Typ des Menschen.“
Sein mächtiger und fesselnder Blick schien etwas weicher und sanfter zu werden in dem aufklarenden Licht. Sein Lächeln nahm einen traurigen Zug an.
„Sie leben, um mehr davon zu sehen als ich. Auf Wiedersehen, Tam.“
In Wirklichkeit aber würde ich sie so geschickt wie möglich dirigieren. Und deshalb brauchte ich mich nicht wie Torre der lästigen Notwendigkeit unterwerfen, mich vor Verrückten wie jenem zu schützen, der ihn ermordet hatte. Ich würde uneingeschränkt auf der Erde umherreisen können, ohne dabei die Kontrolle über die Enzyklopädie zu verlieren; und auf diese Weise konnte ich die Bemühungen jener erkennen und zunichte machen, die versuchen mochten, dagegen zu arbeiten. Ich konnte bereits sehen, wie ich das alles in die Tat umsetzen würde.
Doch Padma wandte sich ab, um mich zu verlassen. Ich konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Ich mußte meine Gedanken gewaltsam von der Zukunftsvision lösen und kehrte in die Gegenwart zurück, den nachlassenden Regen und das heller werdende Tageslicht.
„Warten Sie“, sagte ich. Er blieb stehen und drehte sich wieder um. Es fiel mir jetzt schwer zu sagen, daß ich begriffen hatte. „Sie …“ Mein Hals war trocken. „Sie haben nicht aufgegeben. Sie haben die ganze Zeit über an mich geglaubt.“
„Nein“, antwortete er. Ich sah ihn verwirrt an, aber er schüttelte den Kopf.
„Aber Sie … hielten zu mir …“ stammelte ich und starrte ihn an.
„Nein, ich nicht“, sagte er. „Niemand von uns. Nur Lisa. Sie hat Sie nie aufgegeben, von der ersten Begegnung in Mark Torres Büro an. Sie sagte uns, sie hätte etwas gespürt, so etwas wie ein Funken in Ihnen … als Sie sich mit ihr unterhielten, noch bevor Sie den Transitraum erreichten. Sie glaubte auch noch an Sie, nachdem Sie ihr bei der Party einen Korb gegeben hatten. Und als wir auf Mara daran gingen, Sie zu heilen, bestand sie darauf, in das Verfahren integriert zu werden, so daß wir sie emotional an Sie binden konnten.“
„Binden.“ Das Wort ergab keinen Sinn.
„Während des gleichen Verfahrens, mit dem wir Sie heilten, festigten wir ihre emotionale Fixierung auf Sie. Für Sie machte das keinen Unterschied, aber es band Lisa unwiderruflich an Sie. Wenn sie Sie nun jemals verlieren sollte, dann litte sie genauso daran – oder vielleicht noch mehr – wie Ian Graeme an dem Verlust seines Spiegelbildes, an dem Tod seines Zwillingsbruders Kensie.“
Er schwieg und blickte mich an. Doch ich war noch immer zu schwerfällig.
„Ich verstehe … noch immer nicht“, sagte ich. „Sie sagen, es hätte mich nicht beeinflußt, was Sie mit ihr machten. Welchen Nutzen hatte es dann …?“
„Keinen, soweit wir es damals berechnen oder bis heute herausfinden konnten. Wenn Lisa an Sie gebunden war, dann waren Sie es natürlich auch an Lisa. Aber es war so, als nähme man einen Faden und fesselte eine Nachtigall an den Finger eines Riesen – wenn man das relative Ausmaß Ihres Beeinflussungspotentials auf das Entwicklungsmuster mit dem Lisas vergleicht. Nur Lisa selbst glaubte, es sei vielleicht nützlich.“
Er wandte sich um.
„Auf Wiedersehen, Tam“, sagte er. Der dahinschwebende, neblige Dunst löste sich allmählich auf, und ich sah ihn auf die Kirche zugehen, aus der die Stimme des einzelnen Sprechers drang, der nun die Nummer des letzten Liedes aufrief.
Er ließ mich völlig durcheinander zurück. Doch dann lachte ich plötzlich laut auf, denn ich begriff mit einemmal, daß ich ihm überlegen war. Er hatte nicht einmal mit all seinen ontogenetischen Kalkulationen herausfinden können, warum ich dadurch gerettet werden konnte, indem sich Lisa an mich band.
Als ich dies nun begriff, drehte sich die Kompaßnadel meines Lebens mit einem Ruck herum – um hundertachtzig Grad. Und plötzlich sah ich alles in einem ganz neuen Licht, ganz klar und deutlich und einfach. Es änderte sich gar nichts für mich; mein Verlangen, mein Ehrgeiz und mein Antrieb – alles blieb wie es war. Mit dem einen Unterschied, daß ich nun eine völlige Kehrtwendung vollführte. Erneut lachte ich laut auf: Es war so einfach, so vollkommen klar. Denn nun verstand ich, daß die eine Zielsetzung nur die Umkehrung der anderen war.
ZERSTÖREN : AUFBAUEN
AUFBAUEN – die schlichte und einfache Antwort, nach der ich all die Jahre gesucht hatte, um Mathias und seiner Leere standzuhalten. Dazu war ich geboren. Das war es, was vom Parthenon und der Enzyklopädie verkörpert wurde – und von der ganzen Menschheit selbst.
Ich war wie wir alle, selbst Mathias, dazu geboren, aufzubauen und nicht zu zerschmettern, ein Schöpfer zu sein und kein Zerstörer – wenn wir nicht vom rechten Weg abkamen. Jetzt war ich wie eine neue und reine Saite, die von allen Verunreinigungen gesäubert worden war – jede Faser, jedes einzelne Atom meines Wesens, erklang in dem klaren und unveränderbaren Ton, der der einzige und wahre Sinn des Lebens war. Benommen und müde wandte ich mich schließlich von der Kirche ab, ging zu meinem Wagen und stieg ein. Inzwischen hatte es fast ganz aufgehört zu regnen, und der Himmel klarte rascher auf. Die dünnen Nebelschlieren trieben auseinander und wirkten nun irgendwie freundlicher. Und die Luft war frisch und belebend.
Ich öffnete die Wagenfenster, als ich vom Parkplatz fuhr und auf die lange Straße einbog, die zum Raumhafen führte. Und durch das offene Fenster neben mir hörte ich, wie die Gemeinde im Innern der Kirche das letzte Lied anstimmte.
Es war die Kampfhymne der Quäkersoldaten, die sie sangen. Und als ich die Straße hinunterfuhr, fort von der Kirche, da schienen mir die Stimmen nachzuwehen, ohne dabei leiser zu werden. Sie klangen nicht düster und kummervoll, um einem Toten ein trauriges Lebewohl zu sagen, sondern jubelnd und triumphierend – wie ein Marschlied auf den Lippen jener Soldaten, die am Morgen eines neuen Tages ins Feld zogen.
Frage nicht, Soldat – nicht jetzt noch irgendwann!
In welchen Krieg dein Banner dich führen mag!
Der Gesang folgte mir, als ich fortfuhr. Und als ich mich weiter von der Kirche entfernte, schienen die Stimmen miteinander zu verschmelzen, bis sie schließlich wie eine einzige klangen, die laut und kräftig sang. Vor mir brach die Wolkendecke auf. Die Sonne schien hindurch, und die Flecken aus blauem Himmel waren wie glänzende, im Wind flatternde Fahnen.
Ich betrachtete diese einzelnen Flecken, als ich mich dem Bereich näherte, wo sie sich schließlich vereinten und alle Wolken verdrängten. Und noch eine ganze Zeitlang lauschte ich dem Gesang hinter mir, während ich dem Raumhafen und dem Raumschiff zur Erde entgegenfuhr. Und Lisa, die dort im Sonnenlicht auf mich warten würde.