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Wie be­nom­men be­ob­ach­te­te ich noch am glei­chen Tag, wie sich die Quä­ker­trup­pen er­ga­ben. Nur in die­ser Si­tua­ti­on fühl­ten sich ih­re Of­fi­zie­re zur Ka­pi­tu­la­ti­on be­rech­tigt.

Nicht ein­mal die Äl­tes­ten er­war­te­ten von ih­ren Un­ter­ge­be­nen, daß sie in ei­ner La­ge wei­ter­kämpf­ten, die von ei­nem to­ten Trup­pen-Kom­man­deur aus be­stimm­ten tak­ti­schen Er­wä­gun­gen ge­schaf­fen wor­den war, von der sei­ne Of­fi­zie­re kei­ne Kennt­nis hat­ten. Und die üb­rig­ge­blie­be­nen, über­le­ben­den Trup­pen wa­ren mehr wert als die Scha­den­er­satz­for­de­run­gen, die die Exo­ten er­he­ben wür­den.

Ich war­te­te die Ka­pi­tu­la­ti­on- und Schlich­tungs­ver­trä­ge nicht ab. Es gab nichts mehr, wor­auf ich hät­te war­ten müs­sen. Einen Au­gen­blick lang war auf die­sem Schlacht­feld al­les in der Schwe­be ge­we­sen – wie ei­ne große, über­wäl­ti­gen­de Wo­ge über uns al­len, ei­ne schäu­men­de und gisch­ten­de und sich wei­ter auf­tür­men­de Wel­le, die über uns her­ein­zu­bre­chen droh­te, mit ei­ner Wucht, die ihr Echo auf al­le Wel­ten der Mensch­heit wer­fen wür­de. Jetzt plötz­lich war sie an uns vor­bei­ge­rollt. Nichts er­in­ner­te mehr an sie, nur ein lei­ses Da­v­on­schäu­men in der Fer­ne, ein Ab­trop­fen in Ver­gan­gen­heit und Ge­we­se­nes.

Hier gab es nichts mehr für mich zu tun. Nichts.

Wenn es Ja­me­thon ge­lun­gen wä­re, Ken­sie zu tö­ten … selbst wenn er als Er­geb­nis da­von die Exo­ten zu ei­ner prak­tisch kampf­lo­sen Ka­pi­tu­la­ti­on ge­zwun­gen hät­te – ich hät­te den Vor­fall am Ver­hand­lungs­tisch zu ei­nem Werk­zeug der Zer­stö­rung ma­chen kön­nen. Aber er hat­te es nur ver­sucht, war ge­schei­tert und ge­stor­ben. Wer konn­te die öf­fent­li­che Mei­nung da­mit ge­gen die Quä­ker auf­brin­gen?

Ich ging an Bord ei­nes Raum­schif­fes und flog zu­rück zur Er­de, wie ein Mann, der in ei­nem Traum ge­fan­gen ist. Und ich frag­te mich nach dem Warum.

Auf der Er­de an­ge­kom­men, sag­te ich mei­nen Re­dak­teu­ren, ich sei kör­per­lich nicht ganz auf der Hö­he. Sie sa­hen mich nur ein­mal an und glaub­ten mir. Ich nahm un­be­schränk­ten Ur­laub und ver­brach­te die meis­te Zeit im Zen­tralar­chiv der Nach­rich­ten­diens­te im Haa­ger Schieds­hof. Dort durch­stö­ber­te ich blind­lings gan­ze Ak­ten­ber­ge und Sta­pel aus Nach­schla­ge­wer­ken über die Quä­ker, die Dor­sai und die Exo­ti­schen Wel­ten. Nach was such­te ich? Ich wuß­te es nicht. Ich folg­te auch den Nach­rich­ten­be­rich­ten von San­ta Ma­ria, die die Ka­pi­tu­la­ti­ons- und Schlich­tungs­ver­trä­ge be­tra­fen. Und ich trank ei­ne Men­ge, wäh­rend ich sie stu­dier­te.

Ich fühl­te mich so be­täubt und be­nom­men wie ein Sol­dat, der we­gen ei­nes schwe­ren Dienst­ver­ge­hens zum To­de ver­ur­teilt wor­den war. Dann wur­de in den Nach­rich­ten­be­rich­ten ge­mel­det, daß Ja­me­thons Lei­che zur Be­stat­tung nach Har­mo­nie zu­rück­ge­bracht wer­den soll­te. Und plötz­lich be­griff ich, daß ich ge­nau dar­auf ge­war­tet hat­te: die von Fa­na­ti­kern durch­ge­führ­te ab­scheu­li­che Eh­rung ei­nes Fa­na­ti­kers, der mit vier Hel­fers­hel­fern ver­sucht hat­te, den von sei­nen Män­nern iso­lier­ten feind­li­chen Kom­man­deur un­ter ei­ner Ver­hand­lungs­flag­ge zu er­mor­den. Ich konn­te noch im­mer ei­ni­ge be­stimm­te Ar­ti­kel ver­fas­sen.

Ich ra­sier­te mich, dusch­te und sam­mel­te mich wie­der ei­ni­ger­ma­ßen. Dann mach­te ich mich auf, ei­ne Pas­sa­ge nach Har­mo­nie zu ar­ran­gie­ren, und ich gab vor, dort über die Be­stat­tung von Ja­me­thon be­rich­ten zu wol­len.

Die Glück­wün­sche von Piers und mei­ne Be­ru­fung in den Gil­de­rat, die ich noch auf San­ta Ma­ria er­hal­ten hat­te, ka­men mir gut zu­stat­ten. Da­durch hat­te ich ab­so­lu­te Prio­ri­tät und er­hielt einen Platz an Bord des nächs­ten Li­ni­en­schif­fes, das hin­aus­flog.

Fünf Ta­ge spä­ter war ich auf Har­mo­nie, in der glei­chen klei­nen Stadt na­mens Ein­ge­denk-des-Herrn, die ich zu­vor schon ein­mal mit dem Äl­tes­ten Strah­len­den be­sucht hat­te. Die Ge­bäu­de der Ort­schaft be­stan­den noch im­mer aus Be­ton und Bla­sen­plas­tik und hat­ten sich in den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren nicht ver­än­dert. Doch der stei­ni­ge Bo­den der Far­men in der Nä­he der Stadt war um­ge­pflügt wor­den – wie auch die Fel­der von San­ta Ma­ria, als ich je­ne an­de­re Welt be­tre­ten hat­te –, denn in der nörd­li­chen He­mi­sphä­re von Har­mo­nie be­gann nun ge­ra­de der Früh­ling. Und wie an je­nem ers­ten Tag auf San­ta Ma­ria reg­ne­te es auch hier, als ich vom Raum­ha­fen aus zur Stadt fuhr. Doch in den Acker­fur­chen der Quä­ker­fel­der zeig­te sich nicht die fet­te Schwär­ze, wie in den Äckern auf San­ta Ma­ria – nur ei­ne dün­ne und scharf ab­ge­grenz­te Dun­kel­heit in den Pfüt­zen, ein Farb­ton, der den Uni­for­men der Quä­ker ent­sprach.

Ich er­reich­te die Kir­che ge­ra­de in dem Au­gen­blick, als die Teil­neh­mer der To­ten­fei­er sich zur Mes­se zu ver­sam­meln be­gan­nen. Der Him­mel war ei­ne tief­hän­gen­de, dunkle und trop­fen­de Mas­se, und im In­nern der Kir­che war es so düs­ter, daß ich mich kaum ori­en­tie­ren konn­te: Die Quä­ker ge­stat­te­ten sich nicht den Lu­xus von Fens­tern oder künst­li­cher Be­leuch­tung in ih­ren Got­tes­häu­sern. Trü­bes, grau­es Licht und kal­ter Wind und Re­gen dran­gen durch das tür­lo­se Por­tal an der Rück­front der Kir­che. Durch die ein­zel­ne recht­e­cki­ge Öff­nung im Dach si­cker­te mat­tes und von Feuch­tig­keit durch­setz­tes Ta­ges­licht auf Ja­me­thons Lei­che, die auf ei­nem Ge­stell auf­ge­bahrt war, das auf ei­ner Platt­form stand. Man hat­te einen trans­pa­ren­ten Schirm auf­ge­stellt, um den To­ten vor dem Re­gen zu schüt­zen, und die Näs­se wur­de durch einen Ab­fluß in der Rück­wand von der of­fe­nen Platt­form ab­ge­lei­tet. Der Äl­tes­te aber, der die To­ten­mes­se lei­te­te – und je­der an­de­re, der hin­auf­stieg, um Ja­me­thon die letz­te Eh­re zu er­wei­sen –, wür­de di­rekt un­ter dem Him­mel ste­hen und so­mit mit­ten im Re­gen.

Ich reih­te mich in die Grup­pe von Men­schen ein, die lang­sam durch den Mit­tel­gang und an dem To­ten vor­bei­sch­rit­ten. Die Brüs­tun­gen rechts und links von mir, hin­ter de­nen die Ge­mein­de wäh­rend der Mes­se ste­hen wür­de, wa­ren im Halb­dun­kel kaum zu er­ken­nen. Die Spar­ren des sich in ei­nem spit­zen Win­kel nach oben hin ver­jün­gen­den Daches wa­ren von Fins­ter­nis ein­gehüllt. Es gab kei­ne Mu­sik. Doch in den Ge­län­der­rei­hen zu bei­den Sei­ten und in der Grup­pe, mit der ich nun schritt, war das lei­se Flüs­tern von Stim­men zu ver­neh­men, die je­de für sich al­lein be­te­ten; und die­se Stim­men ver­misch­ten sich zu ei­nem rhyth­mi­schen Hauch von Me­lan­cho­lie und Trau­er. Die Men­schen hier wa­ren al­le sehr dun­kel und wie Ja­me­thon von nord­afri­ka­ni­scher Her­kunft. Dunkles wur­de in Dun­kel­heit ge­taucht und in der Düs­ter­nis vor mei­nen Bli­cken ver­bor­gen.

Schließ­lich ge­lang­te ich auf die Platt­form und kam an Ja­me­thon vor­bei. Er sah so aus, wie ich ihn in Er­in­ne­rung hat­te. Der Tod hat­te nicht die Macht ge­habt, sein Ge­sicht zu wan­deln. Er lag auf dem Rücken, die Ar­me an den Sei­ten, und sei­ne Lip­pen wa­ren so fest und ge­ra­de wie im­mer. Sei­ne Au­gen aber wa­ren ge­schlos­sen.

Auf­grund der Feuch­tig­keit be­gann ich nun im­mer mehr zu hin­ken, und als ich mich von dem To­ten ab­wand­te, spür­te ich, wie je­mand mei­nen Ell­bo­gen be­rühr­te. Ich dreh­te mich ab­rupt um. Ich trug nicht mei­ne Kor­re­spon­den­ten­uni­form. Ich war in Zi­vil hier.

Ich sah in das Ge­sicht des jun­gen Mäd­chens hin­ab, das ich in Ja­me­thons Mas­siv­bild ge­se­hen hat­te. In dem grau­en und trü­ben Licht hat­te ihr glat­tes Ge­sicht Ähn­lich­keit mit ei­ner Ma­don­na auf dem Kir­chen­fens­ter­glas ei­ner ur­al­ten Ka­the­dra­le von Al­t­er­de.

„Sie sind ver­wun­det wor­den“, sag­te es in ei­ner wei­chen Stim­me zu mir. „Sie müs­sen ei­ner der Söld­ner sein, die mit ihm auf New­ton wa­ren, be­vor er nach Har­mo­nie zu­rück­be­or­dert wur­de. Sei­ne Fa­mi­lie, der ich eben­falls an­ge­hö­re, fän­de Trost vor dem Herrn, wenn Sie uns be­such­ten.“

Der Wind weh­te Re­gen durch die Dach­öff­nung über uns; die Näs­se hüll­te mich ganz ein, und ih­re ei­si­ge Käl­te jag­te mir plötz­lich einen so fros­ti­gen Schau­er durch den gan­zen Kör­per, daß mein Blut selbst zu ge­frie­ren droh­te.

„Nein!“ sag­te ich. „Das bin ich nicht. Ich kann­te ihn nicht.“ Und ich wand­te mich ab­rupt von ihr ab, dräng­te mich durch die Grup­pe und eil­te durch den Mit­tel­gang von ihr fort.

Nach et­wa fünf­zehn Me­tern kam mir zu Be­wußt­sein, was ich tat, und ich wur­de lang­sa­mer. Das Mäd­chen war in der Dun­kel­heit der Kör­per hin­ter mir be­reits nicht mehr zu se­hen. Et­was ru­hi­ger nun ging ich zum rück­wär­ti­gen Be­reich der Kir­che. Hier be­fand sich ei­ne klei­ne freie Flä­che, an die sich die lan­gen Rei­hen der Ge­län­der und Brüs­tun­gen an­schlos­sen. Hier blieb ich ste­hen und be­ob­ach­te­te die her­ein­kom­men­den Kirch­gän­ger. Und sie ka­men oh­ne En­de. Sie tra­ten ein, mit ih­ren schwar­zen Ge­wän­dern und ge­senk­ten Köp­fen, und sie spra­chen oder be­te­ten mit lei­sen Stim­men.

Ich blieb, wo ich war, ein we­nig ab­seits des Ein­gangs. Ich war halb be­nom­men, und mei­ne Ge­dan­ken ran­nen nur trä­ge da­hin, als wür­den sie von dem Frost in mei­nen Glie­dern und der Er­schöp­fung, die ich von der Er­de mit­ge­bracht hat­te, ein­ge­fro­ren. Um mich her­um summ­ten die Stim­men. Ich dös­te fast, wäh­rend ich reg­los da­stand. Ich konn­te mich nicht dar­an er­in­nern, warum ich hier­her­ge­kom­men war.

Dann weh­te mir ei­ne Stim­me aus dem Durch­ein­an­der ent­ge­gen, lös­te mei­ne Be­nom­men­heit auf und brach­te mich wie­der in die Wirk­lich­keit zu­rück.

„… er hat es ab­ge­strit­ten, aber ich bin si­cher, er ist ei­ner von die­sen Söld­nern, die mit Ja­me­thon auf New­ton wa­ren. Er hin­kt und kann nur ein Sol­dat sein, der ein­mal ver­wun­det wor­den ist.“

Es war die Stim­me von Ja­me­thons Schwes­ter, und sie sprach nun mehr in dem Ton­fall ei­nes Quä­kers, als das bei mir, ei­nem Frem­den ge­gen­über, der Fall ge­we­sen war. Ich war nun wie­der ganz wach und sah sie ne­ben dem Ein­gang ste­hen, nur ein paar Me­ter von mir ent­fernt. Sie stand an der Sei­te von zwei ge­setz­ten Leu­ten, die ich als das äl­te­re Ehe­paar auf Ja­me­thons Mas­siv­bild wie­der­er­kann­te. Ein Blitz aus schie­rem und fros­ti­gen Schre­cken durch­fuhr mich.

„Nein!“ Ich schrie sie fast an. „Ich ken­ne ihn nicht. Ich ha­be ihn nie ge­kannt. Ich weiß nicht, wo­von Sie spre­chen!“ Und ich dreh­te mich um und stürz­te durch das of­fe­ne Por­tal aus der Kir­che hin­aus, in den Re­gen, in den Vor­hang aus ver­schlei­ern­der Näs­se.

Ich lief drei­ßig oder vier­zig Me­ter wei­ter, wie von Sin­nen. Dann stell­te ich fest, daß mir nie­mand folg­te. Ich blieb ste­hen.

Ich war al­lein drau­ßen. Es war so­gar noch dunk­ler ge­wor­den, und der Re­gen fiel plötz­lich schnel­ler und dich­ter. Er ver­barg al­les um mich her­um hin­ter ei­ner trom­meln­den und schim­mern­den Por­tie­re. Ich konn­te nicht ein­mal die auf dem Park­platz ab­ge­stell­ten Bo­den­wa­gen er­ken­nen, de­nen ich ge­gen­über­stand. Und von der Kir­che aus konn­te ich ganz be­stimmt nicht ge­se­hen wer­den. Ich hob mein Ge­sicht dem hef­ti­gen Re­gen­guß ent­ge­gen und ließ die Trop­fen auf mei­nen Wan­gen und den ge­schlos­se­nen Li­dern zer­plat­zen.

„Sie kann­ten ihn al­so nicht?“ sag­te ei­ne Stim­me hin­ter mir.

Die Wor­te schie­nen mich in der Mit­te zu durch­tei­len, und ich fühl­te mich so, wie sich ein in die En­ge ge­trie­be­ner Wolf füh­len muß­te. Und wie ein sol­cher Wolf wir­bel­te ich her­um.

„Ja, ich kann­te ihn!“ sag­te ich.

Pad­ma blick­te mich an, und der Re­gen schi­en sei­ne blaue Ro­be nicht ein­mal zu be­net­zen. Er hat­te die lee­ren Hän­de, die nicht ein­mal in sei­nem gan­zen Le­ben ei­ne Waf­fe ge­hal­ten hat­ten, vor dem Bauch ge­fal­tet. Aber der Wolf in mir wuß­te, daß er – so­weit es mich be­traf – be­waff­net und ein Jä­ger war.

„Sie?“ brach­te ich her­vor. „Was ma­chen Sie hier?“

„Es wur­de be­rech­net, daß Sie hier­her­kom­men“, sag­te Pad­ma sanft. „Al­so kam ich eben­falls. Aber warum sind Sie hier, Tam? Un­ter den Leu­ten dort drin­nen be­fin­den sich si­cher­lich zu­min­dest ein paar Fa­na­ti­ker, die die ein­schlä­gi­gen Ge­rüch­te ken­nen. Und die ma­chen Sie mit­ver­ant­wort­lich, was Ja­me­thons Tod und die Ka­pi­tu­la­ti­on der Quä­ker be­trifft.“

„Ge­rüch­te!“ sag­te ich. „Wer hat sie in die Welt ge­setzt?“

„Sie selbst“, sag­te Pad­ma. „Durch Ih­re Hand­lun­gen auf San­ta Ma­ria.“ Er starr­te mich an. „Ha­ben Sie nicht ge­wußt, daß Sie Ihr Le­ben aufs Spiel set­zen, in­dem Sie heu­te hier sind?“

Ich öff­ne­te den Mund, um das ab­zu­strei­ten. Doch dann stell­te ich fest, daß ich es tat­säch­lich ge­wußt hat­te.

„Was, wenn ih­nen je­mand zu­ruft“, sag­te Pad­ma, „daß Tam Olyn in­ko­gni­to un­ter ih­nen weilt, der Be­richt­er­stat­ter des Feld­zugs von San­ta Ma­ria?“

Der Wolf in mir blick­te ihn grim­mig an.

„Kön­nen Sie es mit Ih­ren exo­ti­schen Prin­zi­pi­en ver­ein­ba­ren, so et­was zu tun?“

„Wir wer­den miß­ver­stan­den“, ant­wor­te­te Pad­ma ru­hig. „Wir mie­ten nicht auf­grund ir­gend­ei­nes mo­ra­li­schen Ge­bo­tes Sol­da­ten, die für uns kämp­fen, son­dern weil wir un­se­re emo­tio­na­le Per­spek­ti­ve ver­lie­ren, wenn wir di­rekt be­trof­fen sind.“

Es gab kei­ne Furcht mehr in mir, nur ein schwa­ches Ge­fühl von Lee­re.

„Dann sa­gen Sie es ih­nen“, for­der­te ich ihn auf.

Pad­mas son­der­ba­re, nuß­far­be­nen Au­gen blick­ten mich an.

„Wä­re nur das er­for­der­lich ge­we­sen“, sag­te er, „dann hät­te ich ih­nen ei­ne Nach­richt zu­kom­men las­sen kön­nen. Dann hät­te ich nicht per­sön­lich hier­her­kom­men müs­sen.“

„Und warum ka­men Sie hier­her?“ Mei­ne Stim­me kratz­te in der Keh­le. „Warum soll­ten Sie sich oder die Exo­ten um mich sor­gen?“

„Wir sor­gen uns um je­des In­di­vi­du­um“, sag­te Pad­ma. „Aber wir sor­gen uns mehr um die mensch­li­che Ras­se als Gan­zes. Und Sie stel­len noch im­mer ei­ne Ge­fahr für sie dar. Sie sind ein la­ten­ter Idea­list, Tam, der auf den Weg der Zer­stö­rung ge­zwun­gen wur­de. Wie bei an­de­ren Wis­sen­schaf­ten hat auch hier das Ge­setz von der Er­hal­tung der Ener­gie bei Ur­sa­che und Wir­kung Gül­tig­keit. Ihr Zer­stö­rungs­wil­le fand kein Ven­til auf San­ta Ma­ria. Und nun … was, wenn er sich nach in­nen wen­det, um Sie selbst zu zer­stö­ren – oder nach au­ßen, ge­gen die gan­ze Mensch­heit?“

Ich lach­te, und ich hör­te die Rau­heit mei­nes La­chens.

„Und was wol­len Sie jetzt ma­chen?“ frag­te ich.

„Ich will Ih­nen zei­gen, daß das Mes­ser in Ih­rer Hand die Hand ab­schnei­det, die es hält – ge­gen wen oder was Sie es auch rich­ten. Ich ha­be ei­ne Neu­ig­keit für Sie. Ken­sie Grae­me ist tot.“

„Tot?“ Der Re­gen schi­en mir nun plötz­lich ent­ge­gen­zu­dröh­nen, und der Bo­den des Park­plat­zes zu mei­nen Fü­ßen glitt da­von, als sei er nur der Schat­ten ei­ner an­de­ren Rea­li­tät.

„Er wur­de vor fünf Ta­gen von drei An­ge­hö­ri­gen der Blau­en Front er­mor­den.“

„Er­mor­det?“ flüs­ter­te ich. „Warum?“

„Weil der Krieg vor­über war“, sag­te Pad­ma. „Weil Ja­me­thons Tod und die Ka­pi­tu­la­ti­on der Quä­ker-Streit­kräf­te oh­ne vor­he­ri­ge Kampf­hand­lun­gen, die die Land­wirt­schaft arg in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen hät­ten, die Sym­pa­thie der Zi­vil­be­völ­ke­rung un­se­ren Trup­pen ge­gen­über er­heb­lich ge­stei­gert hat. Weil die Blaue Front auf­grund die­ses Sym­pa­thie­zu­wach­ses wei­ter als je­mals zu­vor von der Macht ent­fernt ist. Sie hoff­ten, un­se­re Trup­pen durch die Er­mor­dung Grae­mes zu Ver­gel­tungs­maß­nah­men ge­gen die Zi­vil­be­völ­ke­rung pro­vo­zie­ren zu kön­nen, so daß die Re­gie­rung von San­ta Ma­ria die Sol­da­ten zu uns Exo­ten zu­rück­schi­cken müß­te und ei­ner Re­bel­li­on der Blau­en Front so­mit schutz­los aus­ge­lie­fert wä­re.“

Ich starr­te ihn an.

„Al­les steht in ei­ner Wech­sel­be­zie­hung zu­ein­an­der“, fuhr Pad­ma fort. „Ken­sie war für ei­ne end­gül­ti­ge Ver­set­zung an einen Schreib­tisch­pos­ten da­heim auf Ma­ra oder Kul­tis vor­ge­se­hen. Er und sein Bru­der Ian hät­ten für den Rest ih­res Be­rufs­le­bens kei­nen Krieg mehr füh­ren müs­sen. Durch Ja­me­thons Tod, der ei­ne kampf­lo­se Ka­pi­tu­la­ti­on sei­ner Trup­pen mög­lich mach­te, wur­de ei­ne Si­tua­ti­on ge­schaf­fen, die die Blaue Front ver­an­laß­te, Ken­sie zu er­mor­den. Wenn es auf San­ta Ma­ria nicht zu der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Ih­nen und Ja­me­thon ge­kom­men wä­re und wenn Ja­me­thon nicht ge­won­nen hät­te, dann wür­de Ken­sie noch le­ben. Un­se­re Kal­ku­la­tio­nen be­wei­sen das.“

„Ja­me­thon und ich?“ Mein Atem war plötz­lich tro­cken.

„Ja“, sa­ge Pad­ma. „Sie wa­ren der Fak­tor, der Ja­me­thon zu sei­ner Lö­sung ver­half.“

„Ich ha­be ihm ge­hol­fen?“ sag­te ich. „Ich?“

„Er hat in Sie hin­ein­ge­se­hen“, sag­te Pad­ma. „Er hat durch die rach­süch­ti­ge und zer­stö­re­ri­sche Ober­flä­che ge­se­hen, die Sie für Ihr Selbst hal­ten – bis hin zu dem krea­ti­ven Kern in Ih­nen, der so fest in Ih­nen ver­an­kert ist, daß er nicht ein­mal von Ih­rem On­kel aus­ge­tilgt wer­den konn­te.“

Zwi­schen uns trom­mel­te und don­ner­te der Re­gen. Aber je­des Wort von Pad­ma drang klar und tro­cken zu mir durch.

„Ich glau­be Ih­nen nicht!“ schrie ich. „Ich glau­be nicht, daß er so et­was ge­se­hen hat! Ich glau­be nicht, daß er da­zu in der La­ge war!“

„Ich sag­te Ih­nen“, fuhr Pad­ma fort, „Sie wür­den den evo­lu­tio­nären Fort­schritt un­se­rer Split­ter­kul­tu­ren nicht ganz be­grei­fen. Ja­me­thons Glau­be war nicht von ei­ner Art, die durch äu­ße­re Ein­fluß­nah­me er­schüt­tert wer­den kann. Wenn Sie tat­säch­lich so wä­ren wie Ihr On­kel Ma­thi­as, dann hät­te er Ih­nen nicht ein­mal zu­ge­hört. Er hät­te Sie als einen Men­schen oh­ne See­le igno­riert. Statt des­sen aber hat er Sie als Be­ses­se­nen ge­se­hen, als einen Mann, der – wie er es aus­ge­drückt hät­te – mit der Stim­me des Sa­tans sprach.“

„Das glau­be ich nicht!“ schrie ich.

„Sie glau­ben es“, sag­te Pad­ma. „Ih­nen bleibt gar nichts an­de­res üb­rig, als es zu glau­ben. Denn nur da­durch konn­te Ja­me­thon sei­ne Lö­sung fin­den.“

„Lö­sung!“

„Er war ein Mann, der für sei­nen Glau­ben zu ster­ben be­reit war. Aber als Kom­man­deur fand er es un­ver­ant­wort­lich, sei­ne Män­ner aus ei­nem so per­sön­li­chen Mo­tiv in den Tod zie­hen zu las­sen.“ Pad­ma mus­ter­te mich, und für einen Au­gen­blick ließ der Re­gen ein we­nig nach. „Aber Sie bo­ten ihm et­was an, das er für die sün­di­ge Ver­lo­ckung des Teu­fels hal­ten muß­te: sein Le­ben in die­ser Welt, wenn er sei­nen Glau­ben und sei­ne Män­ner ver­ra­ten und da­mit den Kon­flikt ver­mei­den wür­de, der zu sei­nem und ih­rem Tod füh­ren muß­te.“

„Was wa­ren das für ver­rück­te Über­le­gun­gen?“ sag­te ich. In der Kir­che wa­ren die Ge­be­te ver­stummt, und ei­ne ein­zel­ne, kräf­ti­ge und tie­fe Stim­me hat­te mit der To­ten­mes­se be­gon­nen.

„Sie wa­ren nicht ver­rückt“, wi­der­sprach Pad­ma. „In dem Au­gen­blick, als er sich dar­über klar­wur­de, lag die Ant­wort auf der Hand. Er brauch­te nur das Ge­gen­teil von dem zu tun, was ihm der Sa­tan an­bot. Er muß­te die ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit des ei­ge­nen To­des ak­zep­tie­ren.“

„Und das war ei­ne Lö­sung?“ Ich ver­such­te zu la­chen, doch mei­ne Keh­le brann­te.

„Es war die ein­zi­ge Lö­sung“, sag­te Pad­ma. „Als er das be­grif­fen hat­te, sah er so­fort, daß es nur einen Aus­weg gab: Es gab nur ei­ne Si­tua­ti­on, in der sei­ne Män­ner ka­pi­tu­lie­ren wür­den – wenn er tot war und sie sich in ei­ner un­halt­ba­ren Kampf­po­si­ti­on be­fan­den, aus Grün­den, die nur er kann­te.“

Ich spür­te, wie das Echo sei­ner Wor­te in mir gleich ei­ner rhe­to­ri­schen Lan­ze durch mein In­ners­tes schnitt.

„Aber er woll­te nicht ster­ben!“ sag­te ich.

„Er über­ließ die Ent­schei­dung sei­nem Gott“, gab Pad­ma zu­rück. „Er ar­ran­gier­te es so, daß ihn nur ein Wun­der ret­ten konn­te.“

„Was sa­gen Sie da?“ Ich starr­te ihn an. „Er stell­te einen Ver­hand­lungs­tisch mit Par­la­men­tär­flag­ge auf. Er nahm vier Män­ner …“

„Da war kei­ne Flag­ge. Und die Män­ner wa­ren alt und woll­ten einen Mär­ty­rer­tod ster­ben.“

„Er nahm vier!“ schrie ich. „Vier plus eins er­gibt fünf. Und al­le fünf ge­gen Ken­sie – einen Mann. Ich stand an die­sem Tisch und ha­be es ge­se­hen. Fünf ge­gen …“

„Tam.“

Die­ses ei­ne Wort ließ mich in­ne­hal­ten. Plötz­lich be­gann ich mich zu fürch­ten. Ich woll­te nicht hö­ren, was er mir zu sa­gen ge­dach­te. Ich fürch­te­te, daß ich wuß­te, was er mir sa­gen wür­de, daß ich es be­reits seit ei­ni­ger Zeit wuß­te. Und ich woll­te es nicht hö­ren … ich woll­te es nicht von ihm hö­ren. Der Re­gen ström­te noch hef­ti­ger, pras­sel­te auf uns nie­der und trom­mel­te un­barm­her­zig auf den As­phalt. Doch trotz des Rau­schens und Strö­mens drang je­des Wort deut­lich und er­bar­mungs­los zu mir durch.

Pad­mas Stim­me be­gann wie der Re­gen in mei­nen Oh­ren zu dröh­nen, und ich fühl­te mich plötz­lich so kalt und halt­los und von al­ler Wirk­lich­keit ge­trennt, als hät­te ich ho­hes Fie­ber. „Glau­ben Sie, daß sich Ja­me­thon auch nur einen Au­gen­blick lang selbst et­was vor­ge­macht hat, so wie Sie die gan­ze Zeit über? Er war das Pro­dukt ei­ner Split­ter­kul­tur, und in Ken­sie er­kann­te er ein an­de­res. Glau­ben Sie, daß er es auch nur einen Au­gen­blick lang für mög­lich hielt, er und sei­ne vier al­ten Fa­na­ti­ker könn­ten – oh­ne die Un­ter­stüt­zung ei­nes Wun­ders – einen be­waff­ne­ten, wach­sa­men und ein­satz­be­rei­ten Sol­da­ten der Dor­sai wie Ken­sie Grae­me um­brin­gen, be­vor sie von ihm nie­der­ge­schos­sen und selbst ge­tö­tet wur­den?“

Selbst … selbst … selbst …

Die­ses Wort zog mich da­von, weit weg von dem trü­ben Tag und dem Re­gen. Es hob mich aus der Näs­se und trug mich fort zu den Win­den jen­seits der dunklen Wol­ken. Und es brach­te mich schließ­lich in das hoch ge­le­ge­ne, kal­te und stei­ni­ge Land, das ich schon ein­mal kurz er­blickt hat­te – da­mals, als ich Ken­sie Grae­me ge­fragt hat­te, ob er es je­mals zu­las­sen wür­de, daß ge­fan­ge­ne Quä­ker um­ge­bracht wur­den. Es war die­ses Land, das ich im­mer ge­mie­den hat­te, doch jetzt be­trat ich es end­lich.

Und ich er­in­ner­te mich.

Von An­fang an hat­te ich tief in mei­nem In­nern ge­wußt, daß der Fa­na­ti­ker, der Da­ve und die an­de­ren er­mor­det hat­te, nicht für al­le Quä­ker stand. Ja­me­thon war kein eis­kal­ter Kil­ler. Ich hat­te ver­sucht, ihn da­zu zu ma­chen, um mei­ne ei­ge­ne Lü­ge zu be­stä­ti­gen – da­mit ich mei­ne Au­gen ver­schlos­sen hal­ten konn­te vor dem einen Men­schen von al­len vier­zehn Wel­ten, des­sen An­blick ich nicht er­trug. Und die­ser ei­ne Mensch war nicht der Grup­pen­füh­rer, der Da­ve und die an­de­ren massa­kriert hat­te, nicht ein­mal Ma­thi­as.

Ich selbst war es.

Ja­me­thon war kein ge­wöhn­li­cher Fa­na­ti­ker, nicht mehr als Ken­sie ein ge­wöhn­li­cher Sol­dat oder Pad­ma ein ge­wöhn­li­cher Phi­lo­soph war. Sie wa­ren mehr als das – und ins­ge­heim hat­te ich das im­mer ge­wußt, tief in mei­nem In­nern, dort, wo ich die­ses Wis­sen igno­rie­ren konn­te. Aus die­sem Grund hat­ten sie nicht auf mei­ne ver­such­ten Ma­ni­pu­la­tio­nen rea­giert und sich nicht wie von mir ge­plant ver­hal­ten. Aus die­sem Grund … ge­nau aus die­sem Grund.

Das hoch ge­le­ge­ne, stei­ni­ge und kal­te Land mei­ner Vi­si­on war nicht nur für die Dor­sai da. Es war für sie al­le da: ein Land, wo die Fet­zen aus Falsch­heit und Il­lu­si­on fort­ge­zerrt wur­den von dem sau­be­ren und küh­len Wind ehr­li­cher Stand­haf­tig­keit und Über­zeu­gung, wo Heu­che­lei da­hin­siech­te und starb und wo nur das le­ben konn­te, was of­fen und rein war.

Für sie war es da – für all je­ne, die das rei­ne We­sen ih­rer Split­ter­kul­tur ver­kör­per­ten. Und die­ses rei­ne We­sen war es, das ih­nen ih­re wirk­li­che Stär­ke ver­lieh. Sie wa­ren jen­seits al­len Zwei­fels – ge­nau das war der Punkt. Und ge­nau das mach­te sie un­be­sieg­bar, nicht in ers­ter Li­nie all die Fä­hig­kei­ten von Kör­per und Geist. Denn ein Mann wie Ken­sie konn­te nie­mals un­ter­wor­fen wer­den. Und ei­ner wie Ja­me­thon wür­de nie sei­nen Glau­ben ver­ra­ten.

Hat­te mir Ja­me­thon selbst das nicht klar und deut­lich ge­sagt? Hat­te er nicht ge­sagt: „Las­sen Sie es mich Ih­nen für mei­ne ei­ge­ne Per­son be­zeu­gen“ und dann hin­zu­ge­fügt, selbst wenn das Uni­ver­sum um ihn her­um ein­stürz­te und sich sein Gott und sei­ne Re­li­gi­on als Täu­schung er­wie­sen, so wür­de sei­ne in­ners­te Über­zeu­gung da­von nicht er­schüt­tert wer­den?

Und so war es auch mit Ken­sie: Auch wenn sich sei­ne Ar­meen um ihn her­um zu­rück­zö­gen und ihn al­lein lie­ßen … Ken­sie wür­de sich nicht von der Stel­le rüh­ren, um sei­nen Pos­ten zu ver­las­sen und sei­ne Pflicht zu ver­nach­läs­si­gen. Er stell­te sich al­lein dem Kampf, zö­gen ihm auch gan­ze Hee­re ent­ge­gen. Denn sie konn­ten ihn zwar tö­ten, aber nie­mals un­ter­wer­fen.

Und auch mit Pad­ma: Selbst wenn al­le sei­ne exo­ti­schen Kal­ku­la­tio­nen und Theo­ri­en von ei­nem Au­gen­blick zum an­de­ren über den Hau­fen ge­wor­fen wur­den – wenn sie sich als falsch und ir­rig er­wie­sen –, es wür­de sei­nen Glau­ben an die vor­wärts ge­rich­te­te Evo­lu­ti­on des mensch­li­chen Geis­tes, der er sein Le­ben ge­wid­met hat­te, nicht ins Wan­ken brin­gen.

Mit Recht be­tra­ten sie das hoch ge­le­ge­ne und stei­ni­ge Land … sie al­le: Dor­sai und Quä­ker und Exo­ten. Und ich war ein­fäl­tig ge­nug ge­we­sen, es eben­falls zu be­tre­ten und zu ver­su­chen, dort ge­gen einen von ih­nen zu kämp­fen. Kein Wun­der, daß ich be­siegt wor­den war – so wie es Ma­thi­as im­mer vor­aus­ge­sagt hat­te. Ich hat­te nie ei­ne Chan­ce ge­habt zu ge­win­nen.

Und so kehr­te ich zu dem trü­ben Tag und dem strö­men­den Re­gen zu­rück. Mei­ne Knie droh­ten, un­ter mei­nem ei­ge­nen Ge­wicht nach­zu­ge­ben; ich war wie ein Stroh­halm, der von ei­ner Sturm­bö ab­ge­knickt wor­den war. Der Re­gen ließ nach, und Pad­ma stütz­te mich. Be­nom­men und er­staunt be­merk­te ich die Kraft sei­ner Hän­de; bei Ja­me­thon war es ähn­lich ge­we­sen.

„Las­sen Sie mich ge­hen“, mur­mel­te ich.

„Wo­hin wür­den Sie ge­hen, Tam?“ frag­te er.

„Ir­gend­wo­hin“, flüs­ter­te ich. „Ich hö­re auf. Ich ver­gra­be mich ir­gend­wo und ver­ges­se das al­les. Ich las­se al­les hin­ter mir und ge­be auf.“ Schließ­lich ge­lang es mir, mei­ne Knie wie­der zu stre­cken.

„So ein­fach ist das nicht“, sag­te Pad­ma und ließ mich los. „Ei­ne ein­mal be­gon­ne­ne Hand­lung ruft ein so­zia­les Echo her­vor, das nie­mals ver­klingt. Die Ur­sa­che kann ih­re Wir­kung nie rück­gän­gig ma­chen. Sie kön­nen nicht ein­fach auf­hö­ren, Tam. Sie kön­nen jetzt nur die Sei­te wech­seln.“

„Die Sei­te?“ fra­ge ich. Der Re­gen um uns her­um ließ nun rasch nach. „Von wel­cher Sei­te spre­chen Sie?“ Ich starr­te ihn wie be­täubt an.

„Von der Sei­te, bei der es sich um die Kraft im Men­schen han­delt, die ge­gen sei­ne ei­ge­ne Ent­wick­lung ge­rich­tet ist“, sag­te Pad­ma. „Die Sei­te, der sich Ihr On­kel ver­schrieb. Und von der evo­lu­tio­nären Sei­te, auf der wir ste­hen.“ Es nie­sel­te jetzt nur noch, und es klar­te auf. Durch die dün­ner wer­den­den Wol­ken si­cker­te mat­tes Son­nen­licht, das die Düs­ter­nis über dem Park­platz, auf dem wir stan­den, ein we­nig wei­ter zu­rück­dräng­te. „Bei­de sind star­ke Win­de, die das Se­gel der mensch­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten so­gar schon dann auf­blä­hen, wenn es noch ge­wo­ben wird. Ich ha­be es Ih­nen vor lan­ger Zeit ein­mal ge­sagt, Tam: Für je­man­den wie Sie gibt es kei­ne an­de­re Mög­lich­keit, als auf das Ent­wick­lungs­mus­ter des einen oder des an­de­ren Weges Druck aus­zuü­ben. Sie kön­nen frei wäh­len – aber Sie sind nicht frei. Ent­schei­den Sie sich al­so ein­fach da­zu, mit der Macht Ih­rer Ein­fluß­nah­me den Wind der Evo­lu­ti­on zu un­ter­stüt­zen, an­statt je­ne Kraft, die sich ihr ent­ge­gen­stemmt.“

Ich schüt­tel­te den Kopf.

„Nein“, mur­mel­te ich. „Es ist sinn­los. Das wis­sen Sie. Sie ha­ben es selbst er­lebt. Ich ha­be Him­mel und Er­de und die Po­li­tik von vier­zehn Wel­ten ge­gen Ja­me­thon in Be­we­gung ge­setzt – und er hat trotz­dem ge­won­nen. Ich kann nichts mehr tun. Las­sen Sie mich nur al­lein.“

„Selbst wenn ich Sie nun in Ru­he lie­ße“, sag­te Pad­ma, „bei den Er­eig­nis­sen wä­re das nicht der Fall. Ma­chen Sie die Au­gen auf, Tam, und se­hen Sie die Din­ge so, wie sie sind. Sie sind längst di­rekt be­trof­fen. Hö­ren Sie.“ Für einen Au­gen­blick er­strahl­ten sei­ne nuß­far­be­nen Au­gen so­gar in dem trü­ben Licht um uns her­um. „Das Mus­ter auf San­ta Ma­ria ist von ei­ner Kraft be­ein­flußt wor­den, die sich in Ge­stalt ei­ner in­di­vi­du­el­len Ein­heit dar­bot, die sich durch einen per­sön­li­chen Ver­lust lei­ten ließ und auf Ge­walt ori­en­tiert war: Sie, Tam.“

Ich ver­such­te er­neut, den Kopf zu schüt­teln, doch ich wuß­te, daß er recht hat­te.

„Sie wa­ren auf San­ta Ma­ria nur auf Ih­re be­wuß­te Ein­fluß­nah­me fi­xiert“, fuhr Pad­ma fort. „Doch das Ge­setz über die Er­hal­tung der Ener­gie hat über­all Gül­tig­keit. Als Ja­me­thon Ih­re Plä­ne ver­ei­tel­te, wur­de da­mit die Kraft nicht zer­stört, die Sie zur Be­ein­flus­sung der Si­tua­ti­on frei­ge­setzt hat­ten. Sie wur­de nur um­ge­wan­delt und brach­te die Ein­heit ei­nes an­de­ren In­di­vi­du­ums in den Mit­tel­punkt des Mus­ters. Ein In­di­vi­du­um, das nun eben­falls durch einen per­sön­li­chen Ver­lust ge­steu­ert wur­de und auf ei­ne ge­walt­sa­me Be­ein­flus­sung des Mus­ters ori­en­tiert war.“

Ich be­feuch­te­te die Lip­pen.

„Wel­ches an­de­re In­di­vi­du­um?“

„Ian Grae­me.“

Ich stand reg­los da und starr­te ihn an.

„Ian fand die drei Mör­der sei­nes Bru­ders, die in ei­nem Ho­tel­zim­mer in Blau­vain un­ter­ge­taucht wa­ren“, sag­te Pad­ma. „Er brach­te sie ei­gen­hän­dig um – und da­mit be­ru­hig­te er die Söld­ner und ver­ei­tel­te die Plä­ne der Blau­en Front, aus der Si­tua­ti­on ir­gend­ei­nen Nut­zen zu zie­hen. Doch dann quit­tier­te Ian den Dienst und kehr­te nach Hau­se zu­rück, nach Dor­sai. Er ist jetzt mit der glei­chen Bit­ter­keit und dem Ge­fühl des Ver­lus­tes er­füllt, wie Sie es wa­ren, als Sie nach San­ta Ma­ria ka­men.“ Pad­ma zö­ger­te. „Er hat nun ein großes Ur­sa­chen­po­ten­ti­al. Wel­che Aus­wir­kun­gen es auf das zu­künf­ti­ge Evo­lu­ti­ons­mus­ter ha­ben wird, bleibt ab­zu­war­ten.“

Er hielt er­neut in­ne und be­ob­ach­te­te mich mit sei­nen fes­seln­den, gelb­brau­nen Au­gen.

„Ver­ste­hen Sie jetzt, Tam“, fuhr er kurz dar­auf fort, „daß sich je­mand wie Sie nicht ein­fach ent­schei­den kann, das Netz aus Ge­scheh­nis­sen nicht mehr zu be­ein­flus­sen? Ich sa­ge Ih­nen, Sie kön­nen nur die Sei­te wech­seln.“ Sein Ton­fall wur­de wei­cher. „Muß ich Sie nun noch dar­an er­in­nern, daß Sie noch im­mer mit ei­ner Kraft er­füllt sind – nur mit ei­ner an­de­ren jetzt? Sie ha­ben die vol­le Wucht der Wir­kung von Ja­me­thons Selbst­auf­op­fe­rung zur Ret­tung sei­ner Män­ner in sich auf­ge­nom­men.“

Sei­ne Wor­te wa­ren wie ein Faust­schlag in mei­ne Ma­gen­gru­be – ein so har­ter Hieb wie der, mit dem ich Ja­nol Ma­rat nie­der­ge­streckt hat­te, als ich aus Ken­sies La­ger auf San­ta Ma­ria ge­flo­hen war. Ich be­gann zu zit­tern – trotz des wär­me­ren und hel­le­ren Son­nen­lichts, das nun zu uns her­ab­si­cker­te.

Es stimm­te. Ich konn­te es nicht ab­strei­ten. Ja­me­thon hat­te sein Le­ben für einen Glau­ben ge­ge­ben, wäh­rend ich mit mei­nem Vor­ha­ben, die Din­ge in die von mir ge­wünsch­te Rich­tung zu len­ken, al­le Glau­bens­sät­ze ver­ra­ten hat­te. Und da­mit hat­te er den har­ten Kern in mei­nem In­nern ge­schmol­zen und ver­än­dert, so wie ein Blitz die Klin­ge des Schwer­tes schmilzt und ver­än­dert, die sich ihm ent­ge­gen­reckt. Ich konn­te nicht ab­strei­ten, was mit mir ge­sche­hen war.

„Es ist sinn­los“, sag­te ich und zit­ter­te noch im­mer. „Es macht kei­nen Un­ter­schied. Ich bin nicht stark ge­nug, um noch et­was zu än­dern. Sie wis­sen doch: Ich ha­be al­les ge­gen Ja­me­thon in Be­we­gung ge­setzt, und er ge­wann den­noch.“

„Aber Ja­me­thon war auf­rich­tig“, sag­te Pad­ma. „Und als Sie ihn be­kämpf­ten, kämpf­ten Sie gleich­zei­tig ge­gen Ihr wah­res Selbst. Se­hen Sie mich an, Tam!“

Ich sah ihn an. Die nuß­far­be­nen Ma­gne­te sei­ner Au­gen pack­ten mich und hiel­ten mich fest.

„Uns er­war­tet noch ei­ne be­stimm­te Auf­ga­be“, sag­te er. „Sie wur­de auf den Exo­ti­schen Wel­ten er­rech­net, und sie ver­an­laß­te mich erst da­zu, hier­her­zu­kom­men. Wis­sen Sie noch, Tam, wie Sie mich in Mark Tor­res Bü­ro be­schul­dig­ten, Sie zu hyp­no­ti­sie­ren?“

Ich nick­te.

„Es war kei­ne Hyp­no­se – je­den­falls nicht ganz“, sag­te er. „Ich ha­be Ih­nen nur ge­hol­fen, einen Ver­bin­dungs­tun­nel zwi­schen Ih­rem be­wuß­ten und un­be­wuß­ten Ich zu öff­nen. Ha­ben Sie den Mut – nach­dem Sie nun er­lebt ha­ben, wo­zu Ja­me­thon fä­hig war –, ge­mein­sam mit mir zu ver­su­chen, ihn er­neut zu öff­nen?“

Sei­ne Wor­te hin­gen schwe­re­los zwi­schen uns. Und ge­fan­gen im Ker­ker des Au­gen­blicks ver­nahm ich die kräf­ti­ge, stolz er­ho­be­ne Stim­me, die im In­nern der Kir­che be­te­te. Ich sah, wie sich die Son­ne be­müh­te, die dün­ner wer­den­den Wol­ken über uns zu durch­drin­gen. Und zur glei­chen Zeit sah ich vor mei­nem geis­ti­gen Au­ge die dunklen Hän­ge des Tals, das mein Selbst war – so wie es Pad­ma an je­nem lan­ge zu­rück­lie­gen­den Tag in der En­zy­klo­pä­die be­schrie­ben hat­te. Sie wa­ren im­mer noch da, hoch und steil; sie eng­ten mich ein und schirm­ten das Son­nen­licht ab. Nur weit von mir war hel­ler Schein, und der Weg, der dort­hin führ­te, war wie ein schma­ler Tun­nel.

Ich dach­te an den Ort des Blit­zes, den ich da­mals ge­se­hen hat­te, als Pad­ma den Fin­ger auf mich ge­rich­tet hat­te. Und so schwach und ge­schla­gen und be­siegt, wie ich mich nun fühl­te, er­füll­te mich die Vor­stel­lung, die­se Zo­ne des Kamp­fes er­neut auf­zu­su­chen, mit ei­ner mü­den Hoff­nungs­lo­sig­keit. Ich war nicht mehr stark ge­nug, um dem Blitz noch ein­mal ge­gen­über­zu­tre­ten. Viel­leicht war ich es nie.

„Denn er war ein Sol­dat sei­nes Vol­kes, der Jün­ger des Herrn und ein Sol­dat Got­tes.“ Die ein­zel­ne Stim­me, die in der Kir­che das Ge­bet sprach, drang lei­se an mei­ne Oh­ren. „Und er ver­sag­te nie und war im­mer ein treu­er Die­ner des Herrn, un­se­res Herrn, des Herrn al­ler Stär­ke und Ge­rech­tig­keit und Recht­schaf­fen­heit. Des­halb mö­ge er nun von uns ge­hen und in die Rei­hen je­ner ein­tre­ten, die ih­re sterb­li­chen Hül­len ab­ge­streift ha­ben und vom Herrn ge­seg­net und will­kom­men ge­hei­ßen wer­den.“

Ich hör­te die­se Wor­te – und plötz­lich hall­te mein In­nerstes wi­der in dem al­lesum­fas­sen­den Ge­fühl ei­ner Heim­kehr – ei­ner end­gül­ti­gen Rück­kehr nach ei­nem ewi­gen Zu­hau­se – und in dem Echo ei­nes un­er­schüt­ter­li­chen Ver­trau­ens in den Glau­ben mei­ner Vor­vä­ter. Die Rei­hen je­ner, die nie­mals wan­ken, schlos­sen sich trös­tend um mich. Und ich, der ich eben­falls nie ge­wankt hat­te, trat hin­zu und mar­schier­te vor­wärts mit ih­nen. In die­sem Mo­ment – in die­sem einen Au­gen­blick – spür­te ich das, was Ja­me­thon emp­fun­den ha­ben muß­te, als er mir auf San­ta Ma­ria ge­gen­über­stand. Und sei­ner Ent­schei­dung für Le­ben oder Tod. Nur ei­ne ein­zi­ge Se­kun­de lang spür­te ich es, doch das reicht völ­lig aus.

„Fan­gen Sie an“, sag­te ich zu Pad­ma, und ich hör­te mei­ne ei­ge­ne Stim­me wie aus wei­ter Fer­ne.

Ich sah, wie er den Fin­ger auf mich rich­te­te.

Dun­kel­heit hüll­te mich ein – Dun­kel­heit und Wut. Ich be­fand mich im Land des Blit­zes, doch hier wohn­te nicht mehr nur der Blitz al­lein, son­dern auch trü­be Düs­ter­nis und Wol­ken und Sturm und Don­ner. Die wü­ten­den Ge­wal­ten um mich her­um schleu­der­ten und wir­bel­ten mich um­her, fes­sel­ten mich an den Bo­den, und ich ver­such­te mit al­ler Kraft, in die Hö­he zu kom­men, mir den Weg frei­zu­kämp­fen in die hel­len und ru­hi­gen Zo­nen über den Ge­wit­ter­wol­ken. Doch es wa­ren mei­ne ei­ge­nen An­stren­gun­gen, die mich zu Bo­den stür­zen lie­ßen, mich wild um­her­wir­bel­ten und nach un­ten preß­ten, an­statt em­por­zu­he­ben – und end­lich be­griff ich.

Denn der Sturm weh­te in mei­nem In­nern; ich hat­te ihn selbst er­schaf­fen. Es war das wü­ten­de To­sen in mir, das Ge­fü­ge aus Ge­walt und Ra­che und Zer­stö­rung, das ich in all den Jah­ren selbst kon­stru­iert hat­te. Und so, wie ich die Stär­ken der an­de­ren ge­gen sie selbst ge­rich­tet hat­te, so wand­te ich nun mei­ne ei­ge­ne Stär­ke ge­gen mich. Sie trieb mich tiefer und im­mer tiefer hin­ab, im­mer wei­ter in mei­ne ei­ge­ne Dun­kel­heit, bis letzt­end­lich al­les Licht er­lö­schen woll­te.

Ich stürz­te hin­ab, denn mein in­ne­rer Sturm war stär­ker als mein Wil­le. Ich fiel wei­ter in die fins­te­ren Tie­fen mei­ner See­le. Doch als die Dun­kel­heit mich völ­lig ein­hüll­te und ich auf­ge­ben woll­te, stell­te ich fest, daß ich es nicht konn­te. Et­was an­de­res in mir ließ es nicht zu. Es wehr­te sich noch im­mer und stemm­te sich den schwar­zen Böen ent­ge­gen. Und dann wuß­te ich auch, was es war.

Es war das, was Ma­thi­as nie hat­te eli­mi­nie­ren kön­nen, als ich noch ein Kind ge­we­sen war. Es war das gan­ze Er­be der Er­de und des vor­wärts stre­ben­den Men­schen. Es war Leo­ni­das{6} mit sei­nen drei­hun­dert Krie­gern bei den Ther­mo­py­len. Es war der Aus­zug der Is­rae­li­ten in die Wüs­te und ih­re Durch­que­rung des Ro­ten Mee­res. Es war das Par­the­non auf der Akro­po­lis, der wei­ße Schim­mer über Athen.

Das war es – der un­nach­gie­bi­ge Geist al­ler Men­schen –, was in mir jetzt nicht nach­ge­ben woll­te. In mei­nem hin und her ge­zerr­ten, sturm­ge­peitsch­ten Geist, der in der Fins­ter­nis er­trank, reck­te sich plötz­lich et­was mit un­bän­di­ger Freu­de em­por. Denn ich wuß­te mit ei­nem­mal, daß es auch für mich da war – je­nes hoch ge­le­ge­ne und stei­ni­ge Land, in dem die Luft rein war und al­le Fet­zen aus Heu­che­lei und Schwin­del fort­ge­ris­sen wur­den.

Ich hat­te Ja­me­thon auf dem Ge­biet sei­ner Stär­ke an­ge­grif­fen – aus den in­ne­ren Stel­lun­gen mei­ner ei­ge­nen Schwä­che. Das hat­te Pad­ma da­mit ge­meint, als er sag­te, ich hät­te mich so­gar in dem Au­gen­blick selbst be­kämpft, als ich ge­gen Ja­me­thon an­trat. Aus die­sem Grund hat­te ich ver­lo­ren, denn ich hat­te mein wan­kel­mü­ti­ges Ver­lan­gen ge­gen sei­nen un­er­schüt­ter­li­chen Glau­ben ge­stellt. Aber mei­ne Nie­der­la­ge be­deu­te­te nicht, daß ich kein Ge­biet in­ne­rer Stär­ke be­saß. Es war da. Es war im­mer da, tief in mir ver­bor­gen, die gan­ze Zeit über!

Jetzt sah ich es ganz deut­lich. Und es er­schi­en mir nun wie das Sie­ges­ge­läut von Glo­cken, als ich er­neut die rau­he Stim­me Mark Tor­res ver­nahm, die tri­um­phie­rend zwi­schen mei­nen Ge­dan­ken er­scholl. Und auch die Stim­me von Li­sa, die mich, wie ich nun be­griff, bes­ser als ich selbst ver­stan­den und mich nie auf­ge­ge­ben hat­te. Li­sa. Und als ich wie­der an sie dach­te, hör­te ich sie al­le.

All die Mil­lio­nen und Mil­li­ar­den sum­men­der Stim­men – die Stim­men al­ler Men­schen, seit der Ho­mo sa­pi­ens sich das ers­te­mal er­ho­ben hat­te und fort­an auf­recht ge­gan­gen war. Sie um­ga­ben mich er­neut, wie auch da­mals am Tran­sit­punkt des In­dex­zim­mers der Letz­ten En­zy­klo­pä­die. Und sie um­ring­ten mich wie Schwin­gen, die mich un­be­sieg­bar mach­ten und em­por­tru­gen, durch die trü­be Fins­ter­nis hin­auf. Sie ga­ben mir einen Mut, der der Vet­ter von Ken­sies Mut war, ein Ver­trau­en, das der Va­ter von Ja­me­thons Ver­trau­en war, ein Be­grei­fen, das der Bru­der von Pad­mas Be­grei­fen war.

All das spül­te nun die Furcht und die Miß­gunst fort, die mir Ma­thi­as ge­gen­über den Neu­en Wel­ten ein­ge­pflanzt hat­te, ein für al­le­mal. End­lich sah ich es ganz deut­lich vor mir. Sie ver­kör­per­ten nur ei­ne ein­zi­ge We­sens­art, doch ich ver­ein­te das gan­ze Spek­trum in mir. Als Mensch der Er­de, der ich war, ge­hör­te ich zum Ab­stam­mungs­fun­da­ment, zum Stamm des Stamm­baums. Ich war Teil al­ler Men­schen auf den Neu­en Wel­ten. Und dort gab es nicht einen ein­zi­gen, der nicht ein Echo sei­nes We­sens in mir hät­te fin­den kön­nen.

So durch­brach ich schließ­lich die letz­te Schicht der Dun­kel­heit und stieß ins Licht vor – zu je­nem Ort, in dem mein wah­rer Blitz glüh­te, in die end­lo­se Wei­te, wo der wirk­li­che Kampf statt­fand: der Kampf auf­rech­ter Men­schen ge­gen das ur­al­te und frem­de Dun­kel, das uns für al­le Zei­ten dar­an hin­dern will, mehr zu wer­den als Tie­re. Und in der Fer­ne, wie am En­de ei­nes lan­gen Tun­nels, sah ich Pad­ma auf dem Park­platz ste­hen, im hel­ler wer­den­den Licht und nach­las­sen­den Re­gen. Er sprach zu mir.

„Jetzt ver­ste­hen Sie“, sag­te er, „warum die En­zy­klo­pä­die Sie braucht. Nur Mark Tor­re hat sie so weit brin­gen kön­nen. Und nur Sie kön­nen die Auf­ga­be be­en­den, denn die große Mehr­heit der ir­di­schen Be­völ­ke­rung kann das Bild der Zu­kunft noch nicht se­hen, das mit ih­rer Fer­tig­stel­lung zu­sam­men­hängt. Sie ha­ben die Kluft zwi­schen den Split­ter­kul­tu­ren und den Men­schen der Er­de in sich selbst über­brückt; Sie kön­nen die En­zy­klo­pä­die nach der Vi­si­on ge­stal­ten, die Sie jetzt se­hen, so daß nach ih­rer Vollen­dung auch je­ne ver­ste­hen, die die­ses Bild bis jetzt noch nicht er­ken­nen. Und da­mit le­gen Sie den Grund­stein für die Neu­for­mung, die be­ginnt, wenn die Men­schen der Split­ter­kul­tu­ren zu­rück­keh­ren, um sich wie­der mit dem Ab­stam­mungs­fun­da­ment auf der Er­de zu ver­schmel­zen – zu ei­nem neu­en, ent­wi­ckel­te­ren Typ des Men­schen.“

Sein mäch­ti­ger und fes­seln­der Blick schi­en et­was wei­cher und sanf­ter zu wer­den in dem auf­kla­ren­den Licht. Sein Lä­cheln nahm einen trau­ri­gen Zug an.

„Sie le­ben, um mehr da­von zu se­hen als ich. Auf Wie­der­se­hen, Tam.“

In Wirk­lich­keit aber wür­de ich sie so ge­schickt wie mög­lich di­ri­gie­ren. Und des­halb brauch­te ich mich nicht wie Tor­re der läs­ti­gen Not­wen­dig­keit un­ter­wer­fen, mich vor Ver­rück­ten wie je­nem zu schüt­zen, der ihn er­mor­det hat­te. Ich wür­de un­ein­ge­schränkt auf der Er­de um­her­rei­sen kön­nen, oh­ne da­bei die Kon­trol­le über die En­zy­klo­pä­die zu ver­lie­ren; und auf die­se Wei­se konn­te ich die Be­mü­hun­gen je­ner er­ken­nen und zu­nich­te ma­chen, die ver­su­chen moch­ten, da­ge­gen zu ar­bei­ten. Ich konn­te be­reits se­hen, wie ich das al­les in die Tat um­set­zen wür­de.

Doch Pad­ma wand­te sich ab, um mich zu ver­las­sen. Ich konn­te ihn nicht ein­fach so ge­hen las­sen. Ich muß­te mei­ne Ge­dan­ken ge­walt­sam von der Zu­kunfts­vi­si­on lö­sen und kehr­te in die Ge­gen­wart zu­rück, den nach­las­sen­den Re­gen und das hel­ler wer­den­de Ta­ges­licht.

„War­ten Sie“, sag­te ich. Er blieb ste­hen und dreh­te sich wie­der um. Es fiel mir jetzt schwer zu sa­gen, daß ich be­grif­fen hat­te. „Sie …“ Mein Hals war tro­cken. „Sie ha­ben nicht auf­ge­ge­ben. Sie ha­ben die gan­ze Zeit über an mich ge­glaubt.“

„Nein“, ant­wor­te­te er. Ich sah ihn ver­wirrt an, aber er schüt­tel­te den Kopf.

„Aber Sie … hiel­ten zu mir …“ stam­mel­te ich und starr­te ihn an.

„Nein, ich nicht“, sag­te er. „Nie­mand von uns. Nur Li­sa. Sie hat Sie nie auf­ge­ge­ben, von der ers­ten Be­geg­nung in Mark Tor­res Bü­ro an. Sie sag­te uns, sie hät­te et­was ge­spürt, so et­was wie ein Fun­ken in Ih­nen … als Sie sich mit ihr un­ter­hiel­ten, noch be­vor Sie den Tran­sit­raum er­reich­ten. Sie glaub­te auch noch an Sie, nach­dem Sie ihr bei der Par­ty einen Korb ge­ge­ben hat­ten. Und als wir auf Ma­ra dar­an gin­gen, Sie zu hei­len, be­stand sie dar­auf, in das Ver­fah­ren in­te­griert zu wer­den, so daß wir sie emo­tio­nal an Sie bin­den konn­ten.“

„Bin­den.“ Das Wort er­gab kei­nen Sinn.

„Wäh­rend des glei­chen Ver­fah­rens, mit dem wir Sie heil­ten, fes­tig­ten wir ih­re emo­tio­na­le Fi­xie­rung auf Sie. Für Sie mach­te das kei­nen Un­ter­schied, aber es band Li­sa un­wi­der­ruf­lich an Sie. Wenn sie Sie nun je­mals ver­lie­ren soll­te, dann lit­te sie ge­nau­so dar­an – oder viel­leicht noch mehr – wie Ian Grae­me an dem Ver­lust sei­nes Spie­gel­bil­des, an dem Tod sei­nes Zwil­lings­bru­ders Ken­sie.“

Er schwieg und blick­te mich an. Doch ich war noch im­mer zu schwer­fäl­lig.

„Ich ver­ste­he … noch im­mer nicht“, sag­te ich. „Sie sa­gen, es hät­te mich nicht be­ein­flußt, was Sie mit ihr mach­ten. Wel­chen Nut­zen hat­te es dann …?“

„Kei­nen, so­weit wir es da­mals be­rech­nen oder bis heu­te her­aus­fin­den konn­ten. Wenn Li­sa an Sie ge­bun­den war, dann wa­ren Sie es na­tür­lich auch an Li­sa. Aber es war so, als näh­me man einen Fa­den und fes­sel­te ei­ne Nach­ti­gall an den Fin­ger ei­nes Rie­sen – wenn man das re­la­ti­ve Aus­maß Ih­res Be­ein­flus­sungs­po­ten­ti­als auf das Ent­wick­lungs­mus­ter mit dem Li­sas ver­gleicht. Nur Li­sa selbst glaub­te, es sei viel­leicht nütz­lich.“

Er wand­te sich um.

„Auf Wie­der­se­hen, Tam“, sag­te er. Der da­hin­schwe­ben­de, neb­li­ge Dunst lös­te sich all­mäh­lich auf, und ich sah ihn auf die Kir­che zu­ge­hen, aus der die Stim­me des ein­zel­nen Spre­chers drang, der nun die Num­mer des letz­ten Lie­des auf­rief.

Er ließ mich völ­lig durch­ein­an­der zu­rück. Doch dann lach­te ich plötz­lich laut auf, denn ich be­griff mit ei­nem­mal, daß ich ihm über­le­gen war. Er hat­te nicht ein­mal mit all sei­nen on­to­ge­ne­ti­schen Kal­ku­la­tio­nen her­aus­fin­den kön­nen, warum ich da­durch ge­ret­tet wer­den konn­te, in­dem sich Li­sa an mich band.

Als ich dies nun be­griff, dreh­te sich die Kom­paß­na­del mei­nes Le­bens mit ei­nem Ruck her­um – um hun­dert­acht­zig Grad. Und plötz­lich sah ich al­les in ei­nem ganz neu­en Licht, ganz klar und deut­lich und ein­fach. Es än­der­te sich gar nichts für mich; mein Ver­lan­gen, mein Ehr­geiz und mein An­trieb – al­les blieb wie es war. Mit dem einen Un­ter­schied, daß ich nun ei­ne völ­li­ge Kehrt­wen­dung voll­führ­te. Er­neut lach­te ich laut auf: Es war so ein­fach, so voll­kom­men klar. Denn nun ver­stand ich, daß die ei­ne Ziel­set­zung nur die Um­keh­rung der an­de­ren war.

 

ZER­STÖ­REN : AUF­BAU­EN

 

AUF­BAU­EN – die schlich­te und ein­fa­che Ant­wort, nach der ich all die Jah­re ge­sucht hat­te, um Ma­thi­as und sei­ner Lee­re stand­zu­hal­ten. Da­zu war ich ge­bo­ren. Das war es, was vom Par­the­non und der En­zy­klo­pä­die ver­kör­pert wur­de – und von der gan­zen Mensch­heit selbst.

Ich war wie wir al­le, selbst Ma­thi­as, da­zu ge­bo­ren, auf­zu­bau­en und nicht zu zer­schmet­tern, ein Schöp­fer zu sein und kein Zer­stö­rer – wenn wir nicht vom rech­ten Weg ab­ka­men. Jetzt war ich wie ei­ne neue und rei­ne Sai­te, die von al­len Ver­un­rei­ni­gun­gen ge­säu­bert wor­den war – je­de Fa­ser, je­des ein­zel­ne Atom mei­nes We­sens, er­klang in dem kla­ren und un­ver­än­der­ba­ren Ton, der der ein­zi­ge und wah­re Sinn des Le­bens war. Be­nom­men und mü­de wand­te ich mich schließ­lich von der Kir­che ab, ging zu mei­nem Wa­gen und stieg ein. In­zwi­schen hat­te es fast ganz auf­ge­hört zu reg­nen, und der Him­mel klar­te ra­scher auf. Die dün­nen Ne­bel­sch­lie­ren trie­ben aus­ein­an­der und wirk­ten nun ir­gend­wie freund­li­cher. Und die Luft war frisch und be­le­bend.

Ich öff­ne­te die Wa­gen­fens­ter, als ich vom Park­platz fuhr und auf die lan­ge Stra­ße ein­bog, die zum Raum­ha­fen führ­te. Und durch das of­fe­ne Fens­ter ne­ben mir hör­te ich, wie die Ge­mein­de im In­nern der Kir­che das letz­te Lied an­stimm­te.

Es war die Kampf­hym­ne der Quä­ker­sol­da­ten, die sie san­gen. Und als ich die Stra­ße hin­un­ter­fuhr, fort von der Kir­che, da schie­nen mir die Stim­men nach­zu­we­hen, oh­ne da­bei lei­ser zu wer­den. Sie klan­gen nicht düs­ter und kum­mer­voll, um ei­nem To­ten ein trau­ri­ges Le­be­wohl zu sa­gen, son­dern ju­belnd und tri­um­phie­rend – wie ein Marsch­lied auf den Lip­pen je­ner Sol­da­ten, die am Mor­gen ei­nes neu­en Ta­ges ins Feld zo­gen.

 

Fra­ge nicht, Sol­dat – nicht jetzt noch ir­gend­wann!

In wel­chen Krieg dein Ban­ner dich füh­ren mag!

 

Der Ge­sang folg­te mir, als ich fort­fuhr. Und als ich mich wei­ter von der Kir­che ent­fern­te, schie­nen die Stim­men mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen, bis sie schließ­lich wie ei­ne ein­zi­ge klan­gen, die laut und kräf­tig sang. Vor mir brach die Wol­ken­de­cke auf. Die Son­ne schi­en hin­durch, und die Fle­cken aus blau­em Him­mel wa­ren wie glän­zen­de, im Wind flat­tern­de Fah­nen.

Ich be­trach­te­te die­se ein­zel­nen Fle­cken, als ich mich dem Be­reich nä­her­te, wo sie sich schließ­lich ver­ein­ten und al­le Wol­ken ver­dräng­ten. Und noch ei­ne gan­ze Zeit­lang lausch­te ich dem Ge­sang hin­ter mir, wäh­rend ich dem Raum­ha­fen und dem Raum­schiff zur Er­de ent­ge­gen­fuhr. Und Li­sa, die dort im Son­nen­licht auf mich war­ten wür­de.