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Es war ein echter Konflikt.
Was ich an jenem Ort entdeckt hatte, wo mich die Blitze umloderten, begann in meinem Bewußtsein zu arbeiten. Doch fast gleichzeitig wurde diese neue, schärfere Art der Wahrnehmung in mir unterbrochen, als ich mir der Rolle bewußt wurde, die ich in dieser Situation spielte.
Eileen warf mir aus blassem Gesicht einen kurzen Blick zu, sobald sie mich zu sehen bekam, doch dann schaute sie wieder unverwandt zu Mathias hinüber, der gelassen dasaß. Sein ausdrucksloses, kantiges Gesicht mit den buschigen Brauen und dem dichten Haar, das immer noch gleichmäßig schwarz war, obwohl er damals schon ein hoher Fünfziger war, wirkte klar und reserviert wie immer. Auch er schenkte mir einen kurzen Blick, doch nur wie von ungefähr, bevor er sich wieder Eileen zuwandte und ihrem aufgeregten Blick begegnete.
„Ich wollte nur sagen“, sprach er zu ihr, „daß ich nicht weiß, warum du mich fragst. Ich habe weder dir noch Tam je etwas in den Weg gelegt. Tu, was du willst.“ Seine Finger schlossen sich wieder um das Buch, das aufgeschlagen mit dem Deckel nach oben auf seinen Knien lag, als wollte er in seiner Lektüre fortfahren.
„Sag mir, was ich tun soll!“ rief Eileen. Sie war den Tränen nahe, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Ich sehe keinen Grund, warum ich dir etwas raten sollte“, sagte Mathias wie von ferne. „Was du auch tust – es macht keinem was aus, weder dir noch mir, noch diesem jungen Mann da …“ Er brach ab und wandte sich an mich. „Oh, Tam, Eileen hat vergessen, dich vorzustellen. Unser Besuch ist Mr. Jamethon Black von Harmonie.“
„Gruppenführer Black“, sagte der junge Mann, indem er mir sein schmales, ausdrucksloses Gesicht zuwandte. „Ich bin Attache.“
Nun wußte ich endlich, wo er herkam. Er stammte von einer dieser Welten, die die Bewohner der anderen Welten mit einer Art Galgenhumor als die Freundlichen bezeichneten, einer dieser religiösen, spartanischen Heloten, die jene Welten bevölkerten. Mir kam es stets befremdlich vor, daß aus den Hunderten verschiedener Gesellschaftsformen, die auf den Neuen Welten Fuß gefaßt hatten, eine Gesellschaft religiöser Fanatiker hervorgegangen war, daß sich gleichzeitig mit den militärisch ausgerichteten Bewohnern von Newton und Venus eine Splitterkultur dieser Art entwickeln konnte, um als menschliche Kolonie unter all den Sternen zu blühen und zu gedeihen.
Und das waren sie auch, eine besondere Splitterkultur. Nicht etwa besondere Soldaten, denn die anderen zwölf Welten wußten über sie alles andere zu berichten als das. Die Dorsai waren Soldaten – Krieger bis in die Knochen. Die Quäker aber waren Gläubige und Fanatiker – grimmige Fanatiker in härenen Kutten –, die sich selbst an andere verkauften, weil ihre an Ressourcen arme Welt sonst nichts zu bieten hatte, um ihre Verträge zu erfüllen und jene Spezialisten von anderen Planeten anzuheuern, die sie so notwendig brauchten.
Die Nachfrage nach Evangelisten war ziemlich gering – doch dies war alles, was die Quäker von ihren kargen, steinigen Äckern ernten konnten. Aber sie konnten schießen und Befehle befolgen – auch wenn es um Leben oder Tod ging. Obendrein waren sie billig. Ihr Ältester Strahlender, Vorsitzender des Kirchenrats, der Harmonie und Eintracht regierte, konnte, was Söldner betraf, jede Regierung unterbieten. Nur durfte man nicht besonders wählerisch sein, was die militärische Ausbildung dieser Truppen betraf.
Die Dorsai dagegen waren waschechte Söldner und Krieger. Ihre Waffen gehorchten ihnen wie zahme Hunde und paßten wie Handschuhe in ihre Hand. Der gewöhnliche Soldat der Freundlichen aber faßte eine Waffe an, wie man eine Axt oder eine Hacke anfaßt – als ein Werkzeug, das man für sein Volk und für seine Kirche schwingt.
Darum hieß es auch: Die Dorsai liefern die Soldaten für die vierzehn Welten, die Quäker aber nur Kanonenfutter.
Doch machte ich mir damals darüber keine Gedanken. In diesem Augenblick reagierte ich auf Jamethon Black nur dadurch, daß ich ihn erkannte. Aus der dunklen Erscheinung seines Wesens, aus seiner kühlen Art, aus der Distanz und der undurchdringlichen Verhaltensweise, die mich etwas an Padma erinnerte, schloß ich auch ohne die einführenden Worte meines Onkels auf eine höhere Spezies, auf einen Ranghöheren der Neuen Welten. Einer von jenen, wie uns Mathias stets zu beweisen versuchte, mit denen ein Erdenmensch nicht konkurrieren kann. Doch die Wachsamkeit, die von meinem jüngsten Erlebnis in der Enzyklopädie herrührte, tauchte jetzt wieder in mir auf und erfüllte mich mit der gleichen dunklen inneren Freude, die mir nahelegte, daß es auch noch andere Möglichkeiten gab.
„… Gruppenführer Black“, sagte Mathias, „hat einen Abendkurs in Erdgeschichte absolviert – den gleichen Kurs wie Eileen – an der Universität von Genf. Er und Eileen haben sich vor etwa einem Monat kennengelernt. Nun meint deine Schwester, daß sie ihn heiraten möchte und mit ihm nach Harmonie ziehen will, wenn er Ende dieser Woche wieder in seine Heimat zurückkehrt.“
Mathias’ Blick wanderte zu Eileen hinüber.
„Nun habe ich ihr gesagt, daß es nur an ihr liegt“, schloß er.
„Aber ich möchte, daß mir jemand hilft – daß mir jemand beisteht und mir sagt, was richtig ist!“ rief Eileen kläglich aus.
Mathias aber schüttelte leise den Kopf.
„Ich habe dir bereits gesagt“, verkündete er mit seiner ruhigen, gleichgültigen Stimme, „daß es da nichts zu entscheiden gibt. Eine solche Entscheidung wäre absolut belanglos. Folge diesem Mann – oder auch nicht. Letztlich macht es weder dir noch irgendeinem anderen etwas aus. Du kannst dich an dem absurden Gedanken festklammern, daß jede Entscheidung deinerseits den Lauf der Dinge zu ändern vermag. Ich bin da anderer Meinung – und ebenso, wie ich dir deinen freien Willen und deine Entscheidungsfreiheit einräume, bestehe ich meinerseits darauf, mich nicht zu binden und mich in einer solchen Farce in keiner Weise zu engagieren.“
Er sagte es, nahm sein Buch zur Hand und tat so, als wollte er seine Lektüre wieder aufnehmen.
Über Eileens Gesicht rannen Tränen.
„Aber ich weiß nicht – ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!“ wiederholte sie beharrlich.
„Dann laß es bleiben“, sagte der Onkel und blätterte eine Seite in seinem Buch um. „Das ist die einzige zivilisierte Art, um ein Problem zu lösen.“
Sie stand in Tränen aufgelöst da, und Jamethon Black redete auf sie ein.
„Eileen“, sagte er, während sie sich ihm zuwandte. Er sprach mit leiser, zarter, ruhiger Stimme. „Willst du mich heiraten und mit mir auf Harmonie leben?“
„Oh ja, Jamie!“ sagte sie leidenschaftlich. „Ja – und wie gern!“
Er wartete, aber sie ging nicht auf ihn zu, dafür rief sie wiederum leidenschaftlich aus:
„Ich bin nicht sicher, ob es richtig ist! Merkst du denn nicht, Jamie, daß ich sicher sein muß, ob ich auch richtig handle? Ich aber weiß es nicht – ich kenne mich einfach nicht aus!“
Sie wirbelte herum und schaute mich an.
„Tam!“ sagte sie. „Was soll ich machen? Soll ich gehen?“
Ihr plötzlicher Aufruf klang in meinen Ohren wie das Echo jener Stimmen, die im Indexraum auf mich eingeredet hatten. Und ebenso plötzlich schienen sich die Bibliothek, in der ich stand, und die Szene auf merkwürdige Weise in die Länge und Breite zu ziehen. Die hohen Bücherwände, meine in Tränen aufgelöste Schwester, die mich um Hilfe bat, der stille junge Mann in Schwarz – und mein Onkel, in seine Lektüre vertieft, das sanfte Licht über seinem Haupt, das von den Regalen hinter seinem Rücken kam, erschienen mir wie eine Art Zauberinsel, losgelöst von allen menschlichen Verpflichtungen und Problemen – eine Insel, die in eine andere, fremde Dimension zu entgleiten schien.
Mir war, als könnte ich gleichzeitig durch sie und um sie herumblicken. Und plötzlich glaubte ich meinen Onkel zu verstehen, so wie ich ihn noch nie verstanden hatte, auf einmal wußte ich, daß er, obwohl er zu lesen vorgab, längst entschieden hatte, wie ich auf Eileens Frage reagieren sollte.
. Wenn er zu meiner Schwester gejagt hätte: „Bleib hier!“, hätte ich sie vielleicht mit Gewalt aus diesem Haus entführt. Er wußte, daß ich instinktiv alle seine Entscheidungen ablehnen würde. Also unternahm er nichts, um mir keine Angriffsfläche zu bieten. Er hatte sich auf seine teuflische (oder göttliche) Gleichmut zurückgezogen, wobei er mir die Entscheidung überließ.
Doch diesmal hatte er mich unterschätzt. Er hatte die Veränderung nicht erkannt, die in mir vorgegangen war, mein neues Wissen, das mir den Weg wies. Für ihn war das Schlagwort ZERSTÖREN nichts weiter als eine hohle Nuß, eine leere Schale, in die er sich zurückziehen konnte. Doch jetzt, wie im Fieber, konnte ich weiterblicken – und ich erkannte, daß sich mir hier eine Waffe bot, die ich selbst gegen diese überlegenen Dämonen der Neuen Welten kehren konnte.
Ich schaute zu Jamethon Black hinüber, aber ich war nicht mehr von ihm beeindruckt, ebensowenig, wie mich Padma zuletzt beeindrucken konnte. Im Gegenteil, ich konnte es kaum abwarten, um meine Kräfte mit den seinen zu messen.
„Nein“, sagte ich zu Eileen, „ich glaube nicht, daß du mit ihm gehen solltest.“
Sie starrte mich an, ich aber merkte, daß sie genauso argumentiert hatte, unbewußt zwar, wie mein Onkel, daß ich nämlich aufhören sollte, ihr das ausreden zu wollen, was ihr Herz sich wünschte. Ich aber hatte sie bereits losgeeist und fuhr fort, meine Argumente an jene Dinge zu verankern, an die sie glaubte, indem ich meine Worte sorgfältig wählte.
Es fiel mir nicht schwer, die passenden Worte zu finden.
„Harmonie ist nichts für dich“, sagte ich mild. „Du weißt nur zu gut, wie anders die Leute dort sind. Du wärst dort fehl am Platze. Du könntest dich an sie und ihre Art nicht gewöhnen. Außerdem ist dieser Mann Gruppenführer.“ Ich versuchte, Jamethon Black einen freundlichen Blick zu schenken, er aber erwiderte meinen Blick so gleichgültig und kalt wie die Schneide einer Axt, ohne die leisesten Anzeichen, mich günstig stimmen zu wollen.
„Weißt du, was das auf Harmonie bedeutet?“ fragte ich. „Er ist Offizier in ihrer Armee. Sein Vertrag kann jeden Augenblick verkauft werden, er kann dich jede Stunde verlassen. Man könnte ihn an Orte versetzen, wohin du ihm nicht folgen kannst. Vielleicht würde er jahrelang nicht zurückkommen – vielleicht überhaupt nicht mehr, wenn er fällt, was durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Willst du dich darauf einlassen?“ Dann setzte ich brutal hinzu: „Bist du stark genug, Eileen, um eine solche seelische Belastung zu verkraften? Ich kenne dich von Geburt auf und wage daran zu zweifeln. Du würdest nicht nur dich selbst, sondern auch diesen Mann im Stich lassen.“
Ich hielt inne. Mein Onkel hatte die ganze Zeit nicht von seinem Buch aufgeblickt und tat es auch diesmal nicht. Doch mir war – und das erfüllte mich mit heimlicher Genugtuung –, als zitterten seine Hände, die das Buch umklammert hielten, in einer Gefühlsregung, die er stets geleugnet hatte.
Eileen hatte mich die ganze Zeit, während ich sprach, ungläubig angestarrt. Jetzt ließ sie einen kleinen Seufzer hören und richtete sich auf, wobei ihr Blick zu Jamethon Black hinüberwanderte.
Sie sagte kein Wort, aber dieser Blick allein genügte. Ich beobachtete auch ihn, um vielleicht ein verräterisches Zeichen einer Gefühlsregung zu entdecken, doch nur ein kleiner, trauriger Schatten huschte über sein Gesicht. Er trat zwei Schritte auf sie zu, bis er fast an ihrer Seite stand. Ich machte mich bereit einzuschreiten, wenn nötig, um meiner Meinung Nachdruck zu verleihen. Doch er sprach nur zu ihr, sehr mild, in jenem etwas ordinären Idiom, dessen sich, wie ich aus meinen Studien wußte, diese Leute unter sich bedienten, die ich aber nie vorher vernommen hatte.
„Du willst also nicht mit mir kommen, Eileen?“ fragte er.
Sie erbebte wie eine schwankende Pflanze bei herannahenden schweren Schritten, wie eine Pflanze, die nicht fest im Boden verwurzelt ist, und wandte sich von ihm ab.
„Ich kann nicht, Jamie“, flüsterte sie. „Du hast doch gehört, was Tam gesagt hat. Es ist wahr. Ich würde dich im Stich lassen.“
„Das ist nicht wahr“, sagte er im gleichen leisen Tonfall. „Sag nicht, daß du es nicht kannst. Sag, daß du nicht willst, und ich gehe.“
Er wartete. Aber sie schaute ihn nicht an und mied seinen Blick. Dann, schließlich, schüttelte sie den Kopf.
Er holte tief Luft. Er hatte weder Mathias noch mich angeblickt, seitdem ich aufgehört hatte zu sprechen, und auch jetzt würdigte er uns keines Blickes. Ohne auch das geringste Anzeichen von Schmerz oder Wut wandte er sich ab und verließ leise die Bibliothek, ging aus dem Haus und entschwand den Blicken meiner Schwester für immer.
Eileen drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Zimmer. Ich aber schaute auf Mathias. Er blätterte eine Seite in seinem Buch um, ohne mich dabei anzusehen. Und nie erwähnte er jemals diesen Vorfall, noch verlor er je ein Wort über Jamethon Black.
Eileen übrigens auch nicht.
Doch kaum ein halbes Jahr später unterzeichnete sie ihren Vertrag für Cassida und wurde auf jene Welt versetzt. Wenige Monate nach ihrer Ankunft heiratete sie einen jungen Mann, einen Einheimischen mit Namen David Long Hall. Weder Mathias noch ich erfuhren etwas davon. Die Nachricht erreichte uns mehrere Monate nach der Hochzeit, aber aus anderer Quelle. Sie selbst schrieb keine Zeile.
Aber zu jener Zeit kümmerte ich mich bereits ebensowenig um sie wie Mathias. Der Erfolg, den ich bei Jamethon Black und bei meiner Schwester errungen hatte, als wir seinerzeit in der Bibliothek versammelt waren, hatte mir jenen Weg gezeigt, den ich selbst einschlagen wollte. Ich begann Techniken zu entwickeln, um Menschen zu manipulieren, wie ich es bei Eileen getan hatte, um das zu erreichen, was ich anstrebte. Gleichzeitig hatte ich auch eine heiße Spur gefunden, die mich zu meinem eigenen Ziel, zu Macht und Freiheit, führte.