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Ich weiß noch, daß ich nicht wie­der zu mir kom­men woll­te. Mir kam es vor, als wä­re ich auf ei­ner lan­gen, fer­nen Rei­se, als wä­re ich lan­ge Zeit ab­we­send ge­we­sen. Als ich aber dann wi­der­stre­bend die Au­gen auf­schlug, lag ich auf dem Bo­den, und Li­sa beug­te sich über mich. Ei­ni­ge Tou­ris­ten un­se­rer Grup­pe dreh­ten sich im­mer wie­der um, um zu er­fah­ren, was mir zu­ge­sto­ßen sei.

Li­sa hob mei­nen Kopf vom Fuß­bo­den.

„Sie ha­ben et­was ge­hört!“ sag­te sie drän­gend, mit lei­ser Stim­me, wo­bei sie ih­re Wor­te flüs­ter­te. „Was ha­ben Sie ge­hört?“

„Ge­hört?“ Ich schüt­tel­te den Kopf et­was be­nom­men, in­dem ich mich an mein Er­leb­nis er­in­ner­te, wo­bei ich fast er­war­te­te, daß die­se Ka­ko­pho­nie von Stim­men wie­der auf mich ein­stürm­te. Doch es war still um mich, und ich hör­te nur Li­sas fra­gen­de Stim­me. „Ge­hört?“ wie­der­hol­te ich. „Ja – ich ha­be sie ge­hört.“

„Sie? Wer ist ‚sie’?“

Ich schau­te zu ihr hin­auf, und ur­plötz­lich wa­ren mei­ne Sin­ne klar, und eben­so plötz­lich fiel mir auch mei­ne Schwes­ter Ei­leen wie­der ein. Ich rap­pel­te mich hoch und schau­te in die Fer­ne, schau­te zum Ein­gang, wo sie an der Sei­te die­ses Frem­den ge­stan­den hat­te – doch der Ein­gang und der dar­über lie­gen­de Raum wa­ren leer. Die bei­den … sie wa­ren fort.

Ir­gend­wie ge­lang es mir, wie­der hoch­zu­kom­men. Er­schüt­tert, zer­schla­gen, ent­wur­zelt, halt­los ge­wor­den, mit an­ge­schla­ge­nem Selbst­ver­trau­en in­fol­ge die­ses ge­wal­ti­gen Was­ser­falls von Stim­men, in den ich ge­fal­len und von dem ich mit­ge­ris­sen wor­den war, raub­te mir das ge­heim­nis­vol­le Ver­schwin­den mei­ner Schwes­ter den letz­ten Rest von Ver­stand. Ich ließ Li­sas Fra­ge un­be­ant­wor­tet und be­gann die Ram­pe zum Ein­gang hin­un­ter­zu­lau­fen, wo ich Ei­leen zu­letzt im Ge­spräch mit die­sem Frem­den ge­se­hen hat­te.

So schnell mich aber auch mei­ne lan­gen Bei­ne tru­gen, Li­sa war trotz­dem schnel­ler. Selbst in ih­rem blau­en Ge­wand war sie so be­hen­de wie ein Wie­sel. Sie hol­te mich ein, sie über­hol­te mich, dreh­te sich um und ver­stell­te mir den Weg, als ich am Aus­gang an­lang­te.

„Wo wol­len Sie hin?“ rief sie. „Sie kön­nen nicht ein­fach ver­schwin­den, je­den­falls nicht so­fort! Wenn Sie et­was ge­hört ha­ben, muß ich Sie zu Mark Tor­re brin­gen! Er muß mit je­dem spre­chen, der ir­gend et­was ge­hört hat!“

Ich aber woll­te nicht auf sie hö­ren.

„Ge­hen Sie mir aus dem Weg“, mur­mel­te ich, wäh­rend ich sie un­sanft bei­sei­te schob. Ich schoß durch die Tür und dann in den kreis­för­mi­gen Ge­rä­te­raum, der hin­ter der Tür lag. Dort wa­ren Tech­ni­ker in ih­rer bun­ten Ar­beits­klei­dung am Werk, die ir­gend­wel­che Me­tal­le und Glä­ser auf un­be­greif­li­che Wei­se zu ei­nem un­be­kann­ten Zweck be­ar­bei­te­ten – doch kei­ne Spur von Ei­leen oder von dem Mann in Schwarz.

Ich ras­te durch den Raum und in den nächs­ten Kor­ri­dor, aber auch die­ser war leer. Ich lief den Kor­ri­dor ent­lang, bog gleich nach rechts ab und öff­ne­te die nächst­bes­te Tür, die ich vor mir sah. Drin­nen Sa­ßen ein paar Leu­te le­send und schrei­bend an ver­schie­de­nen Ti­schen, die mich ver­wun­dert an­starr­ten, doch Ei­leen und der Frem­de wa­ren nicht un­ter ih­nen. Ich ver­such­te es in meh­re­ren Zim­mern, lei­der oh­ne Er­folg.

Beim fünf­ten Zim­mer hol­te mich Li­sa wie­der ein.

„Halt!“ sag­te sie. Und dies­mal leg­te sie Hand an mich, mit ei­ner Kraft, die für ei­ne solch zier­li­che Per­son er­staun­lich war. „Wol­len Sie end­lich ste­hen­blei­ben? Und viel­leicht einen Au­gen­blick nach­den­ken? Was ist ei­gent­lich los?“

„Was soll schon groß los sein!“ rief ich. „Mei­ne Schwes­ter …“ Dann hielt ich in­ne und über­leg­te kurz. Plötz­lich wur­de mir be­wußt, wie un­mög­lich ich mich be­nom­men hat­te und wie merk­wür­dig es sich für Li­sa an­hö­ren wür­de, wenn ich ihr den Grund für mein ver­zwei­fel­tes Su­chen ver­riet. Ein sieb­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen, das mit ei­nem Frem­den sprach, den ihr Bru­der nicht kann­te, war, selbst wenn es sich nach­her von ih­rer Grup­pe trenn­te und mit dem Un­be­kann­ten fort­ging, kaum ein trif­ti­ger Grund für die­se Art Amok­lauf –  zu­min­dest nicht in un­se­rer Zeit. Und ich war kei­nes­falls be­reit, die un­mög­li­chen Zu­stän­de vor Li­sa breit­zu­tre­ten, un­ter de­nen Ei­leen und ich im Hau­se un­se­res On­kels Ma­thi­as leb­ten.

Al­so sag­te ich gar nichts.

„Sie müs­sen mit mir kom­men“, sag­te sie drän­gend. „Sie kön­nen ja gar nicht wis­sen, wie sel­ten der Fall ein­tritt, daß je­mand im Tran­sit­punkt et­was hö­ren kann. Sie kön­nen auch nicht wis­sen, was dies für Mark Tor­re be­deu­tet, für ihn ganz per­sön­lich – je­man­den zu ent­de­cken, der et­was ge­hört hat!“

Ich schüt­tel­te den Kopf, weil ich nicht die ge­rings­te Lust hat­te, mit je­man­dem über das zu re­den, was ich so­eben er­lebt und durch­ge­macht hat­te – am we­nigs­ten woll­te ich aber wie ein Ver­suchs­ka­nin­chen be­han­delt und durch­leuch­tet wer­den.

„Sie müs­sen!“ wie­der­hol­te Li­sa. „Es be­deu­tet so­viel. Und nicht nur für Mark, son­dern für das gan­ze Pro­jekt! Den­ken Sie ein­mal nach, und lau­fen Sie mir nicht schon wie­der da­von! Über­le­gen Sie sich, was Sie als nächs­tes tun wol­len!“

Das Wort „über­le­gen“ drang zu mir durch, und all­mäh­lich konn­te ich wie­der kla­rer den­ken. Sie hat­te ja so recht. Ich soll­te wirk­lich lie­ber nach­den­ken, als wie ein Ir­rer her­um­zu­lau­fen. Ei­leen und der schwarz­ge­klei­de­te Frem­de konn­ten sich über­all in den Dut­zen­den von Räu­men und Kor­ri­do­ren auf­hal­ten – sie konn­ten aber auch das Pro­jekt und die En­kla­ve längst ver­las­sen ha­ben. Au­ßer­dem – was hät­te ich sa­gen sol­len, wenn ich die bei­den doch noch ir­gend­wo er­wi­scht hät­te? Soll­te ich dar­auf be­ste­hen, daß sich der Mann aus­wies und mir sei­ne Ab­sich­ten ge­gen­über mei­ner Schwes­ter er­klär­te? Viel­leicht war es so­gar ein Glück, daß ich die bei­den nicht auf­ge­stö­bert hat­te.

Aber da war noch et­was an­de­res. Ich hat­te schwer dar­an ge­ar­bei­tet, um mei­nen Ver­trag zu krie­gen, den ich vor drei Ta­gen un­ter­zeich­net hat­te, frisch von der Uni­ver­si­tät, die­sen Ver­trag mit dem In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­dienst. Doch bis ich das er­rei­chen konn­te, was mir vor­schweb­te, wür­de noch viel Zeit ver­ge­hen. Denn das, wo­nach ich streb­te, was ich mir wünsch­te, war Frei­heit. Und da­für war ich be­reit, mit Zäh­nen und Klau­en zu kämp­fen, für die­se ech­te Frei­heit, die nur die Mit­glie­der der pla­ne­ta­ren Re­gie­run­gen be­sa­ßen – und au­ßer­dem ei­ne be­son­de­re Grup­pe, eben die Mit­glie­der der Gil­de der In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­diens­te, die sich zur Un­ab­hän­gig­keit und Neu­tra­li­tät be­kannt hat­ten, tech­nisch ge­se­hen sämt­lich Leu­te oh­ne Welt, oh­ne Hei­mat, de­ren Neu­tra­li­tät und Frei­heit durch den je­wei­li­gen Nach­rich­ten­dienst ga­ran­tiert wur­de, für den sie ar­bei­te­ten.

Denn die be­wohn­ten Wel­ten der mensch­li­chen Ras­se, wa­ren ge­spal­ten – wie dies im Lauf der letz­ten zwei­hun­dert Jah­re stets der Fall ge­we­sen war –, ge­spal­ten in zwei La­ger, wo­bei die einen ih­re Leu­te durch „fes­te“ Ver­trä­ge gän­gel­ten, wäh­rend die an­de­ren eher an so­ge­nann­te lo­cke­re Ver­trä­ge glaub­ten. Bei den ers­te­ren han­del­te es sich um die Quä­ker­wel­ten Har­mo­nie und Ein­tracht so­wie um New­ton, Cas­si­da und Ve­nus und um die große neue Welt von Ce­ta im Zei­chen des Tau Ce­ti. Auf der an­de­ren Sei­te ran­gier­ten Al­t­er­de, Dor­sai, die Exo­ti­schen Wel­ten Ma­ra und Kul­tis, Neu­er­de, Frei­land, Mars so­wie die klei­ne ka­tho­li­sche Welt von St. Ma­rie.

Was sie von­ein­an­der trenn­te, war ein Kon­flikt der Wirt­schafts­sys­te­me – ein Er­be der ge­teil­ten Al­t­er­de, die je­ne Wel­ten ur­sprüng­lich ko­lo­ni­siert hat­te. Denn in un­se­ren Ta­gen gab es nur ei­ne ein­zi­ge in­ter­pla­ne­ta­re Wäh­rung – näm­lich die Mün­ze des ge­schul­ten Geis­tes.

Nun war die Kon­kur­renz für einen ein­zel­nen Pla­ne­ten zu groß, um ei­ge­ne Spe­zia­lis­ten aus­zu­bil­den, zu­mal die an­de­ren bes­se­re Er­geb­nis­se er­ziel­ten. Auch die bes­te Aus­bil­dung auf der Er­de oder auf ir­gend­ei­ner der an­de­ren Wel­ten konn­te kei­ne Sol­da­ten her­vor­brin­gen, die den Dor­sai eben­bür­tig wa­ren. Nir­gend­wo gab es sol­che Phy­si­ker wie auf New­ton, sol­che Psy­cho­lo­gen wie die der Exo­ten, kei­ne Re­kru­ten und Wehr­pflich­ti­ge, die so preis­wert wa­ren und sich so we­nig aus Ver­lus­ten mach­ten wie die von Har­mo­nie und Ein­tracht – und so wei­ter und so fort. Dem­zu­fol­ge wur­de auf ei­ner be­stimm­ten Welt nur ein be­stimm­ter Pro­fi­typ aus­ge­bil­det, der dann sei­ne Diens­te ver­trag­lich ei­ner an­de­ren Welt zur Ver­fü­gung stell­te und da­für je­ne Dienst­leis­tun­gen in An­spruch nahm, die die­se Welt brauch­te und die ir­gend­ei­ne an­de­re Welt zu bie­ten hat­te.

Und die Tren­nung zwi­schen den bei­den La­gern war scharf. In den so­ge­nann­ten Locker­ver­trags­wel­ten war der Ver­trag ei­nes Men­schen teil­wei­se sein per­sön­li­ches Ei­gen­tum und durf­te oh­ne sei­ne Zu­stim­mung an kei­ne an­de­re Welt ver­kauft oder in Zah­lung ge­ge­ben wer­den – au­ßer in au­ßer­or­dent­lich wich­ti­gen Fäl­len oder wenn ein Not­fall ein­trat. Auf den Fest­ver­trags­wel­ten da­ge­gen war der ein­zel­ne der Will­kür der Be­hör­den aus­ge­lie­fert – sein Ver­trag konn­te oh­ne frist­ge­rech­te Kün­di­gung von ei­ner Stun­de zur an­de­ren ver­kauft oder ver­pfän­det wer­den. In sol­chen Fäl­len blieb dem Be­tref­fen­den kei­ne an­de­re Wahl, als sich zum Ein­satzort zu be­ge­ben und sei­ne Ar­beit auf­zu­neh­men.

Al­so wa­ren auf al­len Wel­ten so­wohl die Un­frei­en wie auch die teil­wei­se Frei­en zu fin­den. Auf den Locker­ver­trags­wel­ten, zu de­nen auch die Er­de ge­hör­te, ge­nos­sen Men­schen mei­nes Schla­ges ei­ne ge­wis­se Frei­heit. Ich aber woll­te ganz frei sein, ich wünsch­te mir je­ne Frei­heit, die mir nur als Gil­de­mit­glied zu­stand. So­bald ich in die Gil­de auf­ge­nom­men war, rück­te die Frei­heit, die ich mein­te, in greif­ba­re Nä­he. Denn der Ver­trag für mei­ne Dienst­leis­tun­gen wür­de für al­le Zei­ten in den Be­sitz des Nach­rich­ten­diens­tes über­ge­hen.

So­bald dies ge­sche­hen war, konn­te mich kei­ne Welt mehr be­an­spru­chen oder mei­ne Diens­te ge­gen mei­nen Wil­len an einen an­de­ren Pla­ne­ten ver­kau­fen, wo sie mit ge­schul­tem Per­so­nal in der Krei­de stand. Es war die rei­ne Wahr­heit, daß Al­t­er­de, an­ders als New­ton, Cas­si­da, Ce­ta und ei­ni­ge an­de­re Wel­ten, stolz dar­auf war, daß sie es nie­mals nö­tig ge­habt hat­te, ih­re Aka­de­mi­ker en bloc ge­gen Spe­zia­lis­ten aus den jün­ge­ren Wel­ten zu ver­scha­chern. Doch wie die an­de­ren Pla­ne­ten auch be­hielt sich Al­t­er­de das Recht vor, in Not­fäl­len ähn­lich zu han­deln – ein Um­stand, von dem manch ein per­sön­li­ches Schick­sal Zeug­nis ab­leg­te.

Al­so konn­te ich mein Ziel nur er­rei­chen und mei­ne Sehn­sucht nach Frei­heit, die in mir un­ter Ma­thi­as1 Dach stets neu ge­nährt wur­de, nur und nur mit Bil­li­gung des Nach­rich­ten­diens­tes stil­len, in­dem ich in die Rei­hen sei­ner Mit­ar­bei­ter auf­ge­nom­men wur­de. Und trotz mei­ner aus­ge­zeich­ne­ten Prü­fungs­er­geb­nis­se und Zeug­nis­se, so gut sie auch sein moch­ten, lag ein sol­ches Ziel noch in wei­ter Fer­ne, ein Ziel, für das ich einen har­ten Kampf aus­zu­fech­ten und einen dor­ni­gen Pfad zu ge­hen hat­te, um es zu er­rei­chen. Ich durf­te mir nichts ent­ge­hen las­sen, was mich mei­nem Ziel auch nur einen Schritt nä­her brach­te. Da­bei wur­de mir klar, daß ich wahr­schein­lich ei­ne Chan­ce ver­pas­sen wür­de, wenn ich mich wei­ger­te, Mark Tor­re auf­zu­su­chen.

„Sie ha­ben recht“, sag­te ich zu Li­sa. „Ich will ihn auf­su­chen. Na­tür­lich wer­de ich ihm einen Be­such ab­stat­ten. Wo muß ich hin?“

„Ich wer­de Sie füh­ren“, er­wi­der­te sie. „Ich möch­te nur vor­her kurz an­ru­fen.“ Sie trat ei­ni­ge Schrit­te bei­sei­te und sprach lei­se in das Fern­sprech­ge­rät, das sie am Ring­fin­ger trug. Dann trat sie wie­der zu mir und führ­te mich wei­ter.

„Und was ge­schieht mit den an­de­ren?“ frag­te ich, da mir plötz­lich un­se­re Grup­pe ein­fiel, die im­mer noch im In­dex­raum weil­te.

„Ich ha­be um ei­ne Ver­tre­tung ge­be­ten, die sie wei­ter füh­ren wird“, er­wi­der­te Li­sa. „Hier ent­lang.“

Sie führ­te mich durch ei­ne Tür aus der Hal­le, und wir be­tra­ten ei­ne Art Licht-La­by­rinth, einen Dreh­raum. Für einen Au­gen­blick war ich über­rascht, doch dann wur­de mir be­wußt, daß Mark Tor­re, wie je­der an­de­re, der im Blick­punkt der Öf­fent­lich­keit stand, vor Ir­ren und Spin­nern ge­schützt wer­den muß­te, die ihm mög­li­cher­wei­se ge­fähr­lich wer­den konn­ten. Wir tra­ten aus dem La­by­rinth in einen klei­nen, lee­ren Raum und blie­ben wie­der ste­hen.

Der Raum be­weg­te sich – ich weiß nicht, in wel­che Rich­tung – und hielt dann an.

„Hier ent­lang“, wie­der­hol­te Li­sa und führ­te mich zu ei­ner der Wän­de, die sie leicht be­rühr­te. Ein Teil der Wand tat sich auf, und wir be­tra­ten einen Raum, der wie ein Ar­beits­zim­mer ein­ge­rich­tet war, aber auch ein Steu­er­pult ent­hielt, hin­ter dem ein äl­te­rer Mann saß. Es war Mark Tor­re, und er sah ge­nau­so aus, wie ich ihn aus der Pres­se und aus den Me­di­en kann­te.

Zwar sah man ihm sei­ne Jah­re noch nicht an – er muß da­mals be­reits über acht­zig ge­we­sen sein –, doch sein Ge­sicht war grau und von Krank­heit ge­zeich­net. Sei­ne Klei­der schlot­ter­ten um sei­nen Kör­per, als wä­re er in frü­he­ren Jah­ren kräf­ti­ger ge­we­sen. Sei­ne bei­den auf­fal­lend großen Hän­de ruh­ten schlaff auf dem schma­len Brett­chen vor der Tas­ta­tur, die grau­en Knö­chel in­fol­ge der Ar­thri­tis ge­schwol­len, an der er litt.

Er er­hob sich nicht, als wir ein­tra­ten, doch sei­ne Stim­me klang über­ra­schend klar und ju­gend­lich, als er zu spre­chen be­gann, und sei­ne Au­gen blitz­ten mich mit kaum ver­hoh­le­ner Freu­de an. Er bot uns Platz an und war­te­te, bis sich nach we­ni­gen Mi­nu­ten ei­ne wei­te­re Tür öff­ne­te und ein Mann in mitt­le­ren Jah­ren den Raum be­trat, der wohl von ei­ner der Exo­ti­schen Wel­ten stamm­te – ein leib­haf­ti­ger Exo­te mit durch­drin­gen­den, nuß­brau­nen Au­gen im fal­ten­lo­sen Ge­sicht un­ter kurz­ge­schnit­te­nem, wei­ßen Haar. Er trug das glei­che blaue Ge­wand wie Li­sa.

„Mr. Olyn“, sag­te Mark Tor­re, „das ist Pad­ma, der Ver­bin­dungs­mann von Ma­ra für die En­kla­ve von St. Louis. Er weiß be­reits, wer Sie sind.“

„Wie geht es Ih­nen?“ frag­te ich förm­lich. Pad­ma lä­chel­te.

„Es ist mir ei­ne Eh­re, Sie ken­nen­zu­ler­nen, Tam Olyn“, sag­te er und nahm Platz. Sei­ne hel­len, nuß­brau­nen Au­gen ruh­ten kei­nes­wegs di­rekt auf mir – den­noch fühl­te ich mich ir­gend­wie un­be­hag­lich. Es war nichts Be­son­de­res an ihm – und ge­ra­de das war es, was mich stör­te. Sein Blick, sein Ton­fall, selbst sei­ne Art da­zu­sit­zen ver­rie­ten mir, daß er mich be­reits bes­ser kann­te als ir­gend­ein an­de­rer, ein Um­stand, der mir nicht so recht ge­fal­len woll­te, vor al­lem nicht bei ei­nem Mann, den ich nicht eben­so gut kann­te.

Denn all das, was ich seit Jah­ren bei mei­nem On­kel be­kämpft hat­te, stieg in die­sem Au­gen­blick in mir auf, all die Bit­ter­keit mei­nes On­kels Ma­thi­as, die er ge­gen die Men­schen aus den Neu­en Wel­ten heg­te, und lehn­te sich ge­gen die Über­le­gen­heit auf, die ich bei Pad­ma, Ver­bin­dungs­mann von Ma­ra für die En­kla­ve in St. Louis auf Al­t­er­de in­stink­tiv spür­te. Ich lös­te mei­nen Blick von dem sei­nen und schau­te in die men­schen­ähn­li­che­ren Au­gen des Erd­ge­bo­re­nen Mark Tor­re.

„Da jetzt auch Pad­ma un­ter uns weilt“, sag­te der al­te Mann, in­dem er sich eif­rig über die Tas­ta­tur sei­ner Kon­so­le lehn­te, „wie war es al­so? Er­zäh­len Sie uns, was Sie ge­hört ha­ben!“

Ich schüt­tel­te den Kopf, weil ich im Au­gen­blick kei­ne Mög­lich­keit sah, mein Er­leb­nis zu schil­dern. Mil­li­ar­den von Stim­men, die al­le gleich­zei­tig zu mir spra­chen – das ließ sich un­mög­lich be­schrei­ben.

„Ich ha­be Stim­men ge­hört“, er­wi­der­te ich. „Stim­men, die al­le gleich­zei­tig und trotz­dem je­weils ge­trennt auf mich ein­re­de­ten.“

„Vie­le Stim­men?“ frag­te Pad­ma.

Nun muß­te ich ihn wie­der an­schau­en.

„Al­le Stim­men die­ser Welt“, hör­te ich mich sa­gen. Dann ver­such­te ich, mein Er­leb­nis zu schil­dern. Pad­ma nick­te. Doch wäh­rend ich noch be­rich­te­te, wan­der­te mein Blick zu Tor­re zu­rück, und ich sah, wie er sich ver­wirrt und ent­täuscht in sei­nen Ses­sel zu­rück­lehn­te.

„Nur Stim­men … nichts wei­ter?“ sag­te der al­te Mann wie für sich, nach­dem ich ge­en­det hat­te.

„Warum?“ frag­te ich ver­stört und be­ängs­tigt. „Was hät­te ich sonst hö­ren sol­len? Was hö­ren an­de­re Leu­te, oder was hat je­mals je­mand vor mir ge­hört?“

„Das ist stets ver­schie­den“, kam die be­ru­hi­gen­de Stim­me Pad­mas, der am Ran­de mei­nes Ge­sichts­fel­des saß. Ich aber woll­te ihn nicht an­schau­en, son­dern ließ mei­nen Blick auf Mark Tor­re ru­hen. „Je­der Mensch hört je­weils et­was an­de­res.“

Jetzt wand­te ich mich den­noch Pad­ma zu.

„Was ha­ben Sie ge­hört?“ frag­te ich her­aus­for­dernd. Er aber schenk­te mir ein klei­nes, trau­ri­ges Lä­cheln.

„Nichts, Tam“, mein­te er.

„Wenn schon mal je­mand et­was hör­te, dann war es stets ein Erd­ge­bo­re­ner“, warf Li­sa scharf ein, als müß­te ich das wis­sen.

„Sie viel­leicht?“ frag­te ich und blick­te sie scharf an.

„Ich … wie­so ich? Na­tür­lich nicht!“ gab sie zu­rück. „Seit die­ses Pro­jekt in An­griff ge­nom­men wur­de, wa­ren es kaum ein hal­b­es Dut­zend Leu­te, die je et­was ge­hört ha­ben.“

„We­ni­ger als ein hal­b­es Dut­zend?“ gab ich zu­rück.

„Fünf ins­ge­samt“, mein­te sie. „Mark ist na­tür­lich ei­ner von ih­nen. Was die an­de­ren vier be­trifft, so ist ei­ner be­reits tot, und die an­de­ren drei …“ – sie zö­ger­te einen Au­gen­blick, in­dem sie mich fest ins Au­ge faß­te – „… wa­ren un­ge­eig­net.“

In ih­rer Stim­me schwang dies­mal ein be­son­de­rer Ton mit, den ich jetzt zum ers­ten­mal wahr­nahm. Doch dann hat­te ich die­sen merk­wür­di­gen Ton­fall auch schon wie­der ver­ges­sen, als ich mir der Zahl be­wußt wur­de, die sie ge­nannt hat­te.

Nur fünf ins­ge­samt – und das in vier­zig Jah­ren! Die Er­kennt­nis, daß das, was ich im In­dex­raum er­lebt hat­te, kei­ne Klei­nig­keit war und daß die­ser Au­gen­blick für Tor­re und Pad­ma eben­so be­deu­tend war wie für mich selbst, traf mich wie ein Keu­len­schlag.

„Ach so?“ sag­te ich, in­dem ich Tor­re an­blick­te, wo­bei es mir mit ei­ni­ger An­stren­gung ge­lang, mei­ne Stim­me gleich­gül­tig klin­gen zu las­sen. „Was hat es dann zu be­deu­ten, wenn ir­gend­wer ir­gend et­was hört?“

Er ant­wor­te­te mir nicht di­rekt, son­dern lehn­te sich wie­der vor, wäh­rend sei­ne al­ten, dunklen Au­gen wie­der zu glit­zern be­gan­nen und er mir die Fin­ger sei­ner ge­wal­ti­gen rech­ten Pran­ke ent­ge­gen­streck­te.

„Grei­fen Sie zu“, sag­te er.

Ich mei­ner­seits streck­te eben­falls die Hand aus und spür­te sei­ne ge­schwol­le­nen Knö­chel in mei­nem Griff. Er pack­te mei­ne Hand und hielt sie fest, wo­bei er mich für einen Au­gen­blick an­starr­te, wäh­rend der Glanz all­mäh­lich aus sei­nen Au­gen wich und dann er­losch. Dann ließ er mei­ne Hand los und sank wie ein Be­sieg­ter in sei­nen Ses­sel zu­rück.

„Nichts“, sag­te er dumpf an Pad­ma ge­wandt. „Wie­der – nichts. Man hät­te an­neh­men sol­len, daß er et­was ge­spürt hät­te – oder ich.“

„Den­noch“, sag­te Pad­ma ru­hig, wäh­rend er mich an­schau­te, „im­mer­hin hat er et­was ge­hört.“

Ich spür­te, wie sei­ne nuß­brau­nen exo­ti­schen Au­gen mich auf mei­nem Sitz fest­na­gel­ten.

„Mark ist be­un­ru­higt, Tam“, mein­te er, „weil Sie nichts wei­ter als Stim­men ge­hört ha­ben, die Sie we­der ver­stan­den ha­ben noch ih­nen ei­ne Bot­schaft ent­neh­men konn­ten.“

„Was für ei­ne Bot­schaft?“ woll­te ich wis­sen. „Und was soll das hei­ßen, daß ich nichts ver­stan­den hät­te?“

„Es liegt bei Ih­nen, uns dies zu sa­gen.“ Da­bei las­te­te sein Blick so hell auf mir, daß ich mich plötz­lich un­be­hag­lich fühl­te, wie ein Vo­gel oder ei­ne Eu­le im Schein­wer­fer­licht. Ich spür­te, wie mei­ne Furcht plötz­lich in Groll um­schlug.

„Was hat dies al­les mit Ih­nen zu tun?“ frag­te ich.

Wie­der ein­mal schenk­te er mir ein klei­nes Lä­cheln.

„Un­se­re exo­ti­sche Stif­tung“, sag­te er, „steu­ert ein Groß­teil zur Fi­nan­zie­rung die­ses En­zy­klo­pä­die-Pro­jek­tes bei. Dies ist ein ir­di­sches Pro­jekt. Was uns be­wegt, ist le­dig­lich die Ver­ant­wor­tung für all je­ne Wer­ke, die da­zu bei­tra­gen, daß der Mensch den Men­schen und sich selbst bes­ser zu ver­ste­hen lernt. Dar­über hin­aus gibt es aber Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten und Ab­wei­chun­gen zwi­schen un­se­rer und Marks Phi­lo­so­phie.“

„Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten?“ frag­te ich zu­rück. Ich hat­te da­mals schon einen gu­ten Rie­cher für Neu­ig­kei­ten, ob­wohl ich frisch von der Schul­bank kam, und jetzt krib­bel­te es rich­tig in der Na­se.

Aber Pad­ma lä­chel­te, als hät­te er mei­ne Ge­dan­ken ge­le­sen.

„Es ist nichts Neu­es“, sag­te er. „Die­se grund­le­gen­de Mei­nungs­ver­schie­den­heit be­steht von An­fang an. Kurz und bün­dig: Wir auf den Exo­ti­schen Wel­ten glau­ben, daß der Mensch wei­ter zu ver­voll­komm­nen ist. Un­ser Freund Mark hin­ge­gen meint, daß der Er­den­mensch, der Ur­mensch an sich – be­reits voll­kom­men ist, nur bis­her nicht in der La­ge war, sei­ne Voll­kom­men­heit auf­zu­de­cken und von ihr Ge­brauch zu ma­chen.“

Ich starr­te ihn an.

„Und was hat das mit mir zu tun?“ frag­te ich. „Und mit dem, was ich ge­hört ha­be?“

„Es kommt dar­auf an, ob Sie ihm – oder uns – nütz­lich sein kön­nen“, er­wi­der­te Pad­ma ru­hig. Mein Herz er­starr­te für einen Au­gen­blick. Denn soll­ten die Exo­ten oder Mark Tor­re mei­nen Ver­trag bei der Erd­re­gie­rung an­for­dern, konn­te ich gleich al­le Hoff­nung fah­ren las­sen, je­mals in die Gil­de der Nach­rich­ten­diens­te auf­ge­nom­men zu wer­den.

„Wahr­schein­lich kei­nem von bei­den – glau­be ich“, ver­setz­te ich so gleich­gül­tig wie mög­lich.

„Viel­leicht. Wir wer­den se­hen“, mein­te Pad­ma. Er hielt die Hand hoch und streck­te den Zei­ge­fin­ger nach oben. „Se­hen Sie die­sen Fin­ger, Tam?“

Ich schau­te auf sei­nen Zei­ge­fin­ger. Und wäh­rend ich noch hin­schau­te, glitt der Fin­ger plötz­lich auf mich zu, wuchs ins Un­er­meß­li­che und ver­deck­te die Sicht auf al­les an­de­re, was sich sonst im Raum be­fand. Zum zwei­ten­mal an die­sem Nach­mit­tag ver­ließ ich das Jetzt und Heu­te des rea­len Uni­ver­sums, um mich an einen ir­rea­len Ort zu be­ge­ben.

Plötz­lich war ich von Blit­zen um­ge­ben. Um mich her­um herrsch­te Fins­ter­nis, doch ich wur­de von Blitz­schlä­gen ver­folgt und ge­trie­ben – in ir­gend­ein rie­si­ges Uni­ver­sum, vie­le Licht­jah­re ent­fernt, hin und her ge­sto­ßen in ei­nem gi­gan­ti­schen Kampf.

Zu­nächst konn­te ich die­sen Kampf, die­ses Stre­ben nicht be­grei­fen. Doch dann wur­de mir all­mäh­lich klar, daß all die­se peit­schen­den Blit­ze ei­ne fu­rio­se An­stren­gung fürs Über­le­ben und für den Sieg dar­stell­ten im Kampf ge­gen die mich um­ge­ben­de, al­te, ewig da­hin­strö­men­de Fins­ter­nis, die stets ver­sucht, all die­se Blit­ze zu un­ter­drücken und aus­zu­lö­schen. Es war auch nicht ir­gend­ein be­lie­bi­ger Kampf, den ich er­leb­te. Jetzt er­kann­te ich Hin­ter­halt und Nie­der­la­ge, Stra­te­gie und Tak­tik, Schlag und Ge­gen­schlag in die­sem Kampf um die Macht zwi­schen Blitz und Fins­ter­nis.

Dann im glei­chen Au­gen­blick, tauch­te die Er­in­ne­rung an den Klang der Mil­li­ar­den Stim­men auf, die wie­der um mich im Rhyth­mus der Blitz­schlä­ge an­schwol­len, und gab mir den Schlüs­sel für all das, was ich er­blick­te. Ur­plötz­lich, so wie ein ein­zi­ger flam­men­der Blitz in Se­kun­den­schnel­le ei­ne Land­schaft mei­len­weit im Um­kreis er­hellt, er­kann­te ich in­tui­tiv all das Ge­sche­hen, das um mich her­um ab­lief.

Es war der jahr­hun­der­te­al­te Kampf des Men­schen, sei­ne Ras­se zu er­hal­ten und in die Zu­kunft vor­zu­drin­gen, das un­er­müd­li­che, fu­rio­se Be­stre­ben die­ses tie­ri­schen und gött­li­chen, pri­mi­ti­ven und raf­fi­nier­ten, wil­den und zi­vi­li­sier­ten und kom­pli­zier­ten Or­ga­nis­mus, der die mensch­li­che Ras­se dar­stell­te und der um sein Fort­kom­men und sei­nen Fort­schritt kämpf­te. Vor­wärts und hin­auf, im­mer wei­ter hin­auf, bis das Un­mög­li­che er­reicht war, bis al­le Schran­ken durch­bro­chen, al­le Lei­den be­siegt, al­le Fä­hig­kei­ten er­wor­ben wa­ren, bis es nur noch Blit­ze und kei­ne Fins­ter­nis mehr gab.

Es wa­ren die Stim­men die­ser end­lo­sen und ste­ti­gen Be­mü­hun­gen durch die Jahr­hun­der­te, die ich dort im In­dex­raum ver­nom­men hat­te. Es war das­sel­be Stre­ben, das die Exo­ten mit ih­rer fremd­ar­ti­gen Ma­gie der psy­cho­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen Wis­sen­schaf­ten ein­zu­fan­gen ver­such­ten, je­nes Stre­ben, für das die En­zy­klo­pä­die letzt­lich be­stimmt war, um die ver­flos­se­nen Jahr­hun­der­te der mensch­li­chen Exis­tenz zu durch­for­schen, da­mit der Weg des Men­schen in die Zu­kunft sinn­voll be­rech­net wer­den kann.

Das war es, was Pad­ma, Mark Tor­re, was je­der­mann und auch mich be­weg­te. Denn je­des mensch­li­che We­sen war in der streb­sa­men Mas­se sei­ner Mit­menschen ge­fan­gen und konn­te sich dem Le­bens­kampf nicht ent­zie­hen. Je­der von uns, der in die­sem Au­gen­blick leb­te, war in die­sen Kampf ver­strickt, als Teil­neh­mer und als Spiel­ball die­ses Kamp­fes zu­gleich.

Doch bei die­sem Ge­dan­ken wur­de mir plötz­lich be­wußt, daß ich an­ders war, nicht nur ein Spiel­ball frem­der Mäch­te. Ich war mehr als das – viel­leicht ei­ne Art po­ten­ti­el­le Macht, mög­li­cher­wei­se so­gar Herr die­ser Er­eig­nis­se. Da ge­sch­ah es erst­mals, daß ich Hand an die Blit­ze leg­te, die über mei­nem Haupte zuck­ten, und ver­such­te, sie zu be­herr­schen, zu wen­den und zu füh­ren und sie zu zwin­gen, mei­nen Zwe­cken und mei­nen Wün­schen zu die­nen.

Den­noch wur­de ich durch un­er­meß­li­che Wei­ten ge­schleu­dert, aber nicht mehr wie ein Schiff über die sturm­ge­peitsch­te See, son­dern wie ein Kahn, den ich fest im Griff hat­te, um mit dem Wind zu se­geln. Und im glei­chen Au­gen­blick über­kam mich zum ers­ten Mal das Ge­fühl mei­ner ei­ge­nen Fes­tig­keit und Kraft. Denn die Blit­ze schmieg­ten sich in mei­ne Hand, ge­horch­ten mei­nem Wil­len und lie­ßen sich füh­ren und len­ken. Ich spür­te es deut­lich – die­se ent­fes­sel­te Kraft in mir, die je­der Be­schrei­bung spot­tet. Und schließ­lich wur­de mir auch be­wußt, daß ich nie zu den Schwa­chen und Her­um­ge­sto­ße­nen ge­hört hat­te. Ich war ein Herr und Meis­ter, und ich hat­te die Ga­be, zu­min­dest teil­wei­se in die­sem Kampf zwi­schen Licht und Fins­ter­nis all das nach mei­nem Wil­len zu for­men, was ich be­rühr­te.

Erst jetzt wur­de mir be­wußt, wie dünn sol­che Men­schen wie ich ge­sät sind. Sie wa­ren wie ich Her­ren und Meis­ter, die gleich mir auf den Flü­geln des Sturm­winds da­hin­flo­gen, der durch das Stre­ben der Mas­sen un­se­rer mensch­li­chen Ras­se er­zeugt wur­de. Die­ser Sturm konn­te uns für Se­kun­den zu­sam­men­keh­ren und im nächs­ten Mo­ment äo­nen­weit aus­ein­an­der­trei­ben. Doch ich konn­te sie se­hen und sie mich. Und ich wur­de mir be­wußt, daß sie nach mir rie­fen, daß sie mich auf­for­der­ten, nicht für mich al­lein zu kämp­fen, son­dern mich mit ih­nen im ge­mein­sa­men Stre­ben, im ge­mein­sa­men Kampf zu ver­ei­nen, um die Schlacht für uns zu ent­schei­den und die Mensch­heit aus dem Cha­os her­aus­zu­füh­ren.

Doch al­les in mir sträub­te sich ge­gen die­sen Ruf. Ich war zu lan­ge un­ter­drückt und mit Fü­ßen ge­tre­ten wor­den, man hat­te mich viel zu lan­ge her­um­ge­sto­ßen. Jetzt aber hat­te ich die wil­de Freu­de er­lebt, selbst auf den Wo­gen zu rei­ten und nicht ge­rit­ten zu wer­den, war mir mei­ner Macht und mei­ner Fä­hig­kei­ten be­wußt. Ich woll­te das ge­mein­sa­me Stre­ben nicht, ich woll­te mich dem nicht fu­gen, um schließ­lich die Mensch­heit zum er­sehn­ten Frie­den zu fuh­ren und die­sen mit ihr zu er­lan­gen, ich woll­te nichts wei­ter als die­sen be­rau­schen­den Wir­bel, die­sen rauschar­ti­gen Sog er­le­ben, auf sei­nen Wo­gen da­hin­trei­ben und ihn be­herr­schen. Ich war durch die Fins­ter­nis, in der mein On­kel leb­te, zu lan­ge ge­bun­den und ver­sklavt wor­den, um jetzt nicht die Frei­heit, die mein ei­gen war, in vol­len Zü­gen zu ge­nie­ßen. Jetzt war ich frei, war ein Meis­ter die­ser Welt, und nichts konn­te mich da­zu brin­gen, mich frei­wil­lig wie­der in Ket­ten le­gen zu las­sen. Ich streck­te die Hand nach den Blit­zen aus, nach dem Licht, und spür­te, wie mein Griff im­mer fes­ter und im­mer um­fas­sen­der wur­de.

Ur­plötz­lich be­fand ich mich wie­der in Mark Tor­res Bü­ro.

Mark, das Ge­sicht wie in Stein ge­mei­ßelt, starr­te mich an. Auch Li­sa schau­te mit kalk­weißem Ge­sicht in mei­ne Rich­tung. Un­mit­tel­bar vor mir aber saß Pad­ma, der mich mit ru­hi­gem Blick mus­ter­te.

„Nein“, sag­te er. „Sie ha­ben recht, Tam. Sie kön­nen uns hier in der En­zy­klo­pä­die nicht von Nut­zen sein.“

Ein lei­ser Laut kam von Li­sas Lip­pen, ein klei­ner Seuf­zer, der sich fast wie ein Schmer­zens­schrei an­hör­te. Doch die­ser Laut ging im Rö­cheln von Mark Tor­re un­ter, das sich an­hör­te wie das Rö­cheln ei­nes töd­lich ver­wun­de­ten Bä­ren, der im­mer noch ver­such­te, sich auf die Hin­ter­bei­ne zu stel­len und sei­ne Fein­de an­zu­grei­fen.

„Nicht?“ sag­te er. Tor­re hat­te sich hin­ter sei­nem Schreib­tisch auf­ge­rich­tet und wand­te sich jetzt an Pad­ma. Sei­ne ge­schwol­le­ne Rech­te lag zur Faust ge­ballt auf der Tisch­plat­te. „Er muß – er muß un­be­dingt! Es ist zwan­zig Jah­re her, seit­dem je­mand im In­dex­raum et­was ge­hört hat – und ich wer­de alt!“

„Al­les, was er ge­hört hat, wa­ren die Stim­men. Und die­se ha­ben in ihm kei­nen Fun­ken ge­zün­det. Sie ha­ben auch nichts ge­spürt, als Sie ihn be­rühr­ten“, sag­te Pad­ma. Er sprach lei­se und wie aus wei­ter Fer­ne, stieß die Wör­ter eins nach dem an­de­ren her­vor, wie Sol­da­ten, die auf einen Be­fehl hin mar­schier­ten. „Und das, weil nichts vor­han­den ist, kei­ne Iden­ti­tät mit den an­de­ren. Er be­sitzt den gan­zen Me­cha­nis­mus, je­doch kein Ein­füh­lungs­ver­mö­gen – kei­ne Kraft­quel­le, die sich da­mit ver­bin­det.“

„Sie kön­nen ihn auf Vor­der­mann brin­gen! Ver­dammt noch mal …“ – die Stim­me des al­ten Man­nes klang wie ei­ne Glo­cke, doch er war den Trä­nen na­he – „… auf den Exo­ti­schen Wel­ten könn­ten Sie ihn hei­len!“

Pad­ma schüt­tel­te den Kopf.

„Nein“, sag­te er. „Er kann sich nur selbst hel­fen. Er ist we­der krank noch de­fekt, son­dern le­dig­lich et­was un­ter­ent­wi­ckelt. Ir­gend­wann in sei­ner Ju­gend muß er sich von den Men­schen ab­ge­wandt und in ein dunkles, ein­sa­mes Tal zu­rück­ge­zo­gen ha­ben, und mit den Jah­ren wur­de die­ses Tal im­mer tiefer, dunk­ler und schma­ler, so daß ihm kei­ner hin­durch­hel­fen kann. Kein an­de­rer Geist kann die­ses Tal durch­schrei­ten und dar­in über­le­ben – viel­leicht nicht ein­mal sei­ner. Be­vor er aber die­ses Tal nicht durch­schrit­ten hat und am En­de an­ge­langt ist, wo er wie­der ans Licht kom­men kann, nützt er we­der Ih­nen noch der En­zy­klo­pä­die und da­mit all je­nem, was die­se für die Men­schen auf Al­t­er­de und sonst­wo be­deu­tet. Und nicht nur das: Er wür­de Ih­ren Pos­ten nicht an­neh­men, selbst wenn Sie es ihm an­bö­ten. Schau­en Sie ihn sich an.“

Sein Blick, der die gan­ze Zeit auf mir ge­ruht hat­te, die lang­sa­me, ste­ti­ge Art zu spre­chen, sei­ne Wor­te, die wie klei­ne Stein­chen ei­nes nach dem an­de­ren in ein bo­den­lo­ses, ru­hi­ges Was­ser fie­len, hat­ten mich ge­lähmt, auch als er über mich sprach, als wä­re ich gar nicht vor­han­den. Doch bei sei­nen letz­ten Wor­ten ließ die­ser Ein­fluß nach, und ich fühl­te, daß ich wie­der frei spre­chen konn­te.

„Sie ha­ben mich hyp­no­ti­siert!“ schrie ich ihn an. „Ich ha­be Sie kei­nes­wegs er­mäch­tigt, mich … mich zu psy­cho­ana­ly­sie­ren!“

Pad­ma schüt­tel­te den Kopf.

„Ich ha­be Sie nicht hyp­no­ti­siert“, er­wi­der­te er. „Ich ha­be Ih­nen le­dig­lich ein Fens­ter zu Ih­rem in­ne­ren Be­wußt­sein auf­ge­sto­ßen. Ich ha­be Sie auch nicht psy­cho­ana­ly­siert.“

„Was war es al­so …“ Dann, plötz­lich wach­sam ge­wor­den, brach ich ab.

„Was im­mer Sie ge­se­hen oder ge­fühlt ha­ben“, sag­te er, „wa­ren Ih­re ei­ge­nen Wahr­neh­mun­gen und Ge­füh­le, in Ih­re ei­ge­nen Sym­bo­le über­setzt. Na­tür­lich ha­be ich kei­ne Ah­nung, wel­cher Art die­se Sym­bo­le wa­ren – ich ha­be auch kei­ne Mög­lich­keit, das her­aus­zu­fin­den, wenn Sie es mir nicht selbst sa­gen.“

„Wie konn­ten Sie sich dann so schnell ent­schei­den?“ fauch­te ich ihn an. „Sie ha­ben Ih­re Ent­schei­dung ziem­lich rasch ge­trof­fen. Was war ei­gent­lich der Grund da­für?“

„Ihr Be­neh­men“, er­wi­der­te er. „Die Art, wie Sie sich dar­stell­ten, Ih­re Hand­lun­gen, Ih­re Stim­me, als Sie so­eben zu mir ge­spro­chen ha­ben, und ein gu­tes Dut­zend an­de­rer Si­gna­le. Das war’s, Tam.

Ein mensch­li­ches We­sen äu­ßert sich mit sei­nem Kör­per und sei­nem gan­zen Sein, nicht nur al­lein durch sei­ne Stim­me oder durch sei­nen Ge­sichts­aus­druck.“

„Ich glaub’s ein­fach nicht!“ Ich war Feu­er und Flam­me – doch plötz­lich kühl­te sich mein Mut ab, als ei­ne lei­se War­nung und die Ge­wiß­heit in mir auf­stie­gen, daß tat­säch­lich ir­gend­wel­che Grün­de vor­han­den sein muß­ten, warum ich ihm kei­nen Glau­ben schen­ken durf­te, selbst wenn ich die­se Grün­de im Au­gen­blick nicht er­ken­nen konn­te. „Ich kann’s nicht glau­ben“, wie­der­hol­te ich da­her in ru­hi­ge­rem und küh­le­rem Ton­fall. „Es muß noch et­was an­de­res mit­ge­spielt ha­ben, et­was We­sent­li­ches, daß Sie zu die­ser Ent­schei­dung ge­führt hat.“

„Ja“, ver­setz­te er, „na­tür­lich. Ich hat­te die Mög­lich­keit, die Un­ter­la­gen zu prü­fen, ge­wis­ser­ma­ßen Ih­re Per­so­nal­ak­te, Ih­ren per­sön­li­chen Wer­de­gang, der wie der Le­bens­lauf al­ler Er­den­bür­ger, die hier und heu­te le­ben, be­reits in der En­zy­klo­pä­die ge­spei­chert ist. Ich ha­be al­so einen Blick in die­se Un­ter­la­gen ge­wor­fen, be­vor ich hier­her­kam.“

„Das al­lein war es auch nicht“, sag­te ich grim­mig. „Da muß noch et­was an­de­res vor­han­den sein, das kann ich Ih­nen ver­si­chern. Ich weiß es be­stimmt!“

„Oh ja“, er­wi­der­te Pad­ma, in­dem er sanft aus­at­me­te. „Da sie al­les dies durch­ge­macht ha­ben, dürf­ten Sie wohl Be­scheid wis­sen. Auf je­den Fall wer­den Sie es recht bald aus sich her­aus er­fah­ren.“ Er hob den Blick, um ihn di­rekt in den mei­nen zu ver­sen­ken, doch dies­mal konn­te ich sei­nem Blick oh­ne ein Ge­fühl der Un­ter­le­gen­heit be­geg­nen.

„Zu­fäl­li­ger­wei­se ist es so, Tam“, sag­te er, „daß es sich bei Ih­nen um einen so­ge­nann­ten Iso­lier­ten han­delt, um einen sel­te­nen An­gel­punkt in Ge­stalt ei­nes Ein­zel­we­sens – um ei­ne Art Dreh­kraft in der sich ent­wi­ckeln­den mensch­li­chen Ge­sell­schaft, nicht nur hier auf Al­t­er­de, son­dern auf al­len vier­zehn Wel­ten, die auf­ge­bro­chen ist, um sich den Weg in die Zu­kunft zu bah­nen. Sie aber sind ein Mann, der weit­ge­hend über Fä­hig­kei­ten ver­fügt, um die Zu­kunft zu ge­stal­ten – zum Gu­ten wie zum Bö­sen.“

Bei die­sen Wor­ten spür­te ich wie­der ein­mal den Griff mei­ner Hän­de, die­sen fes­ten Griff, der die Blit­ze um­klam­mer­te. Ich stand da, hielt den Atem an und war­te­te dar­auf, daß er fort­fuhr. Aber es kam nichts mehr.

„Und …“, sag­te ich schließ­lich barsch.

„Hier gibt es kein Und und kein Aber“, mein­te Pad­ma. „Das ist al­les. Ha­ben Sie je et­was von On­to­ge­ne­se ge­hört?“

Ich schüt­tel­te den Kopf.

„Es ist die Be­zeich­nung für ei­ne un­se­rer exo­ti­schen kal­ku­la­ti­ven Tech­ni­ken“, sag­te er. „Kurz ge­sagt, han­delt es sich da­bei um ein sich kon­ti­nu­ier­lich ent­wi­ckeln­des Bild oder Mus­ter von Er­eig­nis­sen, um einen Rah­men, der al­le le­ben­den mensch­li­chen We­sen um­faßt. In der Mas­se be­stim­men Stre­ben und Wün­sche die­ser Men­schen die Rich­tung des Wachs­tums, das in die Zu­kunft hin­ein­ragt. Doch auch hier glaubt man zu schie­ben, aber man wird ge­scho­ben.“

Er leg­te ei­ne Pau­se ein und schau­te mich fra­gend an, als woll­te er wis­sen, ob ich ihn so­weit ver­stan­den hat­te. Ich aber hat­te ver­stan­den – oh, ich hat­te nur zu gut ver­stan­den. Aber ich woll­te nicht, daß er dies wuß­te.

„Wei­ter“, sag­te ich.

„Nur sehr sel­ten und nur ge­le­gent­lich“, fuhr er fort, „und nur bei we­ni­gen Ein­zel­we­sen fin­den wir ei­ne be­son­de­re Kom­bi­na­ti­on von Fak­to­ren – des Cha­rak­ters und der Po­si­ti­on des Be­tref­fen­den im Mus­ter –, ei­ne Kom­bi­na­ti­on, die ihn be­deu­tend ef­fek­ti­ver macht als al­le sei­ne Ka­me­ra­den. In sol­chen Fäl­len, wie auch bei Ih­nen, ha­ben wir es mit ei­nem Iso­lier­ten zu tun, ei­nem zen­tra­len Cha­rak­ter, ei­ner Per­sön­lich­keit, die weit­ge­hend auf das Sche­ma ein­wir­ken kann, wäh­rend sich das Sche­ma an sich nur we­nig oder gar nicht auf ihn aus­wirkt.“

Wie­der hielt er in­ne, und dies­mal fal­te­te er die Hän­de. Die­se Ges­te hat­te et­was End­gül­ti­ges an sich, und ich hol­te tief Luft, um mein Herz zu be­ru­hi­gen, das wie ra­send klopf­te.

„So“, sag­te ich. „Nun be­sit­ze ich an­geb­lich all die­se Ei­gen­schaf­ten – und trotz­dem kön­nen Sie mich für Ih­re Zwe­cke nicht brau­chen.“

„Mark möch­te Sie als Nach­fol­ger ha­ben, als Lei­ter des En­zy­klo­pä­die-Pro­jekts“, sag­te Pad­ma. „Das möch­ten wir auf den Exo­ti­schen Wel­ten auch. Denn die En­zy­klo­pä­die ist ein In­stru­ment, das nach sei­ner Vollen­dung nur durch we­ni­ge Per­sön­lich­kei­ten voll ge­nutzt wer­den kann. Die­se Kon­zep­ti­on kann aber nur von ei­ner ein­zig­ar­ti­gen Per­sön­lich­keit lau­fend in die All­tags­spra­che über­setzt wer­den. Oh­ne Mark oder einen Men­schen, der ihm ähn­lich ist und der die Kon­struk­ti­on über­bli­cken kann, zu­min­dest bis zu dem Zeit­punkt, wo die En­zy­klo­pä­die in den Welt­raum ver­setzt wird, dürf­te die Mensch­heit die Leis­tungs­fä­hig­keit die­ses Wer­kes bis zu des­sen Vollen­dung aus den Au­gen ver­lo­ren ha­ben, wo­bei das Werk in Miß­ver­ständ­nis­sen und Frus­tra­tio­nen en­den könn­te. Zu­nächst wür­de sich die Ar­beit ver­zö­gern, dann ins Sto­cken ge­ra­ten, bis schließ­lich das gan­ze Werk aus­ein­an­der­brö­ckelt.“

Er hielt in­ne und schau­te mich bei­na­he grim­mig an.

„Die En­zy­klo­pä­die wird nie vollen­det“, sag­te er, „es sei denn, daß wir für Mark einen Nach­fol­ger fin­den. Oh­ne sie aber wird der Er­den­mensch da­hin­schwin­den und ver­ge­hen. Wenn aber die­ser Mensch nicht mehr da ist, sind die hu­ma­nen Be­stre­bun­gen der Neu­en Wel­ten sinn­los. Doch all dies scheint Sie nicht zu küm­mern. Denn Sie sind es, der uns ab­lehnt, nicht um­ge­kehrt.“

Er blick­te durch den Raum mit Au­gen, die wie nuß­brau­ne Feu­er lo­der­ten.

„Sie leh­nen uns ab“, wie­der­hol­te er lang­sam. „Nicht wahr, Tam?“

Ich lös­te mich aus der Um­klam­me­rung sei­nes Blickes. Im glei­chen Au­gen­blick wuß­te ich, wor­auf er hin­aus­woll­te, und ich wuß­te auch, daß er recht hat­te. In die­sem Mo­ment sah ich mich im Stuhl hin­ter der Kon­so­le sit­zen, fest­ge­na­gelt durch ei­ne Pflicht für den Rest mei­nes Le­bens. Nein, ich woll­te das al­les nicht, nicht sie und nicht ih­re Wer­ke, we­der die Ar­beit an und in der En­zy­klo­pä­die oder wo­an­ders. Ich woll­te nichts der­glei­chen.

Hat­te ich so hart und so lan­ge ge­ar­bei­tet, um Ma­thi­as zu ent­kom­men, nur um jetzt al­les über Bord zu wer­fen und zum Skla­ven ir­gend­wel­cher Hilflo­sen zu wer­den – zum Skla­ven der großen Mas­se die­ser mensch­li­chen Ras­se, die zu schwach war, um selbst nach den Ster­nen zu grei­fen? Soll­te ich die Aus­sicht auf per­sön­li­che Macht und Frei­heit auf­ge­ben, nur um für die Ver­hei­ßung ei­ner Frei­heit zu ar­bei­ten, die in ne­bel­haf­ter Fer­ne lag – für sie, für die­je­ni­gen, die nicht in der La­ge wa­ren, sich ih­re Frei­heit selbst zu er­kämp­fen, auf die glei­che Wei­se, wie ich mir mei­ne per­sön­li­che Frei­heit zu er­kämp­fen ver­such­te? Nein und noch­mals nein – ich woll­te nichts da­mit zu tun ha­ben, auch nicht mit Tor­re und sei­ner En­zy­klo­pä­die!

„Nein!“ sag­te ich barsch. Mark Tor­re aber stieß einen klei­nen, hei­se­ren Laut her­vor, der tief aus sei­ner Keh­le drang.

„Nein. Und es ist gut so“, sag­te Pad­ma und nick­te. „Sie ken­nen kei­ne Be­geis­te­rung – Sie ha­ben kei­ne See­le.“

„See­le?“ frag­te ich. „Was ist denn das?“

„Kann ich mit ei­nem Blin­den über Far­ben spre­chen?“ Der Blick sei­ner glit­zern­den Au­gen ruh­te auf mir. „Sie wer­den es wis­sen, so­bald Sie da­hin­ter­ge­kom­men sind – aber Sie wer­den die­se Ent­de­ckung nur ma­chen, wenn Sie sich durch je­nes Tal hin­durch­ge­kämpft ha­ben, das ich be­reits er­wähn­te. Wenn Sie es schaf­fen, wer­den Sie höchst­wahr­schein­lich Ih­re mensch­li­che See­le fin­den. Sie wer­den es mer­ken, so­bald Sie Ih­re See­le ge­fun­den ha­ben.“

„Ein Tal“, gab ich schließ­lich zu­rück. „Was für ein Tal?“

„Sie wis­sen ganz ge­nau, was ich mei­ne, Tam“, sag­te Pad­ma ru­hig. „Sie wis­sen es bes­ser als ich. Ich mei­ne je­nes Tal des Geis­tes und der See­le, in dem all je­ne ein­ma­li­ge Krea­ti­vi­tät, die Ih­nen in­ne­wohnt, der Zer­stö­rung zum Op­fer fällt.“

ZER­STÖ­RE!“ Das war das Wort in der Stim­me mei­nes On­kels, das mir jetzt aus der Er­in­ne­rung her­aus wie Don­ner­schall ins Ohr dröhn­te, wie ein Zi­tat aus den Schrif­ten des Wal­ter Blunt, des­sen Wor­te Ma­thi­as stets im Mun­de führ­te. Plötz­lich, wie in Flam­men­schrift, stand es da, schlag­ar­tig er­blick­te ich die Kraft und die Mög­lich­kei­ten die­ses Wor­tes, das wie Fa­ckeln je­nen Weg be­leuch­te­te, den ich ge­hen woll­te.

Und eben­so plötz­lich er­stand vor mei­nem in­ne­ren Au­ge je­nes Tal, von dem Pad­ma ge­spro­chen hat­te, wur­de die­ses Tal zu ei­ner Wirk­lich­keit, die mich um­fing. Über­all um mich her­um türm­ten sich schwar­ze Mau­ern, vor mir aber lag der Weg, den ich ge­hen woll­te, ein schma­ler Pfad, der un­wei­ger­lich ab­wärts führ­te. Plötz­lich stieg ein Angst­ge­fühl in mir hoch, die Angst vor et­was Un­be­kann­tem, das un­sicht­bar in der Dun­kel­heit ver­bor­gen lag, ir­gend­ei­ne un­be­kann­te, amor­phe Le­bens­form, schwär­zer als schwarz, die in bo­den­lo­sen Tie­fen auf mich lau­er­te.

Gleich­zei­tig aber, mit­ten aus die­ser Angst, die mich vor dem Un­be­kann­ten zu­rück­schre­cken ließ, wuchs ei­ne sche­men­haf­te, ge­wal­ti­ge Freu­de in mir bei dem Ge­dan­ken, die­sem Un­be­kann­ten zu be­geg­nen. Von ganz hoch oben, wie der Klang ei­ner Glo­cke, drang die Stim­me von Mark Tor­re zu mir durch, als er zu Pad­ma sag­te:

„Al­so nichts, kei­ne Chan­ce für uns? Kön­nen wir denn wirk­lich nichts tun? Was ge­schieht, wenn er nie zu uns und zur En­zy­klo­pä­die zu­rück­fin­det?“

„Ih­nen bleibt nichts wei­ter üb­rig, als ab­zu­war­ten – und zu hof­fen, daß er ei­nes Ta­ges in un­se­ren Schoß ‚zu­rück­kehrt“, gab Pad­mas Stim­me zu­rück. „Wenn er all das, was er für sich ge­schaf­fen hat, durch­ste­hen und über­le­ben kann, so wird er viel­leicht zu­rück­keh­ren. Doch er hat die Wahl zwi­schen Him­mel und Höl­le, wie sie je­dem von uns frei­steht. Nur sind sei­ne Chan­cen grö­ßer als die un­se­ren.“

Die Wor­te aber tra­fen bei mir auf tau­be Oh­ren, wie ein klei­ner, kal­ter Re­gen­schau­er, wie ein kur­z­er, kal­ter Re­gen­guß, der aufs Pflas­ter klatscht. Ich fühl­te plötz­lich großes Ver­lan­gen da­nach weg­zu­ge­hen, al­les hin­ter mir zu las­sen, al­lein zu sein und nach­zu­den­ken. Ich er­hob mich schwer­fäl­lig.

„Wie kann ich hier her­aus­kom­men?“ frag­te ich dumpf.

„Li­sa“, sag­te Mark Tor­re trau­rig. Auch Li­sa er­hob sich.

„Hier ent­lang“, sag­te sie. Ihr Ge­sicht war blaß, aber aus­drucks­los. Sie dreh­te sich um und ging vor mir her.

Sie führ­te mich aus dem Raum und den Weg zu­rück, den wir ge­kom­men wa­ren. Wir gin­gen durch das Dreh-La­by­rinth, durch­schrit­ten die Räu­me und Kor­ri­do­re des En­zy­klo­pä­die-Pro­jekts und be­tra­ten dann die Vor­hal­le der En­kla­ve, wo un­se­re Grup­pe zu­erst auf sie ge­sto­ßen war. Die gan­ze Zeit über sprach sie kein Wort, doch als ich sie dann ver­las­sen woll­te, hielt sie mich plötz­lich auf, in­dem sie die Hand auf mei­nen Arm leg­te. Ich dreh­te mich um und schau­te sie an.

„Ich bin im­mer da“, sag­te sie. Und ich muß­te zu mei­nem Er­stau­nen fest­stel­len, daß in ih­ren brau­nen Au­gen Trä­nen schim­mer­ten. „Selbst wenn sonst kei­ner da ist – ich wer­de im­mer da sein!“

Dann dreh­te sie sich auf dem Ab­satz um und eil­te da­von. Ich schau­te ihr nach, plötz­lich zu­tiefst er­schüt­tert. Aber ich hat­te wäh­rend der letz­ten Stun­den so viel er­lebt, daß ich we­der Zeit noch Lust hat­te, dar­über nach­zu­den­ken oder her­aus­zu­fin­den, was das Mäd­chen ei­gent­lich mein­te, vor­hin und eben wie­der.

Ich fuhr mit der U-Bahn nach St. Louis zu­rück und er­wi­sch­te ge­ra­de noch die Raum­fäh­re nach Athen, wo­bei mir tau­send Ge­dan­ken durch den Kopf schos­sen.

Ich war so tief in mei­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken, daß ich, nach­dem ich das Haus mei­nes On­kels be­tre­ten hat­te, schnur­stracks in die Bi­blio­thek ging. Erst dort an­ge­kom­men, merk­te ich, daß Be­such zu­ge­gen war.

Mein On­kel saß in sei­nem ho­hen Oh­ren­ses­sel, ein al­tes, in Le­der ge­bun­de­nes Buch auf den Kni­en, das auf­ge­schla­gen vor ihm lag, von ihm aber an­schei­nend ver­ges­sen wor­den war. Mei­ne Schwes­ter, die of­fen­sicht­lich vor mir ein­ge­trof­fen war, stand et­was ab­seits ihm zu­ge­kehrt.

Auch ein schma­ler, dunk­ler jun­ger Mann war an­we­send, et­was klei­ner als ich selbst. Und für mich, der ich mich mit Ver­er­bungs­leh­re be­faßt hat­te, war so­fort klar, daß sei­ne Vor­fah­ren Ber­ber ge­we­sen wa­ren. Er war ganz in Schwarz ge­klei­det, das schwar­ze Haar über der Stirn kurz ge­schnit­ten, und er stand auf­recht da wie ei­ne blan­ke Schwert­klin­ge.

Es war der Frem­de, der in der En­kla­ve mit mei­ner Schwes­ter ge­spro­chen hat­te. Und das Ge­fühl dunk­ler Freu­de über die ver­spro­che­ne Be­geg­nung in der Tal­soh­le wall­te er­neut in mir auf. Denn hier war­te­te die ers­te Chan­ce auf mich, mei­nen neu ent­deck­ten Geist und mei­ne Kraft zu er­pro­ben, oh­ne mich um ei­ne Ge­le­gen­heit be­mü­hen zu müs­sen.