3
Ich weiß noch, daß ich nicht wieder zu mir kommen wollte. Mir kam es vor, als wäre ich auf einer langen, fernen Reise, als wäre ich lange Zeit abwesend gewesen. Als ich aber dann widerstrebend die Augen aufschlug, lag ich auf dem Boden, und Lisa beugte sich über mich. Einige Touristen unserer Gruppe drehten sich immer wieder um, um zu erfahren, was mir zugestoßen sei.
Lisa hob meinen Kopf vom Fußboden.
„Sie haben etwas gehört!“ sagte sie drängend, mit leiser Stimme, wobei sie ihre Worte flüsterte. „Was haben Sie gehört?“
„Gehört?“ Ich schüttelte den Kopf etwas benommen, indem ich mich an mein Erlebnis erinnerte, wobei ich fast erwartete, daß diese Kakophonie von Stimmen wieder auf mich einstürmte. Doch es war still um mich, und ich hörte nur Lisas fragende Stimme. „Gehört?“ wiederholte ich. „Ja – ich habe sie gehört.“
„Sie? Wer ist ‚sie’?“
Ich schaute zu ihr hinauf, und urplötzlich waren meine Sinne klar, und ebenso plötzlich fiel mir auch meine Schwester Eileen wieder ein. Ich rappelte mich hoch und schaute in die Ferne, schaute zum Eingang, wo sie an der Seite dieses Fremden gestanden hatte – doch der Eingang und der darüber liegende Raum waren leer. Die beiden … sie waren fort.
Irgendwie gelang es mir, wieder hochzukommen. Erschüttert, zerschlagen, entwurzelt, haltlos geworden, mit angeschlagenem Selbstvertrauen infolge dieses gewaltigen Wasserfalls von Stimmen, in den ich gefallen und von dem ich mitgerissen worden war, raubte mir das geheimnisvolle Verschwinden meiner Schwester den letzten Rest von Verstand. Ich ließ Lisas Frage unbeantwortet und begann die Rampe zum Eingang hinunterzulaufen, wo ich Eileen zuletzt im Gespräch mit diesem Fremden gesehen hatte.
So schnell mich aber auch meine langen Beine trugen, Lisa war trotzdem schneller. Selbst in ihrem blauen Gewand war sie so behende wie ein Wiesel. Sie holte mich ein, sie überholte mich, drehte sich um und verstellte mir den Weg, als ich am Ausgang anlangte.
„Wo wollen Sie hin?“ rief sie. „Sie können nicht einfach verschwinden, jedenfalls nicht sofort! Wenn Sie etwas gehört haben, muß ich Sie zu Mark Torre bringen! Er muß mit jedem sprechen, der irgend etwas gehört hat!“
Ich aber wollte nicht auf sie hören.
„Gehen Sie mir aus dem Weg“, murmelte ich, während ich sie unsanft beiseite schob. Ich schoß durch die Tür und dann in den kreisförmigen Geräteraum, der hinter der Tür lag. Dort waren Techniker in ihrer bunten Arbeitskleidung am Werk, die irgendwelche Metalle und Gläser auf unbegreifliche Weise zu einem unbekannten Zweck bearbeiteten – doch keine Spur von Eileen oder von dem Mann in Schwarz.
Ich raste durch den Raum und in den nächsten Korridor, aber auch dieser war leer. Ich lief den Korridor entlang, bog gleich nach rechts ab und öffnete die nächstbeste Tür, die ich vor mir sah. Drinnen Saßen ein paar Leute lesend und schreibend an verschiedenen Tischen, die mich verwundert anstarrten, doch Eileen und der Fremde waren nicht unter ihnen. Ich versuchte es in mehreren Zimmern, leider ohne Erfolg.
Beim fünften Zimmer holte mich Lisa wieder ein.
„Halt!“ sagte sie. Und diesmal legte sie Hand an mich, mit einer Kraft, die für eine solch zierliche Person erstaunlich war. „Wollen Sie endlich stehenbleiben? Und vielleicht einen Augenblick nachdenken? Was ist eigentlich los?“
„Was soll schon groß los sein!“ rief ich. „Meine Schwester …“ Dann hielt ich inne und überlegte kurz. Plötzlich wurde mir bewußt, wie unmöglich ich mich benommen hatte und wie merkwürdig es sich für Lisa anhören würde, wenn ich ihr den Grund für mein verzweifeltes Suchen verriet. Ein siebzehnjähriges Mädchen, das mit einem Fremden sprach, den ihr Bruder nicht kannte, war, selbst wenn es sich nachher von ihrer Gruppe trennte und mit dem Unbekannten fortging, kaum ein triftiger Grund für diese Art Amoklauf – zumindest nicht in unserer Zeit. Und ich war keinesfalls bereit, die unmöglichen Zustände vor Lisa breitzutreten, unter denen Eileen und ich im Hause unseres Onkels Mathias lebten.
Also sagte ich gar nichts.
„Sie müssen mit mir kommen“, sagte sie drängend. „Sie können ja gar nicht wissen, wie selten der Fall eintritt, daß jemand im Transitpunkt etwas hören kann. Sie können auch nicht wissen, was dies für Mark Torre bedeutet, für ihn ganz persönlich – jemanden zu entdecken, der etwas gehört hat!“
Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht die geringste Lust hatte, mit jemandem über das zu reden, was ich soeben erlebt und durchgemacht hatte – am wenigsten wollte ich aber wie ein Versuchskaninchen behandelt und durchleuchtet werden.
„Sie müssen!“ wiederholte Lisa. „Es bedeutet soviel. Und nicht nur für Mark, sondern für das ganze Projekt! Denken Sie einmal nach, und laufen Sie mir nicht schon wieder davon! Überlegen Sie sich, was Sie als nächstes tun wollen!“
Das Wort „überlegen“ drang zu mir durch, und allmählich konnte ich wieder klarer denken. Sie hatte ja so recht. Ich sollte wirklich lieber nachdenken, als wie ein Irrer herumzulaufen. Eileen und der schwarzgekleidete Fremde konnten sich überall in den Dutzenden von Räumen und Korridoren aufhalten – sie konnten aber auch das Projekt und die Enklave längst verlassen haben. Außerdem – was hätte ich sagen sollen, wenn ich die beiden doch noch irgendwo erwischt hätte? Sollte ich darauf bestehen, daß sich der Mann auswies und mir seine Absichten gegenüber meiner Schwester erklärte? Vielleicht war es sogar ein Glück, daß ich die beiden nicht aufgestöbert hatte.
Aber da war noch etwas anderes. Ich hatte schwer daran gearbeitet, um meinen Vertrag zu kriegen, den ich vor drei Tagen unterzeichnet hatte, frisch von der Universität, diesen Vertrag mit dem Interstellaren Nachrichtendienst. Doch bis ich das erreichen konnte, was mir vorschwebte, würde noch viel Zeit vergehen. Denn das, wonach ich strebte, was ich mir wünschte, war Freiheit. Und dafür war ich bereit, mit Zähnen und Klauen zu kämpfen, für diese echte Freiheit, die nur die Mitglieder der planetaren Regierungen besaßen – und außerdem eine besondere Gruppe, eben die Mitglieder der Gilde der Interstellaren Nachrichtendienste, die sich zur Unabhängigkeit und Neutralität bekannt hatten, technisch gesehen sämtlich Leute ohne Welt, ohne Heimat, deren Neutralität und Freiheit durch den jeweiligen Nachrichtendienst garantiert wurde, für den sie arbeiteten.
Denn die bewohnten Welten der menschlichen Rasse, waren gespalten – wie dies im Lauf der letzten zweihundert Jahre stets der Fall gewesen war –, gespalten in zwei Lager, wobei die einen ihre Leute durch „feste“ Verträge gängelten, während die anderen eher an sogenannte lockere Verträge glaubten. Bei den ersteren handelte es sich um die Quäkerwelten Harmonie und Eintracht sowie um Newton, Cassida und Venus und um die große neue Welt von Ceta im Zeichen des Tau Ceti. Auf der anderen Seite rangierten Alterde, Dorsai, die Exotischen Welten Mara und Kultis, Neuerde, Freiland, Mars sowie die kleine katholische Welt von St. Marie.
Was sie voneinander trennte, war ein Konflikt der Wirtschaftssysteme – ein Erbe der geteilten Alterde, die jene Welten ursprünglich kolonisiert hatte. Denn in unseren Tagen gab es nur eine einzige interplanetare Währung – nämlich die Münze des geschulten Geistes.
Nun war die Konkurrenz für einen einzelnen Planeten zu groß, um eigene Spezialisten auszubilden, zumal die anderen bessere Ergebnisse erzielten. Auch die beste Ausbildung auf der Erde oder auf irgendeiner der anderen Welten konnte keine Soldaten hervorbringen, die den Dorsai ebenbürtig waren. Nirgendwo gab es solche Physiker wie auf Newton, solche Psychologen wie die der Exoten, keine Rekruten und Wehrpflichtige, die so preiswert waren und sich so wenig aus Verlusten machten wie die von Harmonie und Eintracht – und so weiter und so fort. Demzufolge wurde auf einer bestimmten Welt nur ein bestimmter Profityp ausgebildet, der dann seine Dienste vertraglich einer anderen Welt zur Verfügung stellte und dafür jene Dienstleistungen in Anspruch nahm, die diese Welt brauchte und die irgendeine andere Welt zu bieten hatte.
Und die Trennung zwischen den beiden Lagern war scharf. In den sogenannten Lockervertragswelten war der Vertrag eines Menschen teilweise sein persönliches Eigentum und durfte ohne seine Zustimmung an keine andere Welt verkauft oder in Zahlung gegeben werden – außer in außerordentlich wichtigen Fällen oder wenn ein Notfall eintrat. Auf den Festvertragswelten dagegen war der einzelne der Willkür der Behörden ausgeliefert – sein Vertrag konnte ohne fristgerechte Kündigung von einer Stunde zur anderen verkauft oder verpfändet werden. In solchen Fällen blieb dem Betreffenden keine andere Wahl, als sich zum Einsatzort zu begeben und seine Arbeit aufzunehmen.
Also waren auf allen Welten sowohl die Unfreien wie auch die teilweise Freien zu finden. Auf den Lockervertragswelten, zu denen auch die Erde gehörte, genossen Menschen meines Schlages eine gewisse Freiheit. Ich aber wollte ganz frei sein, ich wünschte mir jene Freiheit, die mir nur als Gildemitglied zustand. Sobald ich in die Gilde aufgenommen war, rückte die Freiheit, die ich meinte, in greifbare Nähe. Denn der Vertrag für meine Dienstleistungen würde für alle Zeiten in den Besitz des Nachrichtendienstes übergehen.
Sobald dies geschehen war, konnte mich keine Welt mehr beanspruchen oder meine Dienste gegen meinen Willen an einen anderen Planeten verkaufen, wo sie mit geschultem Personal in der Kreide stand. Es war die reine Wahrheit, daß Alterde, anders als Newton, Cassida, Ceta und einige andere Welten, stolz darauf war, daß sie es niemals nötig gehabt hatte, ihre Akademiker en bloc gegen Spezialisten aus den jüngeren Welten zu verschachern. Doch wie die anderen Planeten auch behielt sich Alterde das Recht vor, in Notfällen ähnlich zu handeln – ein Umstand, von dem manch ein persönliches Schicksal Zeugnis ablegte.
Also konnte ich mein Ziel nur erreichen und meine Sehnsucht nach Freiheit, die in mir unter Mathias1 Dach stets neu genährt wurde, nur und nur mit Billigung des Nachrichtendienstes stillen, indem ich in die Reihen seiner Mitarbeiter aufgenommen wurde. Und trotz meiner ausgezeichneten Prüfungsergebnisse und Zeugnisse, so gut sie auch sein mochten, lag ein solches Ziel noch in weiter Ferne, ein Ziel, für das ich einen harten Kampf auszufechten und einen dornigen Pfad zu gehen hatte, um es zu erreichen. Ich durfte mir nichts entgehen lassen, was mich meinem Ziel auch nur einen Schritt näher brachte. Dabei wurde mir klar, daß ich wahrscheinlich eine Chance verpassen würde, wenn ich mich weigerte, Mark Torre aufzusuchen.
„Sie haben recht“, sagte ich zu Lisa. „Ich will ihn aufsuchen. Natürlich werde ich ihm einen Besuch abstatten. Wo muß ich hin?“
„Ich werde Sie führen“, erwiderte sie. „Ich möchte nur vorher kurz anrufen.“ Sie trat einige Schritte beiseite und sprach leise in das Fernsprechgerät, das sie am Ringfinger trug. Dann trat sie wieder zu mir und führte mich weiter.
„Und was geschieht mit den anderen?“ fragte ich, da mir plötzlich unsere Gruppe einfiel, die immer noch im Indexraum weilte.
„Ich habe um eine Vertretung gebeten, die sie weiter führen wird“, erwiderte Lisa. „Hier entlang.“
Sie führte mich durch eine Tür aus der Halle, und wir betraten eine Art Licht-Labyrinth, einen Drehraum. Für einen Augenblick war ich überrascht, doch dann wurde mir bewußt, daß Mark Torre, wie jeder andere, der im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, vor Irren und Spinnern geschützt werden mußte, die ihm möglicherweise gefährlich werden konnten. Wir traten aus dem Labyrinth in einen kleinen, leeren Raum und blieben wieder stehen.
Der Raum bewegte sich – ich weiß nicht, in welche Richtung – und hielt dann an.
„Hier entlang“, wiederholte Lisa und führte mich zu einer der Wände, die sie leicht berührte. Ein Teil der Wand tat sich auf, und wir betraten einen Raum, der wie ein Arbeitszimmer eingerichtet war, aber auch ein Steuerpult enthielt, hinter dem ein älterer Mann saß. Es war Mark Torre, und er sah genauso aus, wie ich ihn aus der Presse und aus den Medien kannte.
Zwar sah man ihm seine Jahre noch nicht an – er muß damals bereits über achtzig gewesen sein –, doch sein Gesicht war grau und von Krankheit gezeichnet. Seine Kleider schlotterten um seinen Körper, als wäre er in früheren Jahren kräftiger gewesen. Seine beiden auffallend großen Hände ruhten schlaff auf dem schmalen Brettchen vor der Tastatur, die grauen Knöchel infolge der Arthritis geschwollen, an der er litt.
Er erhob sich nicht, als wir eintraten, doch seine Stimme klang überraschend klar und jugendlich, als er zu sprechen begann, und seine Augen blitzten mich mit kaum verhohlener Freude an. Er bot uns Platz an und wartete, bis sich nach wenigen Minuten eine weitere Tür öffnete und ein Mann in mittleren Jahren den Raum betrat, der wohl von einer der Exotischen Welten stammte – ein leibhaftiger Exote mit durchdringenden, nußbraunen Augen im faltenlosen Gesicht unter kurzgeschnittenem, weißen Haar. Er trug das gleiche blaue Gewand wie Lisa.
„Mr. Olyn“, sagte Mark Torre, „das ist Padma, der Verbindungsmann von Mara für die Enklave von St. Louis. Er weiß bereits, wer Sie sind.“
„Wie geht es Ihnen?“ fragte ich förmlich. Padma lächelte.
„Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Tam Olyn“, sagte er und nahm Platz. Seine hellen, nußbraunen Augen ruhten keineswegs direkt auf mir – dennoch fühlte ich mich irgendwie unbehaglich. Es war nichts Besonderes an ihm – und gerade das war es, was mich störte. Sein Blick, sein Tonfall, selbst seine Art dazusitzen verrieten mir, daß er mich bereits besser kannte als irgendein anderer, ein Umstand, der mir nicht so recht gefallen wollte, vor allem nicht bei einem Mann, den ich nicht ebenso gut kannte.
Denn all das, was ich seit Jahren bei meinem Onkel bekämpft hatte, stieg in diesem Augenblick in mir auf, all die Bitterkeit meines Onkels Mathias, die er gegen die Menschen aus den Neuen Welten hegte, und lehnte sich gegen die Überlegenheit auf, die ich bei Padma, Verbindungsmann von Mara für die Enklave in St. Louis auf Alterde instinktiv spürte. Ich löste meinen Blick von dem seinen und schaute in die menschenähnlicheren Augen des Erdgeborenen Mark Torre.
„Da jetzt auch Padma unter uns weilt“, sagte der alte Mann, indem er sich eifrig über die Tastatur seiner Konsole lehnte, „wie war es also? Erzählen Sie uns, was Sie gehört haben!“
Ich schüttelte den Kopf, weil ich im Augenblick keine Möglichkeit sah, mein Erlebnis zu schildern. Milliarden von Stimmen, die alle gleichzeitig zu mir sprachen – das ließ sich unmöglich beschreiben.
„Ich habe Stimmen gehört“, erwiderte ich. „Stimmen, die alle gleichzeitig und trotzdem jeweils getrennt auf mich einredeten.“
„Viele Stimmen?“ fragte Padma.
Nun mußte ich ihn wieder anschauen.
„Alle Stimmen dieser Welt“, hörte ich mich sagen. Dann versuchte ich, mein Erlebnis zu schildern. Padma nickte. Doch während ich noch berichtete, wanderte mein Blick zu Torre zurück, und ich sah, wie er sich verwirrt und enttäuscht in seinen Sessel zurücklehnte.
„Nur Stimmen … nichts weiter?“ sagte der alte Mann wie für sich, nachdem ich geendet hatte.
„Warum?“ fragte ich verstört und beängstigt. „Was hätte ich sonst hören sollen? Was hören andere Leute, oder was hat jemals jemand vor mir gehört?“
„Das ist stets verschieden“, kam die beruhigende Stimme Padmas, der am Rande meines Gesichtsfeldes saß. Ich aber wollte ihn nicht anschauen, sondern ließ meinen Blick auf Mark Torre ruhen. „Jeder Mensch hört jeweils etwas anderes.“
Jetzt wandte ich mich dennoch Padma zu.
„Was haben Sie gehört?“ fragte ich herausfordernd. Er aber schenkte mir ein kleines, trauriges Lächeln.
„Nichts, Tam“, meinte er.
„Wenn schon mal jemand etwas hörte, dann war es stets ein Erdgeborener“, warf Lisa scharf ein, als müßte ich das wissen.
„Sie vielleicht?“ fragte ich und blickte sie scharf an.
„Ich … wieso ich? Natürlich nicht!“ gab sie zurück. „Seit dieses Projekt in Angriff genommen wurde, waren es kaum ein halbes Dutzend Leute, die je etwas gehört haben.“
„Weniger als ein halbes Dutzend?“ gab ich zurück.
„Fünf insgesamt“, meinte sie. „Mark ist natürlich einer von ihnen. Was die anderen vier betrifft, so ist einer bereits tot, und die anderen drei …“ – sie zögerte einen Augenblick, indem sie mich fest ins Auge faßte – „… waren ungeeignet.“
In ihrer Stimme schwang diesmal ein besonderer Ton mit, den ich jetzt zum erstenmal wahrnahm. Doch dann hatte ich diesen merkwürdigen Tonfall auch schon wieder vergessen, als ich mir der Zahl bewußt wurde, die sie genannt hatte.
Nur fünf insgesamt – und das in vierzig Jahren! Die Erkenntnis, daß das, was ich im Indexraum erlebt hatte, keine Kleinigkeit war und daß dieser Augenblick für Torre und Padma ebenso bedeutend war wie für mich selbst, traf mich wie ein Keulenschlag.
„Ach so?“ sagte ich, indem ich Torre anblickte, wobei es mir mit einiger Anstrengung gelang, meine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Was hat es dann zu bedeuten, wenn irgendwer irgend etwas hört?“
Er antwortete mir nicht direkt, sondern lehnte sich wieder vor, während seine alten, dunklen Augen wieder zu glitzern begannen und er mir die Finger seiner gewaltigen rechten Pranke entgegenstreckte.
„Greifen Sie zu“, sagte er.
Ich meinerseits streckte ebenfalls die Hand aus und spürte seine geschwollenen Knöchel in meinem Griff. Er packte meine Hand und hielt sie fest, wobei er mich für einen Augenblick anstarrte, während der Glanz allmählich aus seinen Augen wich und dann erlosch. Dann ließ er meine Hand los und sank wie ein Besiegter in seinen Sessel zurück.
„Nichts“, sagte er dumpf an Padma gewandt. „Wieder – nichts. Man hätte annehmen sollen, daß er etwas gespürt hätte – oder ich.“
„Dennoch“, sagte Padma ruhig, während er mich anschaute, „immerhin hat er etwas gehört.“
Ich spürte, wie seine nußbraunen exotischen Augen mich auf meinem Sitz festnagelten.
„Mark ist beunruhigt, Tam“, meinte er, „weil Sie nichts weiter als Stimmen gehört haben, die Sie weder verstanden haben noch ihnen eine Botschaft entnehmen konnten.“
„Was für eine Botschaft?“ wollte ich wissen. „Und was soll das heißen, daß ich nichts verstanden hätte?“
„Es liegt bei Ihnen, uns dies zu sagen.“ Dabei lastete sein Blick so hell auf mir, daß ich mich plötzlich unbehaglich fühlte, wie ein Vogel oder eine Eule im Scheinwerferlicht. Ich spürte, wie meine Furcht plötzlich in Groll umschlug.
„Was hat dies alles mit Ihnen zu tun?“ fragte ich.
Wieder einmal schenkte er mir ein kleines Lächeln.
„Unsere exotische Stiftung“, sagte er, „steuert ein Großteil zur Finanzierung dieses Enzyklopädie-Projektes bei. Dies ist ein irdisches Projekt. Was uns bewegt, ist lediglich die Verantwortung für all jene Werke, die dazu beitragen, daß der Mensch den Menschen und sich selbst besser zu verstehen lernt. Darüber hinaus gibt es aber Meinungsverschiedenheiten und Abweichungen zwischen unserer und Marks Philosophie.“
„Meinungsverschiedenheiten?“ fragte ich zurück. Ich hatte damals schon einen guten Riecher für Neuigkeiten, obwohl ich frisch von der Schulbank kam, und jetzt kribbelte es richtig in der Nase.
Aber Padma lächelte, als hätte er meine Gedanken gelesen.
„Es ist nichts Neues“, sagte er. „Diese grundlegende Meinungsverschiedenheit besteht von Anfang an. Kurz und bündig: Wir auf den Exotischen Welten glauben, daß der Mensch weiter zu vervollkommnen ist. Unser Freund Mark hingegen meint, daß der Erdenmensch, der Urmensch an sich – bereits vollkommen ist, nur bisher nicht in der Lage war, seine Vollkommenheit aufzudecken und von ihr Gebrauch zu machen.“
Ich starrte ihn an.
„Und was hat das mit mir zu tun?“ fragte ich. „Und mit dem, was ich gehört habe?“
„Es kommt darauf an, ob Sie ihm – oder uns – nützlich sein können“, erwiderte Padma ruhig. Mein Herz erstarrte für einen Augenblick. Denn sollten die Exoten oder Mark Torre meinen Vertrag bei der Erdregierung anfordern, konnte ich gleich alle Hoffnung fahren lassen, jemals in die Gilde der Nachrichtendienste aufgenommen zu werden.
„Wahrscheinlich keinem von beiden – glaube ich“, versetzte ich so gleichgültig wie möglich.
„Vielleicht. Wir werden sehen“, meinte Padma. Er hielt die Hand hoch und streckte den Zeigefinger nach oben. „Sehen Sie diesen Finger, Tam?“
Ich schaute auf seinen Zeigefinger. Und während ich noch hinschaute, glitt der Finger plötzlich auf mich zu, wuchs ins Unermeßliche und verdeckte die Sicht auf alles andere, was sich sonst im Raum befand. Zum zweitenmal an diesem Nachmittag verließ ich das Jetzt und Heute des realen Universums, um mich an einen irrealen Ort zu begeben.
Plötzlich war ich von Blitzen umgeben. Um mich herum herrschte Finsternis, doch ich wurde von Blitzschlägen verfolgt und getrieben – in irgendein riesiges Universum, viele Lichtjahre entfernt, hin und her gestoßen in einem gigantischen Kampf.
Zunächst konnte ich diesen Kampf, dieses Streben nicht begreifen. Doch dann wurde mir allmählich klar, daß all diese peitschenden Blitze eine furiose Anstrengung fürs Überleben und für den Sieg darstellten im Kampf gegen die mich umgebende, alte, ewig dahinströmende Finsternis, die stets versucht, all diese Blitze zu unterdrücken und auszulöschen. Es war auch nicht irgendein beliebiger Kampf, den ich erlebte. Jetzt erkannte ich Hinterhalt und Niederlage, Strategie und Taktik, Schlag und Gegenschlag in diesem Kampf um die Macht zwischen Blitz und Finsternis.
Dann im gleichen Augenblick, tauchte die Erinnerung an den Klang der Milliarden Stimmen auf, die wieder um mich im Rhythmus der Blitzschläge anschwollen, und gab mir den Schlüssel für all das, was ich erblickte. Urplötzlich, so wie ein einziger flammender Blitz in Sekundenschnelle eine Landschaft meilenweit im Umkreis erhellt, erkannte ich intuitiv all das Geschehen, das um mich herum ablief.
Es war der jahrhundertealte Kampf des Menschen, seine Rasse zu erhalten und in die Zukunft vorzudringen, das unermüdliche, furiose Bestreben dieses tierischen und göttlichen, primitiven und raffinierten, wilden und zivilisierten und komplizierten Organismus, der die menschliche Rasse darstellte und der um sein Fortkommen und seinen Fortschritt kämpfte. Vorwärts und hinauf, immer weiter hinauf, bis das Unmögliche erreicht war, bis alle Schranken durchbrochen, alle Leiden besiegt, alle Fähigkeiten erworben waren, bis es nur noch Blitze und keine Finsternis mehr gab.
Es waren die Stimmen dieser endlosen und stetigen Bemühungen durch die Jahrhunderte, die ich dort im Indexraum vernommen hatte. Es war dasselbe Streben, das die Exoten mit ihrer fremdartigen Magie der psychologischen und philosophischen Wissenschaften einzufangen versuchten, jenes Streben, für das die Enzyklopädie letztlich bestimmt war, um die verflossenen Jahrhunderte der menschlichen Existenz zu durchforschen, damit der Weg des Menschen in die Zukunft sinnvoll berechnet werden kann.
Das war es, was Padma, Mark Torre, was jedermann und auch mich bewegte. Denn jedes menschliche Wesen war in der strebsamen Masse seiner Mitmenschen gefangen und konnte sich dem Lebenskampf nicht entziehen. Jeder von uns, der in diesem Augenblick lebte, war in diesen Kampf verstrickt, als Teilnehmer und als Spielball dieses Kampfes zugleich.
Doch bei diesem Gedanken wurde mir plötzlich bewußt, daß ich anders war, nicht nur ein Spielball fremder Mächte. Ich war mehr als das – vielleicht eine Art potentielle Macht, möglicherweise sogar Herr dieser Ereignisse. Da geschah es erstmals, daß ich Hand an die Blitze legte, die über meinem Haupte zuckten, und versuchte, sie zu beherrschen, zu wenden und zu führen und sie zu zwingen, meinen Zwecken und meinen Wünschen zu dienen.
Dennoch wurde ich durch unermeßliche Weiten geschleudert, aber nicht mehr wie ein Schiff über die sturmgepeitschte See, sondern wie ein Kahn, den ich fest im Griff hatte, um mit dem Wind zu segeln. Und im gleichen Augenblick überkam mich zum ersten Mal das Gefühl meiner eigenen Festigkeit und Kraft. Denn die Blitze schmiegten sich in meine Hand, gehorchten meinem Willen und ließen sich führen und lenken. Ich spürte es deutlich – diese entfesselte Kraft in mir, die jeder Beschreibung spottet. Und schließlich wurde mir auch bewußt, daß ich nie zu den Schwachen und Herumgestoßenen gehört hatte. Ich war ein Herr und Meister, und ich hatte die Gabe, zumindest teilweise in diesem Kampf zwischen Licht und Finsternis all das nach meinem Willen zu formen, was ich berührte.
Erst jetzt wurde mir bewußt, wie dünn solche Menschen wie ich gesät sind. Sie waren wie ich Herren und Meister, die gleich mir auf den Flügeln des Sturmwinds dahinflogen, der durch das Streben der Massen unserer menschlichen Rasse erzeugt wurde. Dieser Sturm konnte uns für Sekunden zusammenkehren und im nächsten Moment äonenweit auseinandertreiben. Doch ich konnte sie sehen und sie mich. Und ich wurde mir bewußt, daß sie nach mir riefen, daß sie mich aufforderten, nicht für mich allein zu kämpfen, sondern mich mit ihnen im gemeinsamen Streben, im gemeinsamen Kampf zu vereinen, um die Schlacht für uns zu entscheiden und die Menschheit aus dem Chaos herauszuführen.
Doch alles in mir sträubte sich gegen diesen Ruf. Ich war zu lange unterdrückt und mit Füßen getreten worden, man hatte mich viel zu lange herumgestoßen. Jetzt aber hatte ich die wilde Freude erlebt, selbst auf den Wogen zu reiten und nicht geritten zu werden, war mir meiner Macht und meiner Fähigkeiten bewußt. Ich wollte das gemeinsame Streben nicht, ich wollte mich dem nicht fugen, um schließlich die Menschheit zum ersehnten Frieden zu fuhren und diesen mit ihr zu erlangen, ich wollte nichts weiter als diesen berauschenden Wirbel, diesen rauschartigen Sog erleben, auf seinen Wogen dahintreiben und ihn beherrschen. Ich war durch die Finsternis, in der mein Onkel lebte, zu lange gebunden und versklavt worden, um jetzt nicht die Freiheit, die mein eigen war, in vollen Zügen zu genießen. Jetzt war ich frei, war ein Meister dieser Welt, und nichts konnte mich dazu bringen, mich freiwillig wieder in Ketten legen zu lassen. Ich streckte die Hand nach den Blitzen aus, nach dem Licht, und spürte, wie mein Griff immer fester und immer umfassender wurde.
Urplötzlich befand ich mich wieder in Mark Torres Büro.
Mark, das Gesicht wie in Stein gemeißelt, starrte mich an. Auch Lisa schaute mit kalkweißem Gesicht in meine Richtung. Unmittelbar vor mir aber saß Padma, der mich mit ruhigem Blick musterte.
„Nein“, sagte er. „Sie haben recht, Tam. Sie können uns hier in der Enzyklopädie nicht von Nutzen sein.“
Ein leiser Laut kam von Lisas Lippen, ein kleiner Seufzer, der sich fast wie ein Schmerzensschrei anhörte. Doch dieser Laut ging im Röcheln von Mark Torre unter, das sich anhörte wie das Röcheln eines tödlich verwundeten Bären, der immer noch versuchte, sich auf die Hinterbeine zu stellen und seine Feinde anzugreifen.
„Nicht?“ sagte er. Torre hatte sich hinter seinem Schreibtisch aufgerichtet und wandte sich jetzt an Padma. Seine geschwollene Rechte lag zur Faust geballt auf der Tischplatte. „Er muß – er muß unbedingt! Es ist zwanzig Jahre her, seitdem jemand im Indexraum etwas gehört hat – und ich werde alt!“
„Alles, was er gehört hat, waren die Stimmen. Und diese haben in ihm keinen Funken gezündet. Sie haben auch nichts gespürt, als Sie ihn berührten“, sagte Padma. Er sprach leise und wie aus weiter Ferne, stieß die Wörter eins nach dem anderen hervor, wie Soldaten, die auf einen Befehl hin marschierten. „Und das, weil nichts vorhanden ist, keine Identität mit den anderen. Er besitzt den ganzen Mechanismus, jedoch kein Einfühlungsvermögen – keine Kraftquelle, die sich damit verbindet.“
„Sie können ihn auf Vordermann bringen! Verdammt noch mal …“ – die Stimme des alten Mannes klang wie eine Glocke, doch er war den Tränen nahe – „… auf den Exotischen Welten könnten Sie ihn heilen!“
Padma schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Er kann sich nur selbst helfen. Er ist weder krank noch defekt, sondern lediglich etwas unterentwickelt. Irgendwann in seiner Jugend muß er sich von den Menschen abgewandt und in ein dunkles, einsames Tal zurückgezogen haben, und mit den Jahren wurde dieses Tal immer tiefer, dunkler und schmaler, so daß ihm keiner hindurchhelfen kann. Kein anderer Geist kann dieses Tal durchschreiten und darin überleben – vielleicht nicht einmal seiner. Bevor er aber dieses Tal nicht durchschritten hat und am Ende angelangt ist, wo er wieder ans Licht kommen kann, nützt er weder Ihnen noch der Enzyklopädie und damit all jenem, was diese für die Menschen auf Alterde und sonstwo bedeutet. Und nicht nur das: Er würde Ihren Posten nicht annehmen, selbst wenn Sie es ihm anböten. Schauen Sie ihn sich an.“
Sein Blick, der die ganze Zeit auf mir geruht hatte, die langsame, stetige Art zu sprechen, seine Worte, die wie kleine Steinchen eines nach dem anderen in ein bodenloses, ruhiges Wasser fielen, hatten mich gelähmt, auch als er über mich sprach, als wäre ich gar nicht vorhanden. Doch bei seinen letzten Worten ließ dieser Einfluß nach, und ich fühlte, daß ich wieder frei sprechen konnte.
„Sie haben mich hypnotisiert!“ schrie ich ihn an. „Ich habe Sie keineswegs ermächtigt, mich … mich zu psychoanalysieren!“
Padma schüttelte den Kopf.
„Ich habe Sie nicht hypnotisiert“, erwiderte er. „Ich habe Ihnen lediglich ein Fenster zu Ihrem inneren Bewußtsein aufgestoßen. Ich habe Sie auch nicht psychoanalysiert.“
„Was war es also …“ Dann, plötzlich wachsam geworden, brach ich ab.
„Was immer Sie gesehen oder gefühlt haben“, sagte er, „waren Ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle, in Ihre eigenen Symbole übersetzt. Natürlich habe ich keine Ahnung, welcher Art diese Symbole waren – ich habe auch keine Möglichkeit, das herauszufinden, wenn Sie es mir nicht selbst sagen.“
„Wie konnten Sie sich dann so schnell entscheiden?“ fauchte ich ihn an. „Sie haben Ihre Entscheidung ziemlich rasch getroffen. Was war eigentlich der Grund dafür?“
„Ihr Benehmen“, erwiderte er. „Die Art, wie Sie sich darstellten, Ihre Handlungen, Ihre Stimme, als Sie soeben zu mir gesprochen haben, und ein gutes Dutzend anderer Signale. Das war’s, Tam.
Ein menschliches Wesen äußert sich mit seinem Körper und seinem ganzen Sein, nicht nur allein durch seine Stimme oder durch seinen Gesichtsausdruck.“
„Ich glaub’s einfach nicht!“ Ich war Feuer und Flamme – doch plötzlich kühlte sich mein Mut ab, als eine leise Warnung und die Gewißheit in mir aufstiegen, daß tatsächlich irgendwelche Gründe vorhanden sein mußten, warum ich ihm keinen Glauben schenken durfte, selbst wenn ich diese Gründe im Augenblick nicht erkennen konnte. „Ich kann’s nicht glauben“, wiederholte ich daher in ruhigerem und kühlerem Tonfall. „Es muß noch etwas anderes mitgespielt haben, etwas Wesentliches, daß Sie zu dieser Entscheidung geführt hat.“
„Ja“, versetzte er, „natürlich. Ich hatte die Möglichkeit, die Unterlagen zu prüfen, gewissermaßen Ihre Personalakte, Ihren persönlichen Werdegang, der wie der Lebenslauf aller Erdenbürger, die hier und heute leben, bereits in der Enzyklopädie gespeichert ist. Ich habe also einen Blick in diese Unterlagen geworfen, bevor ich hierherkam.“
„Das allein war es auch nicht“, sagte ich grimmig. „Da muß noch etwas anderes vorhanden sein, das kann ich Ihnen versichern. Ich weiß es bestimmt!“
„Oh ja“, erwiderte Padma, indem er sanft ausatmete. „Da sie alles dies durchgemacht haben, dürften Sie wohl Bescheid wissen. Auf jeden Fall werden Sie es recht bald aus sich heraus erfahren.“ Er hob den Blick, um ihn direkt in den meinen zu versenken, doch diesmal konnte ich seinem Blick ohne ein Gefühl der Unterlegenheit begegnen.
„Zufälligerweise ist es so, Tam“, sagte er, „daß es sich bei Ihnen um einen sogenannten Isolierten handelt, um einen seltenen Angelpunkt in Gestalt eines Einzelwesens – um eine Art Drehkraft in der sich entwickelnden menschlichen Gesellschaft, nicht nur hier auf Alterde, sondern auf allen vierzehn Welten, die aufgebrochen ist, um sich den Weg in die Zukunft zu bahnen. Sie aber sind ein Mann, der weitgehend über Fähigkeiten verfügt, um die Zukunft zu gestalten – zum Guten wie zum Bösen.“
Bei diesen Worten spürte ich wieder einmal den Griff meiner Hände, diesen festen Griff, der die Blitze umklammerte. Ich stand da, hielt den Atem an und wartete darauf, daß er fortfuhr. Aber es kam nichts mehr.
„Und …“, sagte ich schließlich barsch.
„Hier gibt es kein Und und kein Aber“, meinte Padma. „Das ist alles. Haben Sie je etwas von Ontogenese gehört?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Es ist die Bezeichnung für eine unserer exotischen kalkulativen Techniken“, sagte er. „Kurz gesagt, handelt es sich dabei um ein sich kontinuierlich entwickelndes Bild oder Muster von Ereignissen, um einen Rahmen, der alle lebenden menschlichen Wesen umfaßt. In der Masse bestimmen Streben und Wünsche dieser Menschen die Richtung des Wachstums, das in die Zukunft hineinragt. Doch auch hier glaubt man zu schieben, aber man wird geschoben.“
Er legte eine Pause ein und schaute mich fragend an, als wollte er wissen, ob ich ihn soweit verstanden hatte. Ich aber hatte verstanden – oh, ich hatte nur zu gut verstanden. Aber ich wollte nicht, daß er dies wußte.
„Weiter“, sagte ich.
„Nur sehr selten und nur gelegentlich“, fuhr er fort, „und nur bei wenigen Einzelwesen finden wir eine besondere Kombination von Faktoren – des Charakters und der Position des Betreffenden im Muster –, eine Kombination, die ihn bedeutend effektiver macht als alle seine Kameraden. In solchen Fällen, wie auch bei Ihnen, haben wir es mit einem Isolierten zu tun, einem zentralen Charakter, einer Persönlichkeit, die weitgehend auf das Schema einwirken kann, während sich das Schema an sich nur wenig oder gar nicht auf ihn auswirkt.“
Wieder hielt er inne, und diesmal faltete er die Hände. Diese Geste hatte etwas Endgültiges an sich, und ich holte tief Luft, um mein Herz zu beruhigen, das wie rasend klopfte.
„So“, sagte ich. „Nun besitze ich angeblich all diese Eigenschaften – und trotzdem können Sie mich für Ihre Zwecke nicht brauchen.“
„Mark möchte Sie als Nachfolger haben, als Leiter des Enzyklopädie-Projekts“, sagte Padma. „Das möchten wir auf den Exotischen Welten auch. Denn die Enzyklopädie ist ein Instrument, das nach seiner Vollendung nur durch wenige Persönlichkeiten voll genutzt werden kann. Diese Konzeption kann aber nur von einer einzigartigen Persönlichkeit laufend in die Alltagssprache übersetzt werden. Ohne Mark oder einen Menschen, der ihm ähnlich ist und der die Konstruktion überblicken kann, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo die Enzyklopädie in den Weltraum versetzt wird, dürfte die Menschheit die Leistungsfähigkeit dieses Werkes bis zu dessen Vollendung aus den Augen verloren haben, wobei das Werk in Mißverständnissen und Frustrationen enden könnte. Zunächst würde sich die Arbeit verzögern, dann ins Stocken geraten, bis schließlich das ganze Werk auseinanderbröckelt.“
Er hielt inne und schaute mich beinahe grimmig an.
„Die Enzyklopädie wird nie vollendet“, sagte er, „es sei denn, daß wir für Mark einen Nachfolger finden. Ohne sie aber wird der Erdenmensch dahinschwinden und vergehen. Wenn aber dieser Mensch nicht mehr da ist, sind die humanen Bestrebungen der Neuen Welten sinnlos. Doch all dies scheint Sie nicht zu kümmern. Denn Sie sind es, der uns ablehnt, nicht umgekehrt.“
Er blickte durch den Raum mit Augen, die wie nußbraune Feuer loderten.
„Sie lehnen uns ab“, wiederholte er langsam. „Nicht wahr, Tam?“
Ich löste mich aus der Umklammerung seines Blickes. Im gleichen Augenblick wußte ich, worauf er hinauswollte, und ich wußte auch, daß er recht hatte. In diesem Moment sah ich mich im Stuhl hinter der Konsole sitzen, festgenagelt durch eine Pflicht für den Rest meines Lebens. Nein, ich wollte das alles nicht, nicht sie und nicht ihre Werke, weder die Arbeit an und in der Enzyklopädie oder woanders. Ich wollte nichts dergleichen.
Hatte ich so hart und so lange gearbeitet, um Mathias zu entkommen, nur um jetzt alles über Bord zu werfen und zum Sklaven irgendwelcher Hilflosen zu werden – zum Sklaven der großen Masse dieser menschlichen Rasse, die zu schwach war, um selbst nach den Sternen zu greifen? Sollte ich die Aussicht auf persönliche Macht und Freiheit aufgeben, nur um für die Verheißung einer Freiheit zu arbeiten, die in nebelhafter Ferne lag – für sie, für diejenigen, die nicht in der Lage waren, sich ihre Freiheit selbst zu erkämpfen, auf die gleiche Weise, wie ich mir meine persönliche Freiheit zu erkämpfen versuchte? Nein und nochmals nein – ich wollte nichts damit zu tun haben, auch nicht mit Torre und seiner Enzyklopädie!
„Nein!“ sagte ich barsch. Mark Torre aber stieß einen kleinen, heiseren Laut hervor, der tief aus seiner Kehle drang.
„Nein. Und es ist gut so“, sagte Padma und nickte. „Sie kennen keine Begeisterung – Sie haben keine Seele.“
„Seele?“ fragte ich. „Was ist denn das?“
„Kann ich mit einem Blinden über Farben sprechen?“ Der Blick seiner glitzernden Augen ruhte auf mir. „Sie werden es wissen, sobald Sie dahintergekommen sind – aber Sie werden diese Entdeckung nur machen, wenn Sie sich durch jenes Tal hindurchgekämpft haben, das ich bereits erwähnte. Wenn Sie es schaffen, werden Sie höchstwahrscheinlich Ihre menschliche Seele finden. Sie werden es merken, sobald Sie Ihre Seele gefunden haben.“
„Ein Tal“, gab ich schließlich zurück. „Was für ein Tal?“
„Sie wissen ganz genau, was ich meine, Tam“, sagte Padma ruhig. „Sie wissen es besser als ich. Ich meine jenes Tal des Geistes und der Seele, in dem all jene einmalige Kreativität, die Ihnen innewohnt, der Zerstörung zum Opfer fällt.“
„ZERSTÖRE!“ Das war das Wort in der Stimme meines Onkels, das mir jetzt aus der Erinnerung heraus wie Donnerschall ins Ohr dröhnte, wie ein Zitat aus den Schriften des Walter Blunt, dessen Worte Mathias stets im Munde führte. Plötzlich, wie in Flammenschrift, stand es da, schlagartig erblickte ich die Kraft und die Möglichkeiten dieses Wortes, das wie Fackeln jenen Weg beleuchtete, den ich gehen wollte.
Und ebenso plötzlich erstand vor meinem inneren Auge jenes Tal, von dem Padma gesprochen hatte, wurde dieses Tal zu einer Wirklichkeit, die mich umfing. Überall um mich herum türmten sich schwarze Mauern, vor mir aber lag der Weg, den ich gehen wollte, ein schmaler Pfad, der unweigerlich abwärts führte. Plötzlich stieg ein Angstgefühl in mir hoch, die Angst vor etwas Unbekanntem, das unsichtbar in der Dunkelheit verborgen lag, irgendeine unbekannte, amorphe Lebensform, schwärzer als schwarz, die in bodenlosen Tiefen auf mich lauerte.
Gleichzeitig aber, mitten aus dieser Angst, die mich vor dem Unbekannten zurückschrecken ließ, wuchs eine schemenhafte, gewaltige Freude in mir bei dem Gedanken, diesem Unbekannten zu begegnen. Von ganz hoch oben, wie der Klang einer Glocke, drang die Stimme von Mark Torre zu mir durch, als er zu Padma sagte:
„Also nichts, keine Chance für uns? Können wir denn wirklich nichts tun? Was geschieht, wenn er nie zu uns und zur Enzyklopädie zurückfindet?“
„Ihnen bleibt nichts weiter übrig, als abzuwarten – und zu hoffen, daß er eines Tages in unseren Schoß ‚zurückkehrt“, gab Padmas Stimme zurück. „Wenn er all das, was er für sich geschaffen hat, durchstehen und überleben kann, so wird er vielleicht zurückkehren. Doch er hat die Wahl zwischen Himmel und Hölle, wie sie jedem von uns freisteht. Nur sind seine Chancen größer als die unseren.“
Die Worte aber trafen bei mir auf taube Ohren, wie ein kleiner, kalter Regenschauer, wie ein kurzer, kalter Regenguß, der aufs Pflaster klatscht. Ich fühlte plötzlich großes Verlangen danach wegzugehen, alles hinter mir zu lassen, allein zu sein und nachzudenken. Ich erhob mich schwerfällig.
„Wie kann ich hier herauskommen?“ fragte ich dumpf.
„Lisa“, sagte Mark Torre traurig. Auch Lisa erhob sich.
„Hier entlang“, sagte sie. Ihr Gesicht war blaß, aber ausdruckslos. Sie drehte sich um und ging vor mir her.
Sie führte mich aus dem Raum und den Weg zurück, den wir gekommen waren. Wir gingen durch das Dreh-Labyrinth, durchschritten die Räume und Korridore des Enzyklopädie-Projekts und betraten dann die Vorhalle der Enklave, wo unsere Gruppe zuerst auf sie gestoßen war. Die ganze Zeit über sprach sie kein Wort, doch als ich sie dann verlassen wollte, hielt sie mich plötzlich auf, indem sie die Hand auf meinen Arm legte. Ich drehte mich um und schaute sie an.
„Ich bin immer da“, sagte sie. Und ich mußte zu meinem Erstaunen feststellen, daß in ihren braunen Augen Tränen schimmerten. „Selbst wenn sonst keiner da ist – ich werde immer da sein!“
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte davon. Ich schaute ihr nach, plötzlich zutiefst erschüttert. Aber ich hatte während der letzten Stunden so viel erlebt, daß ich weder Zeit noch Lust hatte, darüber nachzudenken oder herauszufinden, was das Mädchen eigentlich meinte, vorhin und eben wieder.
Ich fuhr mit der U-Bahn nach St. Louis zurück und erwischte gerade noch die Raumfähre nach Athen, wobei mir tausend Gedanken durch den Kopf schossen.
Ich war so tief in meinen Gedanken versunken, daß ich, nachdem ich das Haus meines Onkels betreten hatte, schnurstracks in die Bibliothek ging. Erst dort angekommen, merkte ich, daß Besuch zugegen war.
Mein Onkel saß in seinem hohen Ohrensessel, ein altes, in Leder gebundenes Buch auf den Knien, das aufgeschlagen vor ihm lag, von ihm aber anscheinend vergessen worden war. Meine Schwester, die offensichtlich vor mir eingetroffen war, stand etwas abseits ihm zugekehrt.
Auch ein schmaler, dunkler junger Mann war anwesend, etwas kleiner als ich selbst. Und für mich, der ich mich mit Vererbungslehre befaßt hatte, war sofort klar, daß seine Vorfahren Berber gewesen waren. Er war ganz in Schwarz gekleidet, das schwarze Haar über der Stirn kurz geschnitten, und er stand aufrecht da wie eine blanke Schwertklinge.
Es war der Fremde, der in der Enklave mit meiner Schwester gesprochen hatte. Und das Gefühl dunkler Freude über die versprochene Begegnung in der Talsohle wallte erneut in mir auf. Denn hier wartete die erste Chance auf mich, meinen neu entdeckten Geist und meine Kraft zu erproben, ohne mich um eine Gelegenheit bemühen zu müssen.