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Ich hat­te er­war­tet, daß sie viel eher auf­tau­chen wür­den. Die Quä­ker wa­ren na­tür­lich über­all um uns und in un­se­rer Nä­he, seit­dem wir den Hü­gel mit sei­nem to­ten Kom­man­dan­ten ver­las­sen hat­ten. Die­se zwei muß­ten zu den­je­ni­gen ge­hö­ren, die als ers­te die Stel­lung ent­deckt hat­ten, dann aber wei­ter­ge­zo­gen wa­ren.

Es ge­hör­te näm­lich zu ih­ren Auf­ga­ben, wich­ti­ge Wi­der­stands­nes­ter der Cas­si­da­ner aus­zu­ma­chen und dann Ver­stär­kung her­an­zu­ho­len, um die­se Stel­len zu eli­mi­nie­ren. Viel­leicht ge­hör­ten auch Horch­ge­rä­te zu ih­rer Aus­rüs­tung, wahr­schein­lich ach­te­ten sie aber zu­nächst we­nig dar­auf, da ih­nen das Ge­rät nichts wei­ter ver­mit­tel­te als das Streit­ge­spräch zwei­er Män­ner, und das war nach ih­ren Be­feh­len zu un­be­deu­tend, um sich wei­ter dar­um zu küm­mern.

Doch wenn ein ein­zel­ner Mann um Hil­fe rief, so war dies Er­eig­nis un­ge­wöhn­lich ge­nug, um der Sa­che nach­zu­ge­hen. Ein Strei­ter Got­tes konn­te sich nicht die Blö­ße ge­ben, sol­ches zu tun, ob er nun per­sön­li­cher Hil­fe be­durf­te oder nicht. Und warum soll­te ein Cas­si­da­ner um Hil­fe ru­fen, in ei­nem Ge­län­de, wo kei­ne Kampf­hand­lun­gen statt­fan­den? Wer aber soll­te au­ßer den Strei­tern Got­tes oder ih­ren be­waff­ne­ten Geg­nern sich in die­sem Ge­län­de auf­hal­ten?

Nun wuß­ten sie al­so Be­scheid – ein Be­richt­er­stat­ter und sein As­sis­tent, Zi­vi­lis­ten oben­drein, wie ich den bei­den so­fort er­klär­te. Den­noch blie­ben ih­re Waf­fen wei­ter im An­schlag.

„Macht doch die Au­gen auf!“ rief ich ih­nen zu. „Seht ihr denn nicht, daß ich einen Arzt brau­che? Bringt mich so­fort zu ei­nem eu­rer Feld­la­za­ret­te!“

Sie schau­ten mich aus ih­ren glat­ten, jun­gen Ge­sich­tern mit un­schul­di­gen Au­gen an. Der ei­ne trug das Ab­zei­chen ei­nes Ober­ge­frei­ten auf dem Kra­gen­spie­gel, der an­de­re war nur ein ein­fa­cher Schüt­ze. Bei­de wa­ren noch un­ter zwan­zig.

„Wir ha­ben kei­ne Be­feh­le, die be­sa­gen, von un­se­rem Weg ab­zu­wei­chen und in ir­gend­ein Feld­la­za­rett zu­rück­zu­keh­ren“, sag­te der Ober­ge­frei­te, in­dem er als Rang­höchs­ter in bei­der Na­men sprach. „Ich kann Sie nur zu ei­ner Sam­mel­stel­le für Kriegs­ge­fan­ge­ne füh­ren, wo man sich Ih­rer zwei­fel­los an­neh­men wird.“ Er trat einen Schritt zu­rück, die Waf­fe im­mer noch auf uns ge­rich­tet. „Hilf dem an­de­ren, Gre­ten, sei­nen ver­wun­de­ten Mit­menschen zu füh­ren“, sag­te er zu sei­nem Ka­me­ra­den, wo­bei er wie­der in sei­nen al­ter­tüm­li­chen Dia­lekt ver­fiel. „Stüt­ze ihn, und ich wer­de dich be­glei­ten. Gib mir dein Ge­wehr.“

Der an­de­re gab ihm sein Ge­wehr, und ich, auf ihn und Da­ve ge­stützt, hum­pel­te dies­mal et­was be­que­mer wei­ter, ob­wohl mich der Schmerz im­mer noch pei­nig­te. Schließ­lich er­reich­ten wir ei­ne Lich­tung. Es war nicht ei­ne die­ser mit ho­hem Gras be­wach­se­nen Lich­tun­gen, son­dern ei­ne of­fe­ne Stel­le, die ein um­ge­stürz­ter Rie­sen­baum un­ter den üb­ri­gen Bäu­men frei­ge­pflügt hat­te. Dort be­fan­den sich et­wa zwan­zig nie­der­ge­schla­ge­ne Cas­si­da­ner, ent­waff­net und von vier ju­gend­li­chen Quä­kern be­wacht, ähn­lich je­nen bei­den, die uns ge­fan­gen­ge­nom­men hat­ten.

Da­ve und der jun­ge Quä­ker lie­ßen mich vor­sich­tig zu Bo­den glei­ten und lehn­ten mich ge­gen den um­ge­stürz­ten Baum­stamm. Dann trie­ben sie Da­ve zu den üb­ri­gen uni­for­mier­ten Cas­si­da­nern, die eben­falls ne­ben dem um­ge­stürz­ten Baum­stamm stan­den, die vier be­waff­ne­ten Quä­ker-Wa­chen vor sich. Ich rief, man sol­le Da­ve als Zi­vi­lis­ten bei mir las­sen, in­dem ich auf sei­ne wei­ße Arm­bin­de und die feh­len­den Rang­ab­zei­chen hin­wies. Doch die sechs Leu­te in ih­rer schwar­zen Uni­form igno­rier­ten mich.

„Wer ist der Rang­höchs­te hier?“ frag­te der Ober­ge­frei­te.

„Ich bin der äl­tes­te“, er­wi­der­te ei­ner von den vier Wach­män­nern. „Aber dienstrang­mä­ßig ste­he ich un­ter dir.“

Das stimm­te. Doch der Mann war min­des­tens Mit­te Zwan­zig, al­so be­deu­tend äl­ter als die an­de­ren, und sein Ton­fall ver­riet den er­fah­re­nen Sol­da­ten, der nicht lan­ge fa­ckel­te.

„Die­ser Mann ist Be­richt­er­stat­ter“, sag­te der Ober­ge­frei­te und deu­te­te auf mich. „Er be­haup­tet, daß der an­de­re un­ter sei­nem Schutz steht. Na­tür­lich muß der Nach­rich­ten­mann ärzt­lich ver­sorgt wer­den. Und da wir ihn nicht zum nächs­ten Feld­la­za­rett brin­gen kön­nen, soll­test du den Fall hö­he­ren Orts mel­den.“

„Wir ha­ben kein Mel­de­ge­rät“, sag­te der an­de­re. „Un­se­re Mel­de­zen­tra­le ist zwei­hun­dert Me­ter wei­ter.“

„Gre­ten und ich wer­den hier­blei­ben und uns der Wa­che zu­ge­sel­len, wäh­rend ei­ner von euch zur Mel­de­zen­tra­le geht.“

„Un­se­re Be­feh­le“, mein­te der an­de­re stör­risch, „se­hen nicht vor, daß ei­ner von uns aus ei­nem sol­chen Grund sei­nen Pos­ten ver­läßt.“

„Dies hier dürf­te ein Son­der­fall sein.“

„Ist aber nicht vor­ge­se­hen.“

„Im­mer­hin …“

„Ich ha­be dir ge­sagt, daß die Be­feh­le so et­was nicht vor­se­hen!“ fuhr ihn der an­de­re an. „Wir kön­nen nichts tun, be­vor nicht ein Of­fi­zier oder ein Grup­pen­füh­rer hier ein­trifft!“

„Wird bald ei­ner kom­men?“ Der Ober­ge­frei­te war durch die Ve­he­menz der Ein­wän­de des äl­te­ren er­schüt­tert und be­dach­te mich mit ei­nem un­si­che­ren Blick. Und mir war, als hät­te er be­reits be­reut, die Mög­lich­keit ei­ner ärzt­li­chen Hil­fe für uns über­haupt er­wähnt zu ha­ben. Doch ich hat­te den Mann an­schei­nend un­ter­schätzt. Sein Ge­sicht war zwar bleich, doch er re­de­te be­schwö­rend auf den äl­te­ren ein.

„Ich weiß es nicht“, er­wi­der­te der an­de­re.

„Dann wer­de ich zu eu­rer Mel­de­zen­tra­le ge­hen. War­te hier, Gre­ten.“

Da­mit schul­ter­te er sein Ge­wehr und ging fort. Wir ha­ben ihn nie wie­der­ge­se­hen.

Mitt­ler­wei­le be­gan­nen der Zorn und das Ad­rena­lin in mei­nem Kör­per, die mir ge­hol­fen hat­ten, die Schmer­zen im Un­ter­stand zu be­kämp­fen, die die Bei­ne, die Knieschei­be, das Fleisch, die Ner­ven und die Kno­chen durch­bohr­ten, zu ver­rau­chen und zu schwin­den. Ich spür­te nicht mehr den im­mer wie­der­keh­ren­den, ste­chen­den Schmerz, wenn ich ver­such­te, das Bein zu be­we­gen. Es war eher ein stän­dig an­schwel­len­der, ste­ti­ger Schmerz, der in den Ober­schen­kel aus­strahl­te, und ich fühl­te mich we­ni­ger be­nom­men. Ich be­gann mich zu fra­gen, ob ich die­sen Schmerz wohl aus­hal­ten konn­te – und dann, plötz­lich, fiel es mir wie Schup­pen von den Au­gen, so wie es ei­nem er­geht, wenn er plötz­lich er­kennt, daß das, wo­nach er ge­sucht hat, in greif­ba­rer Nä­he liegt. Mir war mein Gür­tel ein­ge­fal­len.

An die­sem Gür­tel aber war, wie am Kop­pel ei­nes je­den Sol­da­ten, ein klei­ner Feld­ver­band­kas­ten be­fes­tigt. Ich muß­te trotz mei­ner Schmer­zen fast la­chen, als ich jetzt nach dem Kas­ten griff. Ich klapp­te das Käst­chen auf und hol­te zwei acht­e­cki­ge Ta­blet­ten her­aus. Un­ter den Bäu­men wur­de es all­mäh­lich dun­kel, so daß ich die ro­te Far­be der Pil­len nicht er­ken­nen konn­te, doch ich konn­te ih­re Form er­tas­ten, und das ge­nüg­te. Die acht­e­cki­ge Form war zu die­sem Zweck ge­wählt wor­den.

Ich zer­kau­te die Ta­blet­te und schluck­te sie oh­ne Flüs­sig­keit her­un­ter. Mir war, als wür­de ich aus der Fer­ne Da­ves Stim­me er­ken­nen, der sich im­mer noch ziem­lich laut ge­bär­de­te. Doch die Pil­le be­gann so­fort ih­re be­täu­ben­de, be­ru­hi­gen­de Wir­kung zu ent­fal­ten, die sich über mei­nen gan­zen Kör­per aus­brei­te­te. Der Schmerz war be­reits ver­schwun­den, ich aber fühl­te mich in­takt und wie neu ge­bo­ren – und nichts küm­mer­te mich mehr au­ßer dem Frie­den und dem Wohl­ge­fühl, das mei­nen Kör­per durch­ström­te.

Wie­der hör­te ich Da­vid ru­fen. Dies­mal ver­stand ich ihn, doch das, was er sag­te, stör­te mich nicht. Er sag­te, er ha­be mir be­reits die Schmerz­ta­blet­ten aus sei­nem Vor­rat ge­ge­ben, als ich vor­hin zwei­mal das Be­wußt­sein ver­lo­ren hat­te. Ich hät­te al­so ei­ne Über­do­sis ge­schluckt und wür­de drin­gend Hil­fe brau­chen. Eben­falls, wie aus der Fer­ne, wuchs die Dun­kel­heit um mich her­um, und ich ver­nahm ein Dröh­nen wie Donner­grol­len über mir, und dann, eben­falls wie aus wei­ter Fer­ne, drang ei­ne fei­ne, an­ge­neh­me Mu­sik an mein Ohr, wie das Trom­meln von Mil­lio­nen Re­gen­trop­fen, die auf das Laub­dach über mir klat­schen.

Dann ent­schweb­te ich in ein an­ge­neh­mes Nichts.

 

Als ich wie­der zu mir kam, ach­te­te ich sehr we­nig auf das, was um mich her­um vor­ging, da mir die Nach­wir­kun­gen der Über­do­sis zu schaf­fen mach­ten. Mein Knie schmerz­te nicht mehr, da ich es nicht be­wegt hat­te, doch es war ge­schwol­len und steif wie ei­ne stäh­ler­ne Stan­ge. So­bald ich aber das Knie be­weg­te, schoß der Schmerz in mir hoch und er­schüt­ter­te mich wie ei­ne Ex­plo­si­on.

Ich er­brach mich und be­gann mich da­nach et­was woh­ler füh­len. Und all­mäh­lich wur­de ich mir auch des­sen be­wußt, was um mich her­um vor­ging. Ich war naß bis auf die Haut, weil der Re­gen, der sich zu­nächst im Laub der Bäu­me ver­fan­gen hat­te, nun bis zu uns durch­ge­drun­gen war. Et­was wei­ter un­ter den Bäu­men stan­den die Ge­fan­ge­nen und ih­re Wäch­ter in ei­ner lo­cke­ren Grup­pe, un­ter ih­nen ein Neu­an­kömm­ling, der die schwar­ze Uni­form der Quä­ker trug. Es war ein Grup­pen­füh­rer in mitt­le­ren Jah­ren, schlank und mit zer­furch­tem Ge­sicht. Er hat­te den Mann, der Gre­ten hieß, bei­sei­te ge­zo­gen, um mit ihm zu spre­chen.

Über uns, in je­nen klei­nen Lücken zwi­schen den Zwei­gen, die der Rie­sen­baum beim Um­stür­zen ver­schont hat­te, als er die­se klei­ne Lich­tung bil­de­te, hat­te sich der Him­mel nach dem Ge­wit­ter auf­ge­klärt. Aber der Him­mel war im­mer noch be­wölkt, und die Wol­ken glüh­ten im Far­ben­spiel der sin­ken­den Son­ne. Vor mei­nen Au­gen, die im­mer noch von der Dro­ge ge­trübt wa­ren, schi­en das Abend­rot her­ab­zu­stei­gen und um­ran­de­te die Um­ris­se der durch­näß­ten, grau­ge­klei­de­ten Ge­fan­ge­nen und glit­zer­te auf den durch­weich­ten schwar­zen Uni­for­men der Quä­ker.

Rot und Schwarz, Schwarz und Rot – al­les Ge­stal­ten, sche­men­haf­te Ge­stal­ten wie in ei­nem Kir­chen­fens­ter, über dem sich das Laub­dach der Bäu­me wie ein Dom wölb­te. Ich aber saß da, frös­telnd in mei­nen durch­weich­ten Klei­dern, und starr­te auf die bei­den Män­ner, die sich leb­haft un­ter­hiel­ten. Und all­mäh­lich dran­gen ih­re Wor­te an mein Ohr, ob­wohl sie lei­se spra­chen, um von den Ge­fan­ge­nen nicht ge­hört zu wer­den.

„Du bist ein Kinds­kopf!“ schnarr­te der Grup­pen­füh­rer. In sei­ner Er­re­gung hob er den Kopf, und das ro­te Him­mels­licht der Abend­däm­merung be­leuch­te­te sein Ge­sicht. Zum ers­ten­mal konn­te ich sein Ge­sicht deut­lich er­ken­nen, und sei­ne Zü­ge zeig­ten den glei­chen her­ben und ab­sto­ßen­den Fa­na­tis­mus, den ich sei­ner­zeit bei je­nem Mann im Haupt­quar­tier der Quä­ker ge­se­hen hat­te, der da­mals den Paß für Da­ve nicht un­ter­zeich­nen las­sen woll­te.

„Du bist wirk­lich ein Kinds­kopf!“ wie­der­hol­te er. „Du bist ein Grün­schna­bel! Was weißt du über den Kampf, den wir Ge­ne­ra­ti­on für Ge­ne­ra­ti­on aus­zu­tra­gen hat­ten, um auf un­se­rer her­ben und stei­ni­gen Welt Fuß zu fas­sen? Was weißt du über Hun­ger und Not, wenn selbst die Frau­en und die klei­nen Kin­der nichts zu bei­ßen ha­ben, wenn all die­se Kin­der Got­tes hun­gern müs­sen? Was weißt du von den Ab­sich­ten der­je­ni­gen, die uns aus­ge­sandt ha­ben, um zu kämp­fen, da­mit un­ser Volk le­ben und ge­dei­hen mö­ge, in dem Wis­sen, daß al­le an­de­ren Men­schen froh wä­ren, wenn wir tot wä­ren und un­se­re Hoff­nung mit uns ins Grab sin­ken wür­de?“

„Ei­nes weiß ich“, er­wi­der­te der jun­ge Sol­dat, wenn sei­ne Stim­me auch sein ju­gend­li­ches Al­ter ver­riet und et­was zit­ter­te. „Wir ha­ben ei­ne Auf­ga­be zu er­fül­len, wir ha­ben auf die Söld­ner­kon­ven­ti­on ge­schwo­ren und …“

„Halt den Mund, Milch­bart!“ zisch­te der Grup­pen­füh­rer. „Was gel­ten sol­che Ge­set­ze vor dem Ge­setz des All­mäch­ti­gen? Was gel­ten dei­ne Schwü­re, die du dem Gott des Krie­ges ge­leis­tet hast? Lo, dein Äl­tes­ter vom Äl­tes­ten­rat, der der Strah­len­de ge­nannt wird, hat ver­kün­det, daß die­ser Tag für die Zu­kunft un­se­res Vol­kes ent­schei­dend ist und daß wir an die­sem Tag sie­gen müs­sen. Al­so müs­sen wir sie­gen – und sonst gar nichts!“

„Aber ich ha­be Ih­nen be­reits er­klärt …“

„Du hast mir nichts zu er­klä­ren und nichts zu sa­gen! Ich bin dein Vor­ge­setz­ter! Und als sol­cher ha­be ich über dich zu be­feh­len! Un­se­re Be­feh­le lau­ten, daß wir un­se­re Streit­kräf­te sam­meln und zu ei­nem neu­en An­griff an­tre­ten sol­len. Du und die­se vier Mann dort müs­sen sich un­ver­züg­lich in der Zen­tra­le mel­den. Ob ihr nun zu die­ser Ein­heit ge­hört oder nicht, spielt kei­ne Rol­le. Ihr seid ge­ru­fen wor­den und müßt ge­hor­chen!“

„Dann soll­ten wir die Ge­fan­ge­nen mit­neh­men und …“

„Du hast zu ge­hor­chen!“ Der Grup­pen­füh­rer riß sei­ne Such­ge­schoß-Schleu­der von der Schul­ter und brach­te sie in An­schlag. Dann schal­te­te er mit dem Dau­men auf Au­to­ma­tik. Gre­ten schloß für ei­ne Se­kun­de die Au­gen und schluck­te. Doch als er wie­der zu spre­chen be­gann, klang sei­ne Stim­me im­mer noch fest.

„Mein Le­ben lang bin ich im Schat­ten des Herrn ge­wan­delt, der da ist Hoff­nung und Wahr­heit …“ hör­te ich ihn sa­gen, und der Ge­wehr­lauf kam hoch. Ich rief dem Grup­pen­füh­rer zu:

„Sie! He, Sie da – Grup­pen­füh­rer!“

Er schnell­te her­um, wie ein Wolf, der das Knacken ei­nes Zwei­ges un­ter dem Stie­fel des Jä­gers ver­nimmt – und nun war ich es, der durch das Vi­sier den Lauf der auf Au­to­ma­tik ein­ge­stell­ten Waf­fe ent­lang­blick­te. Dann kam er auf mich zu, die Waf­fe im­mer noch im An­schlag, und sein star­res, eis­kal­tes Fa­na­ti­ker­ge­sicht schau­te über die Waf­fe auf mich her­ab.

„Du bist wohl et­was zart be­sai­tet, wie?“ sag­te er mit schnar­ren­der Stim­me. Mir war, als wür­de er je­den ver­ach­ten, der schwach ge­nug war, ei­ne Schmerz­ta­blet­te zu neh­men, um sei­ne Schmer­zen los­zu­wer­den.

„Zart be­sai­tet ge­nug, um Ih­nen ei­ni­ges zu sa­gen“, krächz­te ich. Mei­ne Keh­le war tro­cken, und mein Bein be­gann wie­der zu schmer­zen, doch das war nur gut für mich, um mei­nen Zorn wie­der zu we­cken und die Wut zu schü­ren, die all­mäh­lich in mir zu ko­chen be­gann. „Hö­ren Sie zu. Ich bin Be­richt­er­stat­ter. Sie sind weit ge­nug her­um­ge­kom­men, um zu wis­sen, daß die­ser Um­hang und das Ba­rett nur von je­man­dem ge­tra­gen wer­den, der auch da­zu be­rech­tigt ist. Aber um auch die letz­ten Zwei­fel aus­zuräu­men …“ – ich griff in mei­ne Ta­sche und hol­te mei­ne Be­glau­bi­gung her­vor – „… hier sind mei­ne Pa­pie­re. Prü­fen Sie sie.“

Er nahm sie ent­ge­gen und blät­ter­te sie rasch durch.

„Das hät­ten wir al­so ge­klärt“, sag­te ich, als er sich das letz­te Blatt an­ge­se­hen hat­te. „Ich bin Be­richt­er­stat­ter, und Sie sind Grup­pen­füh­rer. Und ich bit­te Sie nicht um ir­gend et­was – ich ver­lan­ge es von Ih­nen! Ich will un­ver­züg­lich zu ei­nem Feld­la­za­rett ge­bracht wer­den. Und ich will, daß mein As­sis­tent dort drü­ben …“ – und ich deu­te­te auf Da­ve – „… mich dort­hin be­glei­tet. Jetzt! Nicht in zehn Mi­nu­ten, nicht ein­mal in zwei Mi­nu­ten, son­dern so­fort! Die­se Sol­da­ten, die uns hier be­wacht ha­ben, wa­ren viel­leicht der An­sicht, nicht da­zu be­fugt zu sein, mei­nen As­sis­ten­ten und mich frei­zu­las­sen und mich zu ei­nem Feld­la­za­rett zu brin­gen – aber Sie sind es ganz be­stimmt. Und ich will, daß Sie das ver­an­las­sen!“

Er hob den Blick von den Pa­pie­ren und starr­te mich an, und in sei­nen Ge­sichts­zü­gen mach­te sich ei­ne ei­gen­ar­ti­ge Här­te breit. Sein Blick äh­nel­te dem ei­nes Man­nes, der den Griff je­ner ab­schüt­telt, die ihn zum Gal­gen füh­ren – und der dem Ort sei­ner Exe­ku­ti­on ver­ächt­lich und er­ho­be­nen Hauptes ent­ge­gen­schrei­tet.

„Du bist Be­richt­er­stat­ter“, sag­te er und at­me­te tief durch. „Ja, du ge­hörst zur Brut des Teu­fels. Du bist ei­ner von de­nen, die mit Lü­gen und falschen Be­rich­ten auf al­len Men­schen­wel­ten Haß ge­gen­über uns Jün­gern des Herrn und un­se­ren Glau­ben sä­en. Ich ken­ne dich ge­nau, Be­richt­er­stat­ter …“ – er starr­te mich mit schwar­zen und ein­ge­fal­le­nen Au­gen an – „… und dei­ne Pa­pie­re sind für mich nur Ab­fall und dum­mes Zeug. Doch ich wer­de dir dei­nen Wil­len las­sen und dir zei­gen, wie un­be­deu­tend du bist und wie ge­ring all dei­ne schmut­zi­gen Be­rich­te. Ich wer­de dir ei­ne Sto­ry ge­ben, die du auf­schrei­ben kannst. Und du sollst sie auf­schrei­ben und se­hen, daß dei­ne Wor­te nicht mehr sind als tro­ckenes Laub, das vor den mar­schie­ren­den Stie­feln der Ge­salb­ten des Herrn weht.“

„Brin­gen Sie mich zu ei­nem La­za­rett“, sag­te ich.

„Dar­auf wirst du noch et­was war­ten“, ant­wor­te­te er. „Au­ßer­dem“, sag­te er und wink­te mit den Pa­pie­ren in mei­ne Rich­tung, „se­he ich hier zwar dei­nen Pas­sier­schein, aber kei­nen von ei­ner be­voll­mäch­tig­ten Dienst­stel­le un­se­res Hee­res aus­ge­stell­ten Aus­weis, der demje­ni­gen vol­les Durch­gangs­recht ge­währt, den du dei­nen As­sis­ten­ten nennst. Des­halb wird er nicht mit dir kom­men, son­dern hier bei den an­de­ren Ge­fan­ge­nen in glei­cher Uni­form blei­ben und dem Schick­sal ge­gen­über­tre­ten, das der Herr für sie vor­ge­se­hen hat.“

Er warf mir die Pa­pie­re in den Schoß, dreh­te sich um und stol­zier­te zu den Ge­fan­ge­nen zu­rück. Ich rief ihm nach und ver­lang­te, er sol­le zu mir zu­rück­kom­men. Doch er be­ach­te­te mich nicht.

Aber Gre­ten lief ihm hin­ter­her, hielt ihn am Arm fest und flüs­ter­te ihm et­was ins Ohr, wäh­rend er mit weit aus­ho­len­den Ge­bär­den auf die Grup­pe von Ge­fan­ge­nen deu­te­te. Der Grup­pen­füh­rer schob ihn mit ei­nem so hef­ti­gen Stoß sei­nes Arms von sich, daß er tau­mel­te.

„Ge­hö­ren sie et­wa zu den Aus­er­wähl­ten?“ rief der Grup­pen­füh­rer. „Sind sie Aus­er­wähl­te des Herrn?“

Und er wir­bel­te wü­tend her­um. Sei­ne auf Dau­er­feu­er jus­tier­te Such­ge­schoß-Schleu­der be­droh­te nicht nur Gre­ten, son­dern auch die an­de­ren Wa­chen.

„An­tre­ten!“ schrie er.

Sie ver­lie­ßen ih­re Wacht­pos­ten bei den Ge­fan­ge­nen – ei­ni­ge wie zö­gernd, an­de­re has­tig – und for­mier­ten sich in Reih und Glied di­rekt vor dem Grup­pen­füh­rer.

„Ihr sollt al­les der Mel­des­am­mel­stel­le be­rich­ten. Ach­tung!“ schnapp­te der Grup­pen­füh­rer. „Rechts schwenkt!“ Und sie wand­ten sich um. „Marsch!“

Und so rück­ten sie ab. In den Schat­ten der Bäu­me ver­lor ich sie bald aus den Au­gen.

Der Grup­pen­füh­rer sah ih­nen einen Au­gen­blick nach, dann rich­te­te er sei­ne Auf­merk­sam­keit und die Such­ge­schoß-Schleu­der in sei­ner Hand wie­der auf die cas­si­da­ni­schen Ge­fan­ge­nen. Sie wi­chen ein we­nig vor ihm zu­rück, und ich sah die hel­le, ver­schwom­me­ne Kon­tur von Da­ves Ge­sicht, das sich mir kurz zu­wand­te.

„Al­so – eu­re Wa­chen sind ab­mar­schiert“, sag­te der Grup­pen­füh­rer mit lang­sa­mer und grim­mi­ger Stim­me zu ih­nen, „da­mit sie an ei­nem bald be­gin­nen­den Sturm­an­griff teil­neh­men kön­nen, der eu­re Trup­pen völ­lig ver­nich­ten wird. Für die­sen An­griff, zu dem wir von un­se­ren Äl­tes­ten im Kon­zil auf­ge­ru­fen sind, wird je­der ein­zel­ne Sol­dat des Herrn be­nö­tigt. Selbst ich muß ge­hen – und ich kann Fein­de wie euch nicht un­be­wacht hin­ter un­se­ren Li­ni­en zu­rück­las­sen, da­mit sie dort un­se­rem Sieg Scha­den zu­fü­gen kön­nen. Des­halb schi­cke ich euch nun zu ei­nem Ort, wo ihr kei­ne Ge­fahr dar­stellt für die Ge­salb­ten des Herrn.“

In die­sem Au­gen­blick – in die­sem einen Au­gen­blick – be­griff ich zum ers­ten­mal, was er mein­te. Und ich öff­ne­te den Mund, um zu schrei­en. Doch ich brach­te kei­nen Ton her­vor. Ich ver­such­te auf­zu­ste­hen, aber mein stei­fes Bein hin­der­te mich dar­an, Und so lehn­te ich an dem Baum­stumpf, mit of­fe­nem Mund, den Arm halb er­ho­ben … ge­fan­gen im Ker­ker des Au­gen­blicks.

Er er­öff­ne­te das Dau­er­feu­er auf die un­be­waff­ne­ten Män­ner vor ihm. Und sie fie­len – Da­ve mit­ten un­ter ih­nen. Sie fie­len und stürz­ten und star­ben.