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„Sie kom­men mit der be­son­de­ren Emp­feh­lung von Trup­pen­kom­man­deur Was­sel“, sag­te er, nach­dem er mir die Hand ge­schüt­telt hat­te. „Für einen Be­richt­er­stat­ter ist das sehr un­ge­wöhn­lich.“ Es war ei­ne Fest­stel­lung, kein Spott. Und ich folg­te sei­ner Ein­la­dung – es war bei­nah eher ein Be­fehl als ei­ne Ein­la­dung –, mich zu set­zen, als er sich wie­der ab­wand­te und hin­ter sei­nem Schreib­tisch Platz nahm, über den hin­weg er mich mus­ter­te.

Macht schlum­mer­te in die­sem Mann, die Hit­ze ei­ner schwar­zen Flam­me. Wie die Hit­ze – das kam mir plötz­lich in den Sinn – der schla­fen­den Flam­me des Schieß­pul­vers, das 1687 von den Tür­ken im Par­the­non ge­la­gert wor­den war: Ei­ne von den Ve­ne­zia­nern un­ter Mo­ro­si­ni ab­ge­feu­er­te Gra­na­te hat­te die schwar­zen Kör­ner ex­plo­die­ren las­sen und das Zen­trum je­nes wei­ßen Tem­pels in die Luft ge­jagt. In mei­nem In­nern hat­te im­mer ei­ne be­son­ders fins­te­re Ecke aus Ab­scheu die­ser Gra­na­te und die­ser Ar­mee ge­gen­über exis­tiert – denn für mich als Jun­ge war das Par­the­non das hel­le Licht ge­we­sen, das Ma­thi­as’ Dun­kel­heit er­leuch­te­te, und die von der Gra­na­te ver­ur­sach­te Zer­stö­rung hat­te Zeug­nis da­von ab­ge­legt, wie je­ne Dun­kel­heit zu sie­gen ver­moch­te, selbst im Zen­trum des Lichts.

Als ich den Äl­tes­ten Strah­len­den be­ob­ach­te­te, brach­te ich ihn in mei­nen Ge­dan­ken in Ver­bin­dung mit die­sem al­ten Haß, ach­te­te aber dar­auf, die­se Emp­fin­dung vor sei­nen se­zie­ren­den Bli­cken zu ver­ber­gen. Nur bei Pad­ma hat­te ich bis­her einen so durch­drin­gen­den und fes­seln­den Blick be­merkt – und auch hier stand ein ana­ly­ti­scher Geist da­hin­ter.

Denn die Au­gen gli­chen de­nen ei­nes Tor­que­ma­da{3}, dem An­trei­ber der In­qui­si­ti­on im mit­tel­al­ter­li­chen Spa­ni­en – wie be­reits an­de­re vor mir fest­ge­stellt hat­ten. Auch die Quä­ker-Kir­chen hat­ten ih­re spe­zi­el­len Be­auf­trag­ten, die sich um Un­ter­drückung und Aus­lö­schung von Ket­ze­rei küm­mer­ten. Aber hin­ter die­sen Au­gen ar­bei­te­te die po­li­ti­sche In­tel­li­genz ei­nes Ver­stan­des, der wuß­te, wann er die Zü­gel lo­ckern oder straf­fer an­zie­hen muß­te, mit de­nen er zwei Pla­ne­ten kon­trol­lier­te. Zum ers­ten­mal in mei­nem Le­ben konn­te ich mich in die La­ge von je­man­dem ver­set­zen, der al­lein in einen Lö­wen­kä­fig tritt und hört, wie sich das stäh­ler­ne Git­ter hin­ter ihm schließt.

Und es war auch das ers­te­mal, daß mir die Knie weich wur­den, seit ich da­mals im Re­gis­ter­zim­mer der Letz­ten En­zy­klo­pä­die ge­stan­den hat­te. Denn – was war, wenn die­ser Mann kei­nen schwa­chen Punkt be­saß und ich mei­ne Plä­ne ver­ei­tel­te, in­dem ich ver­such­te, ihn zu be­ein­flus­sen?

Aber die Er­fah­run­gen von Tau­sen­den von In­ter­views ka­men mir zu Hil­fe, und selbst als ich von Zwei­feln ge­plagt und ge­quält wur­de, ar­bei­te­te mei­ne Zun­ge ganz au­to­ma­tisch.

„… Trup­pen­kom­man­deur Was­sel und sei­ne Män­ner auf Neu­er­de ha­ben mich auf je­de nur denk­ba­re Wei­se un­ter­stützt“, sag­te ich. „Ich weiß das sehr zu schät­zen.“

„Auch ich“, sag­te der Strah­len­de scharf, und sein Blick brann­te sich in mei­ne Au­gen, „weiß einen un­vor­ein­ge­nom­me­nen Be­richt­er­stat­ter zu schät­zen. Sonst wä­ren Sie nicht hier in mei­nem Bü­ro und könn­ten mich in­ter­view­en. Da es mei­ne Auf­ga­be ist, dem Wil­len des Herrn zwi­schen den Ster­nen Gel­tung zu ver­schaf­fen, bleibt mir nur we­nig Zeit, zum Amü­se­ment der Gott­lo­sen von sie­ben Wel­ten bei­zu­tra­gen. Nun, was ist der Grund für die­ses In­ter­view?“

„Ich tra­ge mich mit dem Ge­dan­ken“, sag­te ich, „ein Pro­jekt zu ent­wer­fen, das die Quä­ker in den Au­gen der Men­schen auf den an­de­ren Pla­ne­ten in ei­nem bes­se­ren Licht dar­stellt …“

„Um Ih­re Loya­li­tät ge­gen­über Ih­rem Be­rufs­be­kennt­nis zu be­wei­sen … wie Was­sel sag­te?“ un­ter­brach mich der Strah­len­de.

„Nun, ja“, ant­wor­te­te ich. Ich ver­steif­te mich ein we­nig auf mei­nem Stuhl. „Ich wur­de in jun­gen Jah­ren zur Wai­se. Und wäh­rend all der Jah­re, in de­nen ich auf­wuchs, war es im­mer mein Traum, für einen Nach­rich­ten­dienst zu ar­bei­ten, und …“

„Ver­schwen­den Sie nicht mei­ne Zeit, Be­richt­er­stat­ter!“ Wie ei­ne Axt hack­te die bar­sche Stim­me des Strah­len­den den un­aus­ge­spro­che­nen Rest mei­nes Sat­zes ab. Er er­hob sich er­neut, plötz­lich und ab­rupt, als ver­lan­ge die in ihm schlum­mern­de Ener­gie nach ei­nem Be­we­gungs­ven­til. Er schlich um sei­nen Schreib­tisch her­um, blieb vor mir ste­hen und sah zu mir her­ab, die Dau­men hin­ter den Gür­tel an sei­ner schma­len Hüf­te ge­hakt. Sein ha­ge­res, kno­chi­ges und gut fünf­zig Jah­re al­tes Ge­sicht beug­te sich über mich. „Wel­che Be­deu­tung kann Ihr Be­kennt­nis schon für je­man­den wie mich ha­ben, des­sen Weg vom Wort Got­tes er­leuch­tet wird?“

„Wir al­le wer­den von un­se­ren ei­ge­nen Lich­tern er­leuch­tet, je­der von sei­nem ei­ge­nen“, sag­te ich. Er war mir so na­he, daß ich mei­nem drän­gen­den Be­dürf­nis nicht nach­ge­ben und auf­ste­hen konn­te, um ihm ge­gen­über­zu­tre­ten. Es war, als hät­te er mich phy­sisch an mei­nen Stuhl un­ter ihm ge­fes­selt. „Wenn es nicht um mein Be­kennt­nis gin­ge, dann wä­re ich jetzt nicht hier. Viel­leicht wis­sen Sie nicht, was mir und mei­nem Schwa­ger zu­ge­sto­ßen ist, als wir auf Neu­er­de ei­nem Ih­rer Grup­pen­füh­rer aus­ge­lie­fert wa­ren …“

„Ich weiß Be­scheid.“ Die drei Wor­te wa­ren mit­leids­los. „Und si­cher hat man sich da­für vor ei­ni­ger Zeit bei Ih­nen ent­schul­digt. Hö­ren Sie, Be­richt­er­stat­ter.“ Sei­ne dün­nen Lip­pen ver­zo­gen sich ein we­nig, um ein ver­är­ger­tes und miß­mu­ti­ges Lä­cheln an­zu­deu­ten. „Sie sind kein Ge­weih­ter des Herrn.“

„Nein“, sag­te ich.

„Je­ne, die Got­tes Wort fol­gen, ha­ben viel­leicht An­laß ge­nug an­zu­neh­men, daß sie im Glau­ben an et­was Be­deut­sa­me­res als nur ih­re ei­ge­nen selbst­süch­ti­gen In­ter­es­sen han­deln. Aber was ist mit de­nen, die nicht er­leuch­tet sind – kön­nen sie an­de­re Mo­ti­ve ha­ben als pu­re Ei­gen­sucht?“ Das schie­fe Lä­cheln auf sei­nen Lip­pen sprach sei­nen ei­ge­nen Wor­ten Hohn, ver­spot­te­te die schein­hei­li­gen Phra­sen, mit de­nen er mich einen Lüg­ner ge­nannt hat­te – und soll­te mich ver­lei­ten, die ana­ly­ti­sche Fä­hig­keit in ihm nicht zu be­ach­ten, die es ihm er­laub­te, in mich hin­ein­zu­bli­cken.

Ich ver­steif­te mich er­neut, dies­mal mit ei­nem be­lei­dig­ten Ge­sichts­aus­druck.

„Sie spot­ten nur des­halb über mein Be­kennt­nis als Be­richt­er­stat­ter, weil es nicht Ihr ei­ge­nes ist!“ ant­wor­te­te ich ihm barsch.

Mei­ne er­reg­ten Wor­te konn­ten ihn we­der be­ein­dru­cken noch das Lä­cheln auf sei­nen Lip­pen auf­lö­sen.

„Der Herr wür­de kei­nen Nar­ren zum Äl­tes­ten des Kon­zils un­se­rer Kir­chen er­wäh­len“, sag­te er – und wand­te mir den Rücken zu und schritt er­neut um den Schreib­tisch her­um, um da­hin­ter Platz zu neh­men. „Das hät­ten Sie recht­zei­tig be­den­ken sol­len, be­vor Sie nach Har­mo­nie ka­men, Be­richt­er­stat­ter. Aber jetzt wis­sen Sie je­den­falls dar­über Be­scheid.“

Ich starr­te ihn an, fast ge­blen­det von dem plötz­li­chen Glanz mei­nes ei­ge­nen Be­grei­fens. Ja, jetzt wuß­te ich Be­scheid – und mit die­sem Wis­sen ver­stand ich plötz­lich, daß er sich mir mit sei­nen ei­ge­nen Wor­ten aus­ge­lie­fert hat­te.

Ich hat­te ge­fürch­tet, er könn­te viel­leicht kei­nen schwa­chen Punkt auf­wei­sen, an dem ich einen He­bel an­set­zen und ihn be­ein­flus­sen konn­te, so wie ich ge­rin­ge­re Män­ner und Frau­en mit mei­nen Wor­ten be­ein­flußt hat­te. Und es stimm­te: Er hat­te kei­ne ge­wöhn­li­che Schwä­che. Aber ge­nau aus die­sem Grund be­saß er ei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­che. Denn sei­ne Schwä­che war sei­ne Stär­ke, die glei­che Klug­heit, die ihn zum Herr­scher und Füh­rer sei­ner An­hän­ger ge­macht hat­te. Sei­ne Schwä­che sah so aus: Um das zu wer­den, was er ge­wor­den war, muß­te er so fa­na­tisch sein wie die Schlimms­ten un­ter den Quä­kern – und noch et­was mehr als das. Er muß­te die Ex­tra­kraft be­sit­zen, die es ihm ge­stat­te­te, sei­nen Fa­na­tis­mus ab­zu­le­gen, wenn er sich als stö­rend er­wies bei den Ver­hand­lun­gen mit den Füh­rern an­de­rer Pla­ne­ten – mit sei­nen gleich­ran­gi­gen Kol­le­gen und Wi­der­sa­chern zwi­schen den Ster­nen. Das war es. Das hat­te er mir ge­ra­de eben un­ab­sicht­lich of­fen­bart.

Er war nicht auf die ein­sei­ti­ge Be­trach­tungs­wei­se des Uni­ver­sums be­schränkt wie sei­ne schwarz­ge­klei­de­ten An­hän­ger, de­ren Au­gen vor Fa­na­tis­mus glüh­ten und al­les nur ent­we­der ganz in Schwarz oder ganz in Weiß sa­hen. Er war in der La­ge, da­zwi­schen lie­gen­de Schat­tie­run­gen wahr­zu­neh­men und sich mit ih­nen zu be­fas­sen – auch graue Schat­tie­run­gen. Kurz ge­sagt: Er konn­te ein Po­li­ti­ker sein, wenn er woll­te – und als Po­li­ti­ker konn­te ich mit ihm fer­tig wer­den.

Als Po­li­ti­ker konn­te ich ihn zu ei­nem po­li­ti­schen Feh­ler ver­lei­ten.

Ich sack­te in mich zu­sam­men. Ich streif­te die An­span­nung ganz plötz­lich von mir ab, als ich da­saß und sei­nen Blick er­neut auf mir spür­te. Und ich gab einen tie­fen, be­ben­den Seuf­zer von mir.

„Sie ha­ben recht“, sag­te ich mit ton­lo­ser Stim­me. Ich er­hob mich. „Nun, es hat al­so kei­nen Zweck. Ich ge­he bes­ser …“

„Ge­hen?“ Sei­ne Stim­me knall­te wie der Schuß ei­nes Ge­wehrs und hielt mich zu­rück. „Ha­be ich ge­sagt, das In­ter­view sei be­en­det? Set­zen Sie sich!“

Has­tig nahm ich wie­der Platz. Ich ver­such­te, blaß aus­zu­se­hen, und ich glau­be, das ge­lang mir. Doch ob­wohl ich ihn plötz­lich durch­schaut hat­te: Ich be­fand mich noch im­mer im Kä­fig des Lö­wen, und er war noch im­mer der Lö­we.

„Nun“, sag­te er und starr­te mich an, „was ha­ben Sie wirk­lich ge­hofft, von mir zu er­hal­ten – und von uns al­len, den Aus­er­wähl­ten Got­tes auf die­sen bei­den Wel­ten?“

Ich be­feuch­te­te mir die Lip­pen.

„Spre­chen Sie“, sag­te er. Er hob sei­ne Stim­me nicht, doch sein ge­setz­ter, dunk­ler Ton­fall droh­te mir mit Ver­gel­tung, wenn ich nicht ge­horch­te.

„Der Rat …“ mur­mel­te ich.

„Rat? Der Rat von uns Äl­tes­ten? Was ist da­mit?“

„Der nicht“, sag­te ich und blick­te auf den Bo­den. „Der Rat der Be­richt­er­stat­ter-Gil­de. Ich möch­te einen Sitz dar­in. Ihr Quä­ker könn­tet mir da­bei hel­fen, ihn zu er­lan­gen. Nach der Sa­che mit Da­ve – nach dem, was mei­nem Schwa­ger zu­ge­sto­ßen ist – ha­be ich mit Was­sel den Nach­weis ge­lie­fert, daß ich mei­ne Ar­beit oh­ne Vor­ein­ge­nom­men­heit selbst Ih­nen ge­gen­über er­le­di­gen kann. Da­durch ha­be ich Auf­merk­sam­keit er­regt, selbst in der Gil­de. Wenn ich da­mit fort­fah­ren könn­te … wenn es mir ge­lingt, die öf­fent­li­che Mei­nung der an­de­ren Wel­ten zu Ih­ren Guns­ten auf­zu­bau­en, dann baue ich mich da­mit selbst auf, in den Au­gen der Öf­fent­lich­keit. Und in de­nen der Gil­de.“

Er starr­te mich mit fins­te­rer Be­lus­ti­gung an.

„Die Beich­te läu­tert selbst ei­ne See­le wie die Ih­re“, sag­te er streng. „Nun, Sie ha­ben sich al­so Ge­dan­ken über die Mög­lich­keit ge­macht, wie man un­se­ren Ruf bei den Aus­ge­sto­ße­nen des Herrn auf den an­de­ren Wel­ten ver­bes­sern kann. Was für wel­che?“

„Äh, das kommt dar­auf an“, sag­te ich. „Ich muß mich hier nach Ma­te­ri­al für ei­ne Sto­ry um­se­hen. Zu­erst …“

„Das ist im Au­gen­blick nicht wei­ter von Be­deu­tung!“

Er er­hob sich er­neut hin­ter sei­nem Schreib­tisch, und sei­ne Au­gen be­fah­len mir, eben­falls auf­zu­ste­hen. Al­so ge­horch­te ich.

„Dar­über wer­den wir uns in ein paar Ta­gen un­ter­hal­ten“, sag­te er. Sein Tor­que­ma­da-Lä­cheln ver­ab­schie­de­te mich. „Bis da­hin wün­sche ich Ih­nen einen gu­ten Tag, Be­richt­er­stat­ter!“

„Gu­ten … Tag“, brach­te ich müh­sam her­vor. Ich wand­te mich um und ging mit un­si­che­ren Schrit­ten hin­aus.

Und die Un­si­cher­heit war auch nicht gänz­lich ge­spielt. Mei­ne Knie wa­ren so weich wie nach ei­nem an­ge­streng­ten Ba­lan­ce­akt am Ran­de ei­nes Ab­grunds, und ei­ne tro­ckene Zun­ge kleb­te am Gau­men mei­nes tro­ckenen Mun­des.

Wäh­rend der nächs­ten paar Ta­ge bum­mel­te ich in der Stadt her­um und gab vor, Hin­ter­grund­ma­te­ri­al zu sam­meln. Dann, am vier­ten Tag nach mei­ner Zu­sam­men­kunft mit dem Äl­tes­ten Strah­len­den, wur­de ich er­neut in sein Bü­ro be­stellt. Er er­war­te­te mich im Ste­hen, als ich her­an­trat, und er blieb auch wei­ter­hin ste­hen, auf hal­b­em We­ge zwi­schen der Tür und sei­nem Schreib­tisch.

„Be­richt­er­stat­ter“, sag­te er un­ver­mit­telt, als ich her­ein­kam, „ich ha­be die Be­fürch­tung, daß Sie uns in Ih­ren Nach­rich­ten­be­rich­ten nicht be­güns­ti­gen kön­nen, oh­ne daß die an­de­ren Gil­de­mit­glie­der die­se Be­güns­ti­gung be­mer­ken. Wenn das der Fall ist, wel­chen Nut­zen ha­ben Sie dann für mich?“

„Ich ha­be nicht ge­sagt, daß ich Sie be­güns­ti­gen will“, ant­wor­te­te ich ihm ent­rüs­tet. „Aber wenn Sie mir et­was Vor­teil­haf­tes zei­gen, über das ich be­rich­ten kann, dann wer­de ich dar­über be­rich­ten.“

„Ja.“ Er sah mich durch­drin­gend an. „Dann kom­men Sie mit mir und se­hen Sie sich un­se­re Men­schen an.“

Er führ­te mich aus sei­nem Bü­ro und dann in ei­ne Lift­kap­sel, durch die wir zu ei­ner Ga­ra­ge ge­lang­ten, wo ein Stabs­wa­gen auf uns war­te­te. Wir stie­gen ein, und der Fah­rer brach­te uns aus Kon­zil­stadt her­aus. Wir fuh­ren durch ei­ne kar­ge und stei­ni­ge Land­schaft, die aber säu­ber­lich auf­ge­teilt war in ein­zel­ne Be­wirt­schaf­tungs­flä­chen.

„Se­hen Sie“, sag­te der Strah­len­de tro­cken, als wir durch ei­ne klei­ne Stadt ka­men, die kaum mehr als ein Dorf war. „Auf un­se­ren ar­men Wel­ten wächst nur ei­ne große Frucht – und das sind die Kör­per un­se­rer jun­gen Män­ner, die als Sol­da­ten ver­mie­tet wer­den, da­mit un­se­re Be­völ­ke­rung hier nicht Hun­ger lei­det und un­ser Glau­be Be­stand hat. Was ent­stellt die­se jun­gen Män­ner und die an­de­ren Men­schen, die wir ge­se­hen ha­ben, daß die Be­völ­ke­run­gen der an­de­ren Wel­ten sie so hef­tig ver­ab­scheu­en, ob­wohl wir sie an sie ver­mie­ten, auf daß sie in ih­ren uns frem­den Krie­gen kämp­fen und ster­ben?“

Ich dreh­te mich um und be­merk­te, daß mich sei­ne Au­gen er­neut mit fins­te­rer Be­lus­ti­gung be­trach­te­ten.

„Ih­re … Ein­stel­lun­gen“, sag­te ich vor­sich­tig.

Der Strah­len­de lach­te. Es war ein kur­z­es und knap­pes Auf­la­chen, das tief aus sei­ner Keh­le kam, wie das Grol­len ei­nes Lö­wen.

„Ein­stel­lun­gen!“ sag­te er barsch. „Nen­nen Sie es ru­hig beim Na­men, Be­richt­er­stat­ter! Kei­ne Ein­stel­lun­gen – Stolz! Stolz! Die­se Men­schen sind, wie Sie ge­se­hen ha­ben, bet­tel­arm, und sie ha­ben nur ge­lernt, mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den zu schuf­ten oder mit Waf­fen um­zu­ge­hen. Und doch bli­cken sie wie von ho­hen Berg­gip­feln auf den von Schmutz ge­bo­re­nen Ab­schaum her­ab, der sie ge­mie­tet hat. Sie wis­sen, die­se ih­re Auf­trag­ge­ber mö­gen in welt­li­chem und ma­te­ri­el­lem Reich­tum schwel­gen, fett ge­wor­den sein von De­li­ka­tes­sen und gehüllt in wei­che und kost­ba­re Ge­wän­der. Doch sie wis­sen auch dies: Wenn all die­se Leu­te in den Schat­ten des Gra­bes ein­tre­ten, dann wer­den je­ne, die sich in Macht und Wohl­stand ge­suhlt ha­ben, nicht ein­mal die Kraft be­sit­zen, auf­recht und de­mü­tig vor je­nen To­ren aus Sil­ber und aus Gold zu ste­hen, die wir sin­gend durch­schrei­ten – wir, die von un­se­ren Lei­den Ge­salb­ten.“

Durch die Brei­te des Stabs­wa­gens sah er mich mit sei­nem un­barm­her­zi­gen Lö­wen­lä­cheln an.

„Was kön­nen Sie aus all­dem hier er­se­hen“, sag­te er, „um die­je­ni­gen, die die Er­leuch­te­ten Got­tes mie­ten, zu leh­ren, sie will­kom­men zu hei­ßen und ih­nen mit der an­ge­brach­ten De­mut ge­gen­über­zu­tre­ten?“

Er ver­spot­te­te mich wie­der. Aber ich hat­te ihn wäh­rend des ers­ten Be­suchs in sei­nem Bü­ro durch­schaut, und ich sah den Weg aus sub­ti­len Be­ein­flus­sungs­mög­lich­kei­ten deut­lich vor mir, als wir uns un­ter­hiel­ten. Des­halb mach­te mir sein Spott im­mer we­ni­ger aus.

„An dem Stolz oder der De­mut auf bei­den Sei­ten kann ich nicht viel aus­rich­ten“, sag­te ich. „Und das ist es au­ßer­dem auch nicht, was Sie brau­chen. So­lan­ge sie ge­mie­tet wer­den, kann es Ih­nen gleich sein, was die Auf­trag­ge­ber von Ih­ren Trup­pen den­ken. Und sie wer­den auch wei­ter­hin von Auf­trag­ge­bern an­ge­mie­tet wer­den, vor­aus­ge­setzt, Sie kön­nen da­für sor­gen, daß sie er­träg­lich wer­den – nur er­träg­lich, nicht un­be­dingt lie­bens­wert.“

„Halt hier an, Fah­rer!“ un­ter­brach der Strah­len­de mei­ne Ant­wort. Der Wa­gen brems­te ab und blieb ste­hen.

Wir be­fan­den uns in ei­ner klei­nen Ort­schaft. Erns­te, schwarz­ge­klei­de­te Men­schen wa­ren zwi­schen den Ge­bäu­den aus Plas­tik­bla­sen un­ter­wegs – pro­vi­so­ri­sche Un­ter­künf­te, die auf an­de­ren Wel­ten schon längst durch bes­se­re und at­trak­ti­ve­re Bau­ten er­setzt wor­den wä­ren.

„Wo sind wir?“ frag­te ich.

„In ei­ner un­be­deu­ten­den Stadt na­mens Ein­ge­denk-des-Herrn“, ant­wor­te­te er und ließ das Fens­ter an sei­ner Wa­gen­sei­te her­un­ter. „Und hier kommt je­mand, den Sie ken­nen.“

Tat­säch­lich kam ei­ne schlan­ke Ge­stalt in der Uni­form ei­nes Trup­pen­füh­rers un­se­rem Wa­gen ent­ge­gen. Sie trat her­an, deu­te­te ei­ne Ver­beu­gung an, und dann blick­te uns das ru­hi­ge Ge­sicht von Ja­me­thon Black ent­ge­gen.

„Sir?“ sprach er den Strah­len­den an.

„Die­ser Of­fi­zier“, er­klär­te mir der Strah­len­de, „schi­en ein­mal für einen ho­hen Rang in je­nen un­se­ren Streit­kräf­ten qua­li­fi­ziert zu sein, die dem Wil­len Got­tes die­nen. Doch vor fünf Jah­ren er­lag er der Schön­heit ei­ner Au­ßen­welt­toch­ter, die ihn nicht er­hör­te. Und seit die­ser Zeit scheint er al­len Ehr­geiz ver­lo­ren zu ha­ben, es bei uns zu et­was zu brin­gen.“ Er wand­te sich an Ja­me­thon. „Trup­pen­füh­rer“, sag­te er, „du hast die­sen Mann zwei­mal ge­se­hen. Ein­mal bei ihm zu Hau­se auf Al­t­er­de, vor fünf Jah­ren, als du sei­ne Schwes­ter ge­be­ten hast, dei­ne Frau zu wer­den. Und dann wie­der letz­tes Jahr auf Neu­er­de, als er dich um einen Pas­sier­schein bat, um sei­nen Mit­ar­bei­ter an­ge­sichts der nä­her rücken­den Fron­ten in Si­cher­heit zu brin­gen. Sag mir, was weißt du über ihn?“

Ja­me­thons Au­gen sa­hen ins In­ne­re des Wa­gens und be­geg­ne­ten mei­nem Blick.

„Nur, daß er sei­ne Schwes­ter lieb­te und ihr ein bes­se­res Le­ben wünsch­te, als ich ihr mög­li­cher­wei­se bie­ten konn­te“, sag­te Ja­me­thon, und sei­ne Stim­me war so ru­hig und ge­las­sen wie sein Ge­sichts­aus­druck. „Und daß er um das Wohl­er­ge­hen sei­nes Schwa­gers be­sorgt war und ihn zu schüt­zen ver­such­te.“ Er wand­te sich zur Sei­te, um di­rekt in die Au­gen des Strah­len­den bli­cken zu kön­nen. „Ich glau­be, er ist ein ehr­li­cher und tu­gend­haf­ter Mann, Äl­tes­ter.“

„Ich ha­be dich nicht da­nach ge­fragt, was du glaubst!“ schnapp­te der Strah­len­de.

„Wie Sie wün­schen“, gab Ja­me­thon zu­rück und sah den äl­te­ren Mann noch im­mer ganz ru­hig an. Ich spür­te, wie Wut in mir em­por­stieg und so in­ten­siv wur­de, daß ich fürch­te­te, sie könn­te aus mir her­aus­bre­chen, un­ge­ach­tet al­ler Kon­se­quen­zen.

Es war Wut auf Ja­me­thon. Denn er war nicht nur so un­ver­fro­ren, mich dem Strah­len­den als ehr­li­chen und tu­gend­haf­ten Man zu emp­feh­len, son­dern da war auch noch et­was an­de­res an ihm, et­was, das ei­ner Ohr­fei­ge gleich­kam. Einen Au­gen­blick lang konn­te ich es nicht er­fas­sen. Und dann be­griff ich plötz­lich. Er fürch­te­te sich nicht vor dem Strah­len­den. Und ich hat­te mich ge­fürch­tet wäh­rend je­nes ers­ten In­ter­views.

Ob­gleich ich ein Be­richt­er­stat­ter war, mit der Im­mu­ni­tät der Gil­de, die mich schütz­te. Und er nur ein Trup­pen­füh­rer, der sei­nem ei­ge­nen Ober­be­fehls­ha­ber ge­gen­über­stand, dem Kriegs­herrn zwei­er Wel­ten, von der Ja­me­thons nur die ei­ne war. Wie war er da­zu fä­hig …? Und dann fiel es mir ein, und vor Wut und Ent­täu­schung knirsch­te ich bei­na­he mit den Zäh­nen. Denn mit Ja­me­thon war es nicht an­ders als mit dem Grup­pen­füh­rer auf Neu­er­de, der mir kei­nen Pas­sier­schein hat­te ge­ben wol­len, mit dem ich Da­ve in Si­cher­heit hät­te brin­gen kön­nen. Je­ner Grup­pen­füh­rer hät­te oh­ne zu zö­gern dem Strah­len­den ge­horcht, der der Äl­tes­te war, aber kei­ne Ver­an­las­sung ge­se­hen, sich vor dem an­de­ren Strah­len­den zu ver­nei­gen, der nur der Mensch war.

Auf die glei­che Wei­se hat­te der Strah­len­de nun das Le­ben Ja­me­thons in der Hand. Doch an­ders als bei mir hat­te er in die­sem Fall nur den ge­rin­ger­wer­ti­ge­ren und nicht den wich­ti­ge­ren Teil des Le­bens des vor ihm ste­hen­den jun­gen Man­nes in der Hand.

„Dein Hei­mat­ur­laub hier ist be­en­det, Trup­pen­füh­rer“, sag­te der Strah­len­de scharf. „Un­ter­rich­te dei­ne Fa­mi­lie, da­mit dei­ne Ha­be nach Kon­zil­stadt ge­schickt wird, und steig dann zu uns ein. Ich er­nen­ne dich hier­mit bis auf wei­te­res zum Ad­ju­tan­ten und As­sis­ten­ten die­ses Be­richt­er­stat­ters. Und wir wer­den dich zum Kom­man­deur be­för­dern, um die­se Stel­lung mit ei­nem an­ge­mes­se­nen Rang zu ver­se­hen.“

„Sir“, sag­te Ja­me­thon un­be­wegt und neig­te kurz den Kopf. Er schritt zu dem Ge­bäu­de zu­rück, das er ge­ra­de ver­las­sen hat­te, und ei­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter kam er wie­der her­aus und stieg zu uns. Der Strah­len­de be­fahl dem Fah­rer, den Wa­gen zu wen­den, und so kehr­ten wir zur Stadt und sei­nem Bü­ro zu­rück.

Als wir dort an­lang­ten, ließ mich der Strah­len­de mit Ja­me­thon al­lein, da­mit ich mich mit der Si­tua­ti­on der Quä­ker in und um Kon­zil­stadt ver­traut ma­chen konn­te. Folg­lich un­ter­nah­men wir bei­de, Ja­me­thon und ich, ei­ni­ge Stadt­rund­fahr­ten. Sie dau­er­ten aber nicht all­zu lan­ge, und ich kehr­te früh in mein Ho­tel zu­rück.

Es er­for­der­te nur sehr we­nig Ein­blick in die Si­tua­ti­on, um zu wis­sen, daß Ja­me­thon den Auf­trag hat­te, mich zu über­wa­chen, wäh­rend er die Funk­ti­on ei­nes Ad­ju­tan­ten aus­üb­te. Ich ver­lor je­doch kein Wort dar­über, und Ja­me­thon sprach über­haupt nicht. In den fol­gen­den Ta­gen durch­streif­ten wir Kon­zil­stadt und die um­lie­gen­de Ge­gend, fast wie Tou­ris­ten – wie zwei stum­me Ge­spens­ter oder wie zwei Män­ner, die ein Ge­lüb­de ab­ge­legt hat­ten, nicht mit­ein­an­der zu spre­chen. Es war das ei­gen­tüm­li­che Schwei­gen ei­nes ge­gen­sei­ti­gen Ein­ver­ständ­nis­ses dar­über daß wir nicht über die Din­ge spra­chen, die es wert wa­ren, von uns be­spro­chen zu wer­den: über Ei­leen und Da­ve und al­les an­de­re. Sie hät­ten je­de Dis­kus­si­on nur mit sol­chem Schmerz er­füllt, daß das Ge­spräch selbst un­er­träg­lich ge­wor­den wä­re.

Wäh­rend die­ser Zeit wur­de ich ab und zu ins Bü­ro des Äl­tes­ten Strah­len­den be­stellt. Bei die­sen Ge­le­gen­hei­ten traf ich nur mehr oder we­ni­ger kurz mit ihm zu­sam­men, und er schnitt da­bei kaum das The­ma mei­nes vor­ge­ge­be­nen Mo­tivs an, warum ich für die Sa­che der Quä­ker ein­trat und so­mit auf sei­ner Sei­te war. Es war, als war­te­te er dar­auf, daß ir­gend et­was ge­sch­ah. Und schließ­lich be­griff ich, worum es sich da­bei han­del­te. Er hat­te Ja­me­thon da­zu ein­ge­setzt, mich zu über­prü­fen. Und wäh­rend­des­sen über­prüf­te er die in­ter­stel­la­re po­li­ti­sche La­ge – ei­ne Ana­ly­se, die ganz al­lein ihm, dem Äl­tes­ten der Quä­ker­wel­ten, ob­lag. Er such­te nach ei­ner be­stimm­ten Kon­stel­la­ti­on, dem rich­ti­gen Au­gen­blick, in dem er die­sen ei­gen­nüt­zi­gen Be­richt­er­stat­ter, der an­ge­bo­ten hat­te, den Ruf sei­ner An­hän­ger zu ver­bes­sern, am nutz­brin­gends­ten ein­set­zen konn­te.

Als mir das be­wußt ge­wor­den war, war ich be­ru­higt. Nun sah ich, wie er In­ter­view für In­ter­view und Tag für Tag dem Kern der Sa­che nä­her kam, auf den ich ihn zu­di­ri­gie­ren woll­te. Der Kern, das war der Au­gen­blick, in dem er mich um Rat bit­ten moch­te, in dem er mich bit­ten muß­te ihm zu sa­gen, was er mit mir an­fan­gen soll­te.

Tag für Tag und In­ter­view für In­ter­view wur­de er im­mer ent­spann­ter und auf­ge­schlos­se­ner mei­nen Wor­ten ge­gen­über – und neu­gie­ri­ger.

„Was ist es, Be­richt­er­stat­ter, wor­über sie ger­ne le­sen auf je­nen an­de­ren Wel­ten?“ frag­te er mich ei­nes Ta­ges. „Wor­über er­fah­ren sie ei­gent­lich am liebs­ten et­was?“

„Über Hel­den na­tür­lich“, ant­wor­te­te ich im glei­chen Plau­der­ton, in dem er ge­fragt hat­te. „Dar­um ge­ben die Dor­sai so gu­ten Stoff ab – und in ge­wis­sem Maß auch die Exo­ten.“

Bei der Er­wäh­nung der Exo­ten husch­te ein ab­sicht­li­cher oder un­ab­sicht­li­cher Schat­ten über sein Ge­sicht.

„Die Gott­lo­sen“, mur­mel­te er. Und das war al­les. Rund einen Tag spä­ter schnitt er er­neut das The­ma Hel­den an.

„Wo­durch wer­den Men­schen in den Au­gen der Öf­fent­lich­keit zu Hel­den?“ frag­te er.

„Für ge­wöhn­lich“, gab ich zu­rück, „durch den Sieg über einen äl­te­ren, be­reits be­kann­ten star­ken Mann, einen Schur­ken oder Hel­den.“ Er sah mich freund­lich an, und ich ging ein Ri­si­ko ein. „Wenn Ih­re Quä­ker­trup­pen es zum Bei­spiel mit ei­ner gleich star­ken Streit­macht der Dor­sai auf­näh­men und sie be­sieg­ten …“

Die Freund­lich­keit wur­de ganz plötz­lich von ei­nem Aus­druck bei­sei­te ge­wischt, den ich nie zu­vor in sei­nem Ge­sicht ge­se­hen hat­te. Ei­ne Se­kun­de lang starr­te er mich nur wort­los an. Dann warf er mir einen Blick zu, der ge­nau­so heiß und ver­sen­gend war wie flüs­si­ger Ba­salt aus dem Schlund ei­nes Vul­kans.

„Wol­len Sie mich zum Nar­ren hal­ten?“ schnapp­te er. Dann ver­än­der­te sich sein Ge­sichts­aus­druck, und er ver­sah mich mit ei­nem neu­gie­ri­gen Blick. „… oder sind Sie selbst nicht ganz bei Sin­nen?“

Ei­ne gan­ze lan­ge Wei­le mus­ter­te er mich. Schließ­lich nick­te er.

„Ja“, sag­te er wie zu sich selbst. „Ge­nau das … der Mann ist ein Narr. Ein auf der Er­de ge­bo­re­ner Narr.“

Er dreh­te sich auf dem Ab­satz um, und da­mit war un­ser heu­ti­ges In­ter­view be­en­det.

Es mach­te mir nichts, daß er mich für einen Nar­ren hielt. Im Ge­gen­teil: Es war wie ei­ne wert­vol­le Le­bens­ver­si­che­rung, die in dem Au­gen­blick wirk­sam wur­de, in dem ich den ent­schei­den­den Schritt un­ter­nahm, ihn zu nar­ren. Aber ich konn­te beim bes­ten Wil­len nicht ver­ste­hen, was ihn zu ei­ner solch un­ge­wöhn­li­chen Re­ak­ti­on ver­an­laßt hat­te. Und das mach­te mir Sor­gen. Mein Vor­schlag mit den Dor­sai konn­te doch nicht so weit her­ge­holt ge­we­sen sein? Ich war ver­sucht, Ja­me­thon zu fra­gen, aber glück­li­cher­wei­se hielt mich die Vor­sicht als der bes­se­re Teil der Tap­fer­keit zu­rück.

Un­ter­des­sen kam der Tag, als sich der Strah­len­de schließ­lich je­ner Fra­ge nä­her­te, von der ich wuß­te, daß er sie frü­her oder spä­ter stel­len muß­te.

„Be­richt­er­stat­ter“, sag­te er. Er stand breit­bei­nig und mit auf den Rücken ge­leg­ten Hän­den vor dem vom Bo­den bis zur De­cke rei­chen­den Fens­ter sei­nes Bü­ros und blick­te hin­un­ter auf das Re­gie­rungs­zen­trum und Kon­zil­stadt selbst.

„Ja, Äl­tes­ter?“ ant­wor­te­te ich. Er hat­te mich ein wei­te­res Mal in sein Bü­ro be­stellt, und ich war ge­ra­de ein­ge­tre­ten. Als er mei­ne Stim­me ver­nahm, dreh­te er sich rasch um und starr­te mich mit ei­nem bren­nen­den Blick an.

„Sie sag­ten neu­lich, Men­schen wür­den da­durch zu Hel­den, in­dem sie äl­te­re, be­reits be­kann­te Hel­den be­sie­gen. Als Bei­spiel für je­ne, die in den Au­gen der Öf­fent­lich­keit als Hel­den gel­ten, er­wähn­ten Sie die Dor­sai – und die Exo­ten.“

„Das stimmt“, sag­te ich und trat auf ihn zu.

„Die Gott­lo­sen und die Exo­ten“, mein­te er, als sei er ganz in Ge­dan­ken ver­sun­ken. „Sie set­zen Mi­et­t­rup­pen ein. Was kann es uns nüt­zen, Miet­lin­ge zu be­sie­gen – selbst wenn das mög­lich und leicht zu be­werk­stel­li­gen wä­re?“

„Kom­men Sie doch ein­fach je­man­dem zu Hil­fe, der sich in ei­ner Not­la­ge be­fin­det“, sag­te ich leicht­hin. „So et­was wür­de Ih­nen ein ganz neu­es und gu­tes öf­fent­li­ches Image ge­ben. Ihr Quä­ker seid nicht ge­ra­de be­kannt für so et­was.“

Er warf mir einen durch­drin­gen­den Blick zu.

„Wem soll­ten wir zu Hil­fe kom­men?“ ver­lang­te er zu wis­sen.

„Nun“, sag­te ich, „es gibt im­mer klei­ne Grup­pen von Men­schen, die – zu recht oder zu un­recht – glau­ben, sie wür­den von den grö­ße­ren Grup­pen in ih­rer Um­ge­bung un­ter­drückt. Sa­gen Sie, sind denn nie klei­ne Dis­si­den­ten­grup­pen mit dem Wunsch an Sie her­an­ge­tre­ten, Ih­re Sol­da­ten spe­ku­la­ti­ons­wei­se für den Um­sturz ih­rer be­ste­hen­den Re­gie­rung zu mie­ten und …“ Ich brach ab. „Nun, na­tür­lich ist das der Fall ge­we­sen. Ich ha­be Neu­er­de und die Nord­par­zel­le von Alt­land ganz ver­ges­sen.“

„Durch die Sa­che mit der Nord­par­zel­le ha­ben wir in den Au­gen der an­de­ren Wel­ten kaum et­was ge­won­nen“, sag­te der Strah­len­de barsch. „Und das wis­sen Sie ganz ge­nau!“

„Oh, aber dort wa­ren bei­de Sei­ten et­wa gleich stark“, gab ich zu­rück. „Sie müs­sen fol­gen­des tun: Kom­men Sie ei­ner wirk­lich win­zi­gen Mi­no­ri­tät zu Hil­fe, die ei­ner selbst­süch­ti­gen und ge­wal­ti­gen Ma­jo­ri­tät ge­gen­über­steht … sa­gen wir, zum Bei­spiel den Berg­bau­ar­bei­tern von Co­by ge­gen die Gru­ben­sit­zer.“

„Co­by? Den Berg­bau­ar­bei­tern?“ Er ver­sah mich mit ei­nem durch­drin­gen­den Blick, doch es war je­ner Blick, auf den ich die gan­ze Zeit über ge­war­tet hat­te, und so hielt ich ihm ganz ge­las­sen stand. Er wand­te sich um, schritt zu sei­nem Schreib­tisch und blieb da­hin­ter ste­hen. Er ließ die Hän­de sin­ken und hob ein Blatt Pa­pier halb in die Hö­he – es sah nach ei­nem Brief aus –, das auf dem Tisch ge­le­gen hat­te. „Wie es der Zu­fall will, ha­be ich hier ge­ra­de ein Hil­feer­su­chen auf rein spe­ku­la­ti­ver Ba­sis vor­lie­gen, von ei­ner Grup­pe, die …“

Er brach ab, leg­te das Blatt Pa­pier zu­rück und hob den Kopf, um mich an­zu­se­hen.

„Ei­ne Grup­pe wie die Berg­bau­ar­bei­ter von Co­by?“ frag­te ich. „Aber es sind doch nicht tat­säch­lich die Berg­bau­ar­bei­ter?“

„Nein“, sag­te er. „Die Berg­bau­ar­bei­ter sind es nicht.“ Einen Au­gen­blick blieb er schwei­gend und re­gungs­los ste­hen, dann kam er wie­der um den Schreib­tisch her­um und streck­te mir die Hand ent­ge­gen. „Aber ich will Sie nicht län­ger auf­hal­ten.“

„Auf­hal­ten?“ sag­te ich.

„Bin ich falsch un­ter­rich­tet?“ frag­te der Strah­len­de. Sein Blick brann­te sich in mei­ne Au­gen. „Wie ich hör­te, wol­len Sie heu­te abend mit ei­nem Li­ni­en­schiff zur Er­de flie­gen. So­weit ich weiß, ha­ben Sie die Pas­sa­ge be­reits ge­bucht.“

„Nun … ja“, sag­te ich und ver­stand die Bot­schaft nun klar und deut­lich, die in sei­nem Ton­fall zum Aus­druck kam. „Das hät­te ich bei­na­he ganz ver­ges­sen. Ja, ich flie­ge heu­te abend ab.“

„Ich wün­sche Ih­nen ei­ne an­ge­neh­me Rei­se“, sag­te der Strah­len­de. „Ich freue mich, daß wir zu ei­ner bei­der­sei­tig zu­frie­den­stel­len­den Ver­stän­di­gung kom­men konn­ten. Sie kön­nen in Zu­kunft auf uns zäh­len. Und wir neh­men uns an­de­rer­seits die Frei­heit, auch auf Sie zu zäh­len.“

„Ich bit­te Sie dar­um“, ent­geg­ne­te ich. „Und je eher, de­sto bes­ser.“

„Viel­leicht eher als Sie glau­ben“, sag­te der Strah­len­de.

Wir ver­ab­schie­de­ten uns, und ich ver­ließ sein Bü­ro, um in mein Ho­tel zu­rück­zu­keh­ren. Dort stell­te ich fest, daß mei­ne Kof­fer be­reits ge­packt wa­ren. Und – wie der Strah­len­de ge­sagt hat­te – an Bord des Li­ni­en­schif­fes, das an je­nem Abend zur Er­de star­te­te, war schon ei­ne Pas­sa­ge für mich ge­bucht. Ja­me­thon war nir­gends zu se­hen.

Fünf Stun­den spä­ter be­fand ich mich er­neut zwi­schen den Ster­nen, und die Pha­sen­ver­schie­bun­gen mar­kier­ten die Mei­len­stei­ne auf mei­nem Rück­weg zur Er­de.

Fünf Wo­chen spä­ter er­hob sich auf San­ta Ma­ria die Blaue Front, die von den Quä­ker­wel­ten heim­lich mit Waf­fen und Sol­da­ten un­ter­stützt wor­den war, zu ei­ner kur­z­en, aber sehr blu­ti­gen Re­vol­te, die die ge­wähl­te Re­gie­rung stürz­te und die Füh­rer der Blau­en Front an die Macht brach­te.