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Die Er­in­ne­rungs­fet­zen in mei­nem Kopf er­ge­ben kein kla­res Bild da­von, was da­nach al­les ge­sch­ah. Ich se­he noch wie die letz­ten Be­we­gun­gen der zu Bo­den ge­stürz­ten Kör­per im Schlaf des To­des ein­frie­ren, wie sich der Grup­pen­füh­rer um­wen­det, mir ent­ge­gen­kommt und da­bei sein Ge­wehr mit ei­ner Hand um­klam­mert.

Ob­wohl er rasch aus­schritt, schi­en er nur lang­sam nä­her zu kom­men, lang­sam, aber un­er­bitt­lich. Es war, als be­trach­te­te ich ihn in ei­ner Tret­müh­le, als wüch­se er in die Brei­te, als er im­mer hö­her vor mir auf­rag­te, das schwar­ze Ge­wehr in der Hand und der düs­ter­ro­te Him­mel hin­ter sei­nem Kopf. Bis er mich schließ­lich er­reich­te und über mich ge­beugt ver­harr­te.

Ich ver­such­te eben­falls, vor ihm zu­rück­zu­wei­chen, aber es ge­lang mir nicht. Denn di­rekt hin­ter mir ver­sperr­te mir der di­cke Baum­stumpf den Weg, und mein ver­letz­tes Bein – ge­nau­so steif und leb­los wie ein to­tes Stück Holz – fes­sel­te mich an den Bo­den. Aber er ziel­te nicht mit dem Ge­wehr auf mich. Und er er­schoß mich auch nicht.

„Jetzt hast du al­so dei­ne Sto­ry, Be­richt­er­stat­ter“, sag­te er und blick­te zu mir her­ab. Sei­ne Stim­me war dun­kel und ru­hig, doch der Glanz sei­ner Au­gen son­der­bar. „Und du sollst le­ben, auf daß du sie er­zäh­len kannst. Viel­leicht la­den sie dich als Zu­schau­er ein, wenn ich vor das Exe­ku­ti­ons­kom­man­do ge­führt wer­de – es sei denn, der Wil­le des Herrn sieht ein an­de­res Schick­sal für mich vor, und ich fal­le in der Schlach­ten Ge­tüm­mel, das nun be­ginnt. Doch sie mö­gen mich ei­ne Mil­li­on Mal hin­rich­ten, dein Be­richt wird dir gar nichts nüt­zen. Denn ich, der ich die voll­stre­cken­de Hand des Herrn bin, ha­be die­se Män­ner Sei­nem Wil­len un­ter­wor­fen, und die­se Tat kannst du nicht un­ge­sche­hen ma­chen. So wis­se al­so, wie ge­ring dei­ne Wor­te sind an­ge­sichts je­ner, die vom Gott der Schlach­ten ge­spro­chen wer­den.“

Er trat einen Schritt von mir zu­rück, oh­ne sich da­bei wie­der auf­zu­rich­ten. Es war fast so, als sei ich ei­ne Art schwar­zer Al­tar, von dem er sich mit iro­ni­schem Re­spekt zu­rück­zog.

„Nun, le­be wohl, Be­richt­er­stat­ter“, sag­te er, und sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich zu ei­nem düs­te­ren Lä­cheln. „Fürch­te dich nicht, denn man wird dich hier fin­den. Und dein Le­ben ret­ten.“

Er wand­te sich um und schritt da­von. Ich sah ihn fort­ge­hen, ein dunk­ler Schat­ten, der mit der Fins­ter­nis in den noch dunk­le­ren Schat­ten ver­schmolz. Und dann war ich al­lein.

Al­lein … al­lein mit den im­mer noch trief­nas­sen Äs­ten und Blät­tern und Zwei­gen, von de­nen es dann und wann zum Wald­bo­den her­un­ter­tropf­te. Al­lein mit dem sich düs­ter­rot über­zie­hen­den Him­mel, von dem ich ei­ni­ge win­zi­ge Fle­cken durch die über mir schwe­ben­den schwar­zen Wol­ken der Baum­wip­fel er­ken­nen konn­te. Al­lein mit dem ster­ben­den Tag und den To­ten.

Ich weiß nicht, wie ich es schaff­te, aber nach ei­ni­ger Zeit be­gann ich über den feuch­ten Wald­bo­den zu krie­chen, wo­bei ich mein jetzt nutz­lo­ses Bein taub hin­ter mir her­zog, und so ge­lang­te ich schließ­lich zu dem schwei­gen­den Hau­fen aus mensch­li­chen Lei­bern. In dem we­ni­gen noch ver­blie­be­nen Licht such­te ich um­her, bis ich Da­ve ge­fun­den hat­te. Ei­ne Rei­he von Schrap­nell­split­tern hat­ten sich in den un­te­ren Teil sei­ner Brust ge­fres­sen, und von dort an wei­ter nach un­ten war sei­ne Ja­cke mit Blut ge­tränkt. Doch sei­ne Li­der zit­ter­ten, als ich den Arm um sei­ne Schul­tern schlang und sei­nen Ober­kör­per an­hob, so daß ich sei­nen Kopf mit mei­nem Knie ab­stüt­zen konn­te. Sein Ge­sicht war so weiß und weich wie das ei­nes schla­fen­den Kin­des.

„Ei­leen?“ sag­te er schwach, aber deut­lich, als ich ihn an­hob. Aber sei­ne Au­gen blie­ben ge­schlos­sen.

Ich öff­ne­te den Mund, um ir­gend et­was zu sa­gen, aber zu­erst brach­te ich kei­nen Ton über die Lip­pen. Dann, als ich mei­ne Stimm­bän­der wie­der un­ter Kon­trol­le ge­bracht hat­te, war mir mei­ne ei­ge­ne Stim­me fremd.

„Sie wird gleich hier sein“, sag­te ich.

Die Ant­wort schi­en ihn zu be­ru­hi­gen. Er lag re­gungs­los und at­me­te ganz flach. Sein Ge­sicht war so ru­hig und glatt, als wä­re ihm über­haupt kein Leid ge­sche­hen, als spür­te er kei­nen Schmerz. Ich ver­nahm das be­stän­di­ge Ge­räusch trop­fen­der Näs­se, das ich zu­nächst auf den Re­gen zu­rück­führ­te, der noch im­mer von den Blät­tern wei­ter oben si­cker­te. Doch dann ließ ich mei­ne Hand sin­ken und er­tas­te­te das Rinn­sal aus Näs­se mit den Fin­gern. Das Trop­fen stamm­te von Da­ves Blut, vom un­te­ren Teil sei­ner durch­tränk­ten Ja­cke. Die Feuch­tig­keit ström­te auf den Bo­den hin­ab, wo der moos­ar­ti­ge Be­wuchs von dem Schar­ren ster­ben­der Men­schen ab­ge­scheu­ert wor­den war und nur nack­te Er­de hin­ter­las­sen hat­te.

Ich such­te die ne­ben mir lie­gen­den Kör­per nach Mull­bin­den ab und be­müh­te mich da­bei, den auf mei­nem Bein ru­hen­den Da­ve so we­nig wie mög­lich zu be­we­gen. Ich fand drei Stück und ver­such­te, sei­ne Blu­tun­gen da­mit zu stil­len. Doch es war ver­ge­bens. Das Rot floß aus ei­nem hal­b­en Dut­zend Wun­den aus ihm her­aus. Und in­dem ich ver­such­te, ihm die­se Ban­da­gen an­zu­le­gen, be­rei­te­te ich ihm Schmer­zen und brach­te ihn so zum Teil wie­der zu sich.

„Ei­leen?“ frag­te er.

„Sie wird gleich hier sein“, ant­wor­te­te ich er­neut.

Und et­was spä­ter, als ich es auf­ge­ge­ben hat­te und nur still da­saß und ihn fest­hielt, frag­te er wie­der.

„Ei­leen?“

„Sie wird gleich hier sein.“

Doch als die Nacht an­ge­bro­chen und der Mond hoch ge­nug ge­stie­gen war, um sein sil­ber­nes Licht durch die win­zi­gen Fu­gen im dich­ten Blät­ter­dach trop­fen zu las­sen, so daß ich sein Ge­sicht wie­der er­ken­nen konn­te, war er tot.