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Als Voll­mit­glied der Gil­de brauch­te ich mir kei­nen Auf­trag mehr zu be­schaf­fen, um da­mit einen An­trag auf Be­glei­chung mei­ner Rei­se­kos­ten zu be­grün­den. Die Zah­lungs­mit­tel zwi­schen den Wel­ten wa­ren Wis­sen und Fä­hig­kei­ten, un­ter­ge­bracht in den mensch­li­chen Pa­ke­ten, die die­se Din­ge be­för­der­ten. Und die In­for­ma­tio­nen, die von den er­fah­re­nen Neu­ig­kei­ten-Er­mitt­lern der In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­gil­de ge­sam­melt und wei­ter­ge­lei­tet wur­den, stell­ten ein ähn­li­ches Gut­ha­ben dar, das leicht in die­se Wäh­rung um­ge­tauscht wer­den konn­te – denn In­for­ma­tio­nen wa­ren für die ein­zel­nen Wel­ten zwi­schen den Ster­nen ge­nau­so wich­tig. In­fol­ge­des­sen war die Gil­de nicht arm. Auf je­der der vier­zehn Wel­ten konn­ten die et­wa zwei­hun­dert Voll­mit­glie­der auf Fonds zu­rück­grei­fen, die einen Prä­si­den­ten hät­ten nei­disch ma­chen kön­nen.

Und wie ich fest­stell­te, führ­te das in mei­nem Fall zu dem son­der­ba­ren Er­geb­nis, daß das Geld als sol­ches sei­ne Be­deu­tung für mich ver­lor. In je­nem Win­kel mei­nes Kopf­es, in dem ich mich zu­vor mit fi­nan­zi­el­len Pro­ble­men be­schäf­tigt hat­te, herrsch­te nun gäh­nen­de Lee­re – und wäh­rend des lan­gen Flug­es von Kul­tis nach Cas­si­da schi­en die­se Lee­re von her­ein­strö­men­den Er­in­ne­run­gen aus­ge­füllt zu wer­den. Er­in­ne­run­gen an Ei­leen.

Mir war nicht be­wußt ge­we­sen, daß sie einen so wich­ti­gen Be­stand­teil mei­nes Le­bens dar­ge­stellt hat­te: auch vor dem Tod un­se­rer El­tern, ganz be­son­ders aber da­nach. Jetzt aber dräng­ten Sze­nen und Streif­lich­ter vor mei­ne in­ne­ren Au­gen, als das Raum­schiff zwi­schen den Ster­nen ei­ne Pha­sen­ver­schie­bung nach der an­de­ren hin­ter sich brach­te und ich al­lein in mei­nem Ers­te-Klas­se-Ab­teil saß. Oder auch in der Mes­se, ab­ge­son­dert von den an­de­ren, da ich nicht in der rich­ti­gen Stim­mung für Ge­sell­schaft war.

Es wa­ren kei­ne dra­ma­ti­schen Er­in­ne­run­gen. Ich sah er­neut die Ge­schen­ke, die sie mir an die­sem oder je­nen Ge­burts­tag ge­ge­ben hat­te. Es wa­ren Er­in­ne­run­gen an Au­gen­bli­cke, in de­nen sie mir ge­hol­fen hat­te, dem un­er­träg­li­chen und in­halts­lo­sen Druck stand­zu­hal­ten, den Ma­thi­as auf mei­ne See­le aus­ge­übt hat­te. Und ich er­in­ner­te mich ge­nau­so gut an je­ne Mo­men­te, in de­nen sie selbst un­glück­lich ge­we­sen war: Jetzt end­lich be­griff ich, daß sie un­glück­lich und ein­sam ge­we­sen war, doch da­mals war mir das nicht auf­ge­fal­len, weil mich mein ei­ge­ner Kum­mer so ge­fes­selt hat­te. Plötz­lich konn­te ich mir auch je­ne Au­gen­bli­cke ins Ge­dächt­nis zu­rück­ru­fen, in de­nen sie ih­re ei­ge­nen Pro­ble­me bei­sei­te ge­drängt hat­te, nur um mir bei mei­nen zu hel­fen. Und nie – ich konn­te mich nicht ein­mal an ein ein­zi­ges Bei­spiel ent­sin­nen – hat­te ich von mei­nen ab­ge­las­sen, um ih­re auch nur zu ver­ste­hen zu ver­su­chen.

All dies stürz­te nun wie­der auf mich ein, und in mei­nem In­nern krampf­te sich al­les zu­sam­men, bil­de­te einen ei­si­gen und har­ten Kno­ten aus Schuld­be­wußt­sein und Kum­mer. Zwi­schen ei­ner Rei­he von Pha­sen­ver­schie­bun­gen ver­such­te ich her­aus­zu­fin­den, ob ich mei­ne Er­in­ne­run­gen in Al­ko­hol er­trän­ken konn­te. Aber ich muß­te fest­stel­len, daß mir auch di­ver­se al­ko­ho­li­sche Ge­trän­ke kei­nen Aus­weg bo­ten. Und so ge­lang­te ich nüch­tern nach Cas­si­da.

Es ist ein klei­ne­rer und är­me­rer Nach­bar­pla­net von New­ton, mit der sich die­se Welt ein Son­nen­sys­tem von zwölf Him­mels­kör­pern teilt. Cas­si­da fehlt es an der aka­de­mi­schen Ver­bin­dung der an­de­ren Pla­ne­ten un­ter­ein­an­der und des­halb auch dem spär­li­cher flie­ßen­den Nach­schub an wis­sen­schaft­li­chen und ma­the­ma­ti­schen Be­ga­bun­gen, die die frü­her be­sie­del­te Welt New­ton wohl­ha­bend ge­macht ha­ben. Am Raum­ha­fen der Haupt­stadt Mo­ro ging ich an Bord ei­ner Fäh­re, die nach Al­ban flog, der von New­ton fi­nan­zi­ell un­ter­stütz­ten Uni­ver­si­täts­stadt, wo Da­ve Pha­sen­ver­schie­bungs­me­cha­nik stu­diert und wo so­wohl er als auch Ei­leen ge­ar­bei­tet hat­ten, um sein Stu­di­um zu fi­nan­zie­ren.

Es war ein in sich ver­schach­tel­ter Amei­sen­hau­fen, ei­ne Stadt, die ver­schie­de­ne Ebe­nen um­faß­te. Nicht daß es für ih­re Er­rich­tung an Platz ge­man­gelt hät­te: Doch der größ­te Teil Al­bans war mit Gel­dern von New­ton ge­baut wor­den, und die ent­spre­chend den be­grenz­ten Mit­teln öko­no­mischs­te Bau­wei­se war die, al­le not­wen­di­gen Ein­rich­tun­gen auf engs­tem Raum zu­sam­men­zu­fas­sen.

Am Fäh­ren­ha­fen be­sorg­te ich mir ei­ne Weg­wei­s­er­ru­te und pro­gram­mier­te sie mit Ei­leens Adres­se, die sie mir in je­nem Brief an­ge­ge­ben hat­te, der am Mor­gen des Ta­ges von Da­ves Tod an­ge­kom­men war. Die Ru­te zeig­te mir den Weg und führ­te mich durch ei­ne Rei­he von ver­ti­ka­len und ho­ri­zon­ta­len Röh­ren und Kor­ri­do­ren zu der Ein­heit ei­nes Wohn­kom­ple­xes, der ir­gend­wo über Bo­den­ni­veau lag – aber mehr konn­te man über sei­ne Po­si­ti­on beim bes­ten Wil­len nicht sa­gen.

Als ich in den letz­ten Gang hin­ein­schritt, der zur Ein­gangs­tür der von mir ge­such­ten Adres­se führ­te, be­gann in mir zum ers­ten­mal der wirk­li­che Be­weg­grund em­por­zu­schäu­men, der mich da­von ab­ge­hal­ten hat­te, auch nur be­wußt an Ei­leen zu den­ken – bis Li­sa ihn mir scho­nungs­los ins Ge­dächt­nis zu­rück­ge­ru­fen hat­te. Das Bild, das sich mir auf der Wald­lich­tung von Neu­er­de dar­ge­bo­ten hat­te, trieb wie­der vor mei­ne in­ne­ren Au­gen, so schreck­lich klar und in­ten­siv wie die Sze­ne ei­nes Alp­traums. Und Angst und Wut be­gan­nen wie Fie­ber in mir zu bren­nen.

Einen Au­gen­blick schwank­te ich – und wä­re fast ste­hen­ge­blie­ben. Doch dann schob mich das Be­we­gungs­mo­ment, das ich wäh­rend der lan­gen Rei­se hier­her ent­wi­ckelt hat­te, wei­ter auf die Tür zu, und ich be­tä­tig­te den Mel­der.

Ei­ne Se­kun­den wäh­ren­de Ewig­keit ge­sch­ah gar nichts. Dann öff­ne­te sich die Tür, und das Ge­sicht ei­ner Frau in mitt­le­ren Jah­ren blick­te mir ent­ge­gen. Ich starr­te es ver­blüfft an, denn es war nicht das Ge­sicht mei­ner Schwes­ter.

„Ei­leen …“ stot­ter­te ich. „Ich mei­ne … Mrs. Da­vid Hall? Ist sie nicht da?“ Dann fiel mir ein, daß ich die­ser Frau un­be­kannt sein muß­te. „Ich bin ihr Bru­der … von der Er­de. Be­richt­er­stat­ter Tam Olyn.“

Ich trug na­tür­lich Um­hang und Bas­ken­müt­ze, und das reich­te in ge­wis­ser Wei­se als Aus­weis. Doch dar­an dach­te ich in die­sem Au­gen­blick über­haupt nicht. Ich er­in­ner­te mich wie­der dar­an, als die Frau ein we­nig ner­vös wur­de. Wahr­schein­lich hat­te sie noch nie in ih­rem Le­ben ein Gil­de­mit­glied leib­haf­tig vor sich ge­se­hen.

„Nun, sie ist um­ge­zo­gen“, sag­te sie. „Für ei­ne Per­son al­lein ist die­se Un­ter­kunft zu groß. Sie wohnt nun ei­ni­ge Eta­gen tiefer und nörd­lich von hier. Einen Au­gen­blick, ich ge­be Ih­nen ih­re neue Adres­se.“

Sie saus­te da­von. Ich hör­te, wie sie ei­ni­ge ra­sche Wor­te mit ei­ner männ­li­chen Stim­me wech­sel­te, dann kam sie mit ei­nem Blatt Pa­pier zu­rück.

„Hier“, sag­te sie ein we­nig au­ßer Atem. „Ich hab’s für Sie auf­ge­schrie­ben. Sie ge­hen wei­ter die­sen Kor­ri­dor ent­lang … oh, wie ich se­he, ha­ben Sie ei­ne Weg­wei­s­er­ru­te da­bei. Dann stel­len Sie sie ein­fach ein. Es ist nicht weit.“

„Ich dan­ke Ih­nen“, sag­te ich.

„Kei­ne Ur­sa­che. Wir wa­ren Ih­nen … nun, ich glau­be, ich soll­te Sie nicht auf­hal­ten“, mein­te sie, denn ich wand­te mich be­reits zum Ge­hen. „Wir wa­ren Ih­nen gern be­hilf­lich. Auf Wie­der­se­hen.“

„Auf Wie­der­se­hen“, mur­mel­te ich. Ich ging den Kor­ri­dor hin­un­ter und jus­tier­te mei­ne Weg­wei­s­er­ru­te neu. Sie ge­lei­te­te mich fort und tiefer hin­ab, und die Tür, an der ich schließ­lich die Ruftas­te be­tä­tig­te, lag ein or­dent­li­ches Stück un­ter dem Bo­den­ni­veau.

Dies­mal muß­te ich län­ger war­ten. Dann öff­ne­te sich die Tür end­lich – und dort stand mei­ne Schwes­ter.

„Tam“, sag­te sie.

Sie schi­en sich über­haupt nicht ver­än­dert zu ha­ben. In ih­rem Ge­sicht war kein Zei­chen von Kum­mer oder Gram zu er­ken­nen, und plötz­lich er­strahl­te der Glanz neu­er Hoff­nung in mir. Aber als sie ein­fach nur ste­hen­blieb und mich schwei­gend an­sah, ver­blaß­te die­ser Schim­mer wie­der. Ich konn­te nur war­ten. Und so rühr­te ich mich eben­falls nicht und stand ihr wort­los ge­gen­über.

„Komm her­ein“, sag­te sie schließ­lich, doch ihr Ton­fall hat­te sich kaum ge­än­dert. Sie wich zur Sei­te, und ich trat ein. Hin­ter mir schloß sich die Tür.

Ich blick­te mich um, und der Schock über das, was sich mir dar­bot, riß mich für einen Au­gen­blick aus mei­nem emo­tio­na­len Elend. Der in Grau ge­hal­te­ne Raum war nicht grö­ßer als das Ers­te-Klas­se-Ab­teil, das ich wäh­rend der Rei­se hier­her in dem Raum­schiff be­wohnt hat­te.

„Wie kommt es, daß du in ei­ner sol­chen Woh­nung lebst?“ platz­te es aus mir her­aus.

Sie sah mich oh­ne die ge­rings­te Re­ak­ti­on auf mei­ne Ver­blüf­fung an.

„Es ist bil­li­ger“, sag­te sie gleich­gül­tig.

„Aber du brauchst kein Geld zu spa­ren!“ sag­te ich. „Ich ha­be doch al­les mit dei­nem Er­be von Ma­thi­as ge­re­gelt: Ich bin mit ei­nem auf der Er­de ar­bei­ten­den Cas­si­da­ner dar­auf­hin über­ein­ge­kom­men, daß er Gel­der sei­ner Fa­mi­lie hier­her an dich über­weist. Willst du da­mit sa­gen …“ – die­ser Ge­dan­ke war mir nie in den Sinn ge­kom­men – „… daß es da­bei Schwie­rig­kei­ten ge­ge­ben hat? Hat dich sei­ne Fa­mi­lie nicht aus­ge­zahlt?“

„Doch“, sag­te sie ganz ru­hig. „Aber jetzt muß ich mich auch um Da­ves Fa­mi­lie küm­mern.“

„Fa­mi­lie?“ Ich starr­te sie ver­wirrt an.

„Da­ves jün­ge­rer Bru­der geht noch zur Schu­le … schon gut.“ Sie stand noch im­mer. Und sie hat­te mich auch nicht auf­ge­for­dert, Platz zu neh­men. „Es wür­de zu lan­ge dau­ern, dir das al­les zu er­zäh­len, Tam. Warum bist du ge­kom­men?“

Ich starr­te sie an.

„Ei­leen“, sag­te ich bit­tend. Sie war­te­te nur. „Sieh mal“, setz­te ich er­neut an und griff nach dem Stroh­halm des von ihr an­ge­schnit­te­nen Ge­sprächsthe­mas, „selbst wenn du Da­ves Fa­mi­lie aus­hilfst … jetzt ist das über­haupt kein Pro­blem mehr. Ich bin nun Voll­mit­glied der Gil­de. Was Geld an­geht, kann ich dich mit al­lem un­ter­stüt­zen, was du brauchst.“

„Nein.“ Sie schüt­tel­te den Kopf.

„Du lie­ber Him­mel, warum denn nicht? Ich sa­ge dir, ich kann jetzt über un­be­grenz­te …“

„Ich möch­te über­haupt nichts von dir, Tam“, ant­wor­te­te sie. „Den­noch vie­len Dank für das An­ge­bot. Uns geht es auch so ganz gut, Da­ves Fa­mi­lie und mir. Ich ha­be ei­ne recht gu­te Ar­beit ge­fun­den.“

„Ei­leen!“

„Ich ha­be dich das schon ein­mal ge­fragt, Tam“, sag­te sie und rühr­te sich noch im­mer nicht. „Warum bist du hier­her­ge­kom­men?“

Selbst wenn sie ei­ne stei­ner­ne Sta­tue ge­we­sen wä­re, es hät­te kei­nen grö­ße­ren Un­ter­schied zu der Schwes­ter ge­ben kön­nen, die ich ge­kannt hat­te. Ich kann­te sie über­haupt nicht mehr. Sie war wie ein voll­kom­men frem­der Mensch für mich.

„Um dich zu se­hen“, sag­te ich. „Ich dach­te … du woll­test viel­leicht wis­sen …“

„Ich weiß al­les dar­über“, sag­te sie, oh­ne je­de Re­gung, voll­kom­men gleich­gül­tig. „Man hat mir al­les dar­über er­zählt. Sie sag­ten auch, du seist ver­wun­det wor­den. Aber du hast dich in­zwi­schen wie­der er­holt, nicht wahr, Tam?“

„Ja“, gab ich hilf­los zu­rück. „Das heißt, ganz in Ord­nung bin ich nicht. Mein Knie ist ein biß­chen steif. Sie sa­gen, es wird so blei­ben.“

„Das tut mir leid“, sag­te sie.

„Ver­dammt, Ei­leen!“ platz­te es aus mir her­aus. „Steh nicht ein­fach so da und sprich mit mir, als wür­dest du mich gar nicht ken­nen! Ich bin dein Bru­der!“

„Nein.“ Sie schüt­tel­te den Kopf. „Die ein­zi­gen Ver­wand­ten, die ich jetzt noch ha­be – die ein­zi­gen, die ich jetzt noch ha­ben möch­te –, sind Da­ves Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge. Sie brau­chen mich. Du nicht. Du hast mich nie ge­braucht, Tam. Du warst dir im­mer selbst ge­nug, im­mer auf dich selbst fi­xiert.“

„Ei­leen!“ sag­te ich bit­tend. „Sieh mal, ich weiß, daß du mir die Schuld an Da­ves Tod ge­ben mußt – zu­min­dest teil­wei­se.“

„Nein“, ant­wor­te­te sie. „Du kannst nichts da­für, daß du so bist wie du bist. Es war mein Feh­ler, daß ich mir all die Jah­re ein­zu­re­den ver­such­te, du seist an­ders als du in Wirk­lich­keit bist. Ich glaub­te, in dir schlie­fe et­was, das Ma­thi­as nie auf­we­cken konn­te, dem man nur ei­ne Chan­ce ge­ben müs­se, sich zu ent­wi­ckeln. Dar­auf hat­te ich ge­hofft, als ich dich bat, mir bei der Ent­schei­dung über Ja­mie zu hel­fen. Und als du mir schriebst, du woll­test Da­ve zur Sei­te ste­hen, war ich da­von über­zeugt, daß nun end­lich das an die Ober­flä­che dei­nes We­sens trat, was ich im­mer in dir ver­mu­tet hat­te. Aber ich ha­be mich bei­de Ma­le ge­irrt.“

„Ei­leen!“ schrie ich. „Es war nicht mei­ne Schuld, daß wir bei­de, Da­ve und ich, auf einen Ver­rück­ten stie­ßen. Viel­leicht hät­te ich et­was an­de­res tun sol­len – aber ich ha­be ver­sucht, ihn fort­zu­schi­cken, nach­dem ich an­ge­schos­sen wor­den war. Doch er woll­te nicht ge­hen. Be­greifst du nicht? Es war be­stimmt nicht mei­ne Schuld!“

„Na­tür­lich war es das nicht, Tam“, sag­te sie. Ich starr­te sie an. „Des­halb ma­che ich dir auch kei­ne Vor­wür­fe. Du bist ge­nau­so­we­nig ver­ant­wort­lich für das, was du tust, wie ein Po­li­zei­hund, der dar­auf dres­siert ist, je­den an­zu­grei­fen, der ei­ne falsche Be­we­gung macht. Du bist das, wo­zu dich On­kel Ma­thi­as er­zo­gen hat, Tam – ein Zer­stö­rer. Es ist nicht dei­ne Schuld, aber das än­dert gar nichts. Trotz der gan­zen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit ihm fül­len dich Ma­thi­as1 Leh­ren über das Zer­stö­ren voll­kom­men aus, Tam. Und für et­was an­de­res ist kein Platz mehr.“

„Wie kannst du so et­was sa­gen!“ schrie ich sie an. „Das ist nicht wahr. Gib mir nur noch ei­ne Chan­ce, Ei­leen, und ich wer­de es dir be­wei­sen! Ich ver­si­che­re dir, daß es nicht wahr ist!“

„Doch, das ist es“, gab sie zu­rück. „Ich ken­ne dich, Tam, bes­ser als ir­gend je­mand an­ders. Und ich ha­be die gan­ze Zeit über von die­sem Teil dei­nes We­sens ge­wußt. Ich woll­te es nur nicht wahr­ha­ben. Jetzt aber muß ich mich da­mit ab­fin­den – um Da­ves Fa­mi­lie wil­len, die mich braucht. Da­ve konn­te ich nicht hel­fen, sei­nen Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen schon – so­lan­ge ich dich nicht wie­der­se­he. Wenn ich zu­las­se, daß du ih­nen durch mich zu na­he kommst, wirst du sie eben­falls zer­stö­ren.“

An die­ser Stel­le brach sie ab und starr­te mich nur an. Ich öff­ne­te den Mund, um ihr zu ant­wor­ten, aber mir fie­len nicht die pas­sen­den Wor­te ein. Wir stan­den uns ge­gen­über und blick­ten uns wort­los an, nur einen gu­ten Me­ter von­ein­an­der ge­trennt. Doch die­se Ent­fer­nung zwi­schen uns war wie ei­ne licht­jahr­wei­te Kluft, brei­ter und tiefer als al­les, was ich in mei­nem bis­he­ri­gen Le­ben ken­nen­ge­lernt hat­te.

„Du gehst jetzt bes­ser, Tam“, sag­te sie schließ­lich.

Ih­re Wor­te lös­ten mei­ne Be­täu­bung auf und brach­ten mich wie­der zur Be­sin­nung.

„Ja“, gab ich matt zu­rück. „Das soll­te ich wohl.“

Ich wand­te mich von ihr ab. Als ich auf die Tür zu­schritt, hoff­te ich noch im­mer, sie wür­de mich zu­rück­hal­ten und bit­ten zu blei­ben. Aber hin­ter mir rühr­te sich nichts; al­les blieb still. Und als ich auf den Gang hin­austrat, warf ich einen letz­ten Blick über die Schul­ter.

Sie hat­te sich nicht be­wegt. Sie stand noch im­mer am glei­chen Platz, wie ein Frem­der, der dar­auf war­te­te, daß ich ging.

Und so ging ich. Und ein­sam und al­lein kehr­te ich zum Raum­ha­fen zu­rück. Al­lein, al­lein, al­lein …