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„Be­glau­bi­gun­gen?“ frag­te Grae­me kurz dar­auf, als wir es uns mit Dor­sai­whis­ky-Drinks in Hän­den – und das ist ein sehr gu­ter Whis­ky – be­quem ge­macht hat­ten.

Ich reich­te ihm mei­ne Pa­pie­re. Er sah sie rasch durch und nahm die an „Kom­man­deur der Kampf­trup­pe auf San­ta Ma­ria“ adres­sier­ten Brie­fe von Sayo­na, dem Bür­gen von Kul­tis, her­aus. Er las sie durch und leg­te sie bei­sei­te. Dann reich­te er mir den Ak­ten­de­ckel mit mei­nen Be­glau­bi­gun­gen zu­rück.

„Sie ha­ben zu­erst Jo­sef­stadt einen Be­such ab­ge­stat­tet?“ frag­te er.

Ich nick­te. Ich be­merk­te, wie er mein Ge­sicht mus­ter­te und sei­ne Zü­ge da­bei ernst wur­den.

„Sie mö­gen die Quä­ker nicht“, stell­te er fest.

Sei­ne Wor­te nah­men mir den Atem. Als ich hier­her­ge­kom­men war, hat­te ich mich gut auf den rhe­to­ri­schen Er­öff­nungs­zug vor­be­rei­tet. Doch jetzt kam es zu plötz­lich. Ich blick­te zur Sei­te.

Ich wag­te es nicht, so­fort zu ant­wor­ten. Ich konn­te nicht. Ich konn­te so­wohl zu­viel als auch zu­we­nig sa­gen, wenn ich mei­ne Wor­te nicht sorg­fal­tig ab­wog und vor­her über­leg­te. Dann be­kam ich mich wie­der un­ter Kon­trol­le.

„Wenn ich für den Rest mei­nes Le­bens ir­gend­ein großes Ziel ha­be“, sag­te ich lang­sam, „dann fol­gen­des: Ich wer­de al­les in mei­ner Macht Ste­hen­de tun, um die Quä­ker und ih­re gan­ze Le­bens­wei­se aus der Ge­mein­schaft der zi­vi­li­sier­ten Men­schen zu til­gen.“

Ich blick­te ihn wie­der an. Er hat­te sei­nen einen Ell­bo­gen fest auf die Schreib­tisch­flä­che ge­stützt und mus­ter­te mich.

„Das ist ein ziem­lich ein­sei­ti­ger Stand­punkt, nicht wahr?“

„Nicht ein­sei­ti­ger als der der Quä­ker.“

„Glau­ben Sie?“ frag­te er ernst. „Das wür­de ich nicht un­be­dingt sa­gen.“

„Ich dach­te“, gab ich zu­rück, „Sie wä­ren der­je­ni­ge, der ge­gen sie kämpft.“

„Nun ja.“ Er lä­chel­te dünn. „Aber wir sind Sol­da­ten auf bei­den Sei­ten.“

„Ich glau­be nicht, daß sie das eben­falls so se­hen.“

Er schüt­tel­te leicht mit dem Kopf.

„Wor­aus schlie­ßen Sie das?“ frag­te er.

„Ich ha­be sie er­lebt“, ant­wor­te­te ich. „Vor drei Jah­ren ge­riet ich bei Haupt­burg auf Neu­er­de zwi­schen die Fron­ten. Sie er­in­nern sich si­cher an die­sen Kon­flikt.“ Ich klopf­te auf mein stei­fes Knie. „Ich wur­de an­ge­schos­sen und konn­te nicht mehr wei­ter. Die Cas­si­da­ner um mich her­um be­gan­nen sich zu­rück­zu­zie­hen – sie wa­ren Söld­ner, und die feind­li­chen Trup­pen ih­nen ge­gen­über be­stan­den aus Quä­kern, die als Söld­ner ver­mie­tet wa­ren.“

Ich hielt in­ne und nahm einen Schluck von dem Whis­ky. Als ich das Glas wie­der ab­setz­te, hat­te sich Grae­me noch nicht be­wegt.

„Da war ein jun­ger Mann, ein noch un­er­fah­re­ner Sol­dat“, sag­te ich. „Ich war da­mit be­schäf­tigt, ei­ne Ar­ti­kel­se­rie über den Feld­zug zu ver­fas­sen, aus der Sicht ei­nes Be­tei­lig­ten. Ich wähl­te ihn als den Be­tei­lig­ten, den ich da­zu brauch­te. Die Wahl lag auf der Hand. Wis­sen Sie“, ich trank er­neut, und dies­mal leer­te ich mein Glas, „mei­ne jün­ge­re Schwes­ter kam zwei Jah­re vor die­sem Krieg mit ei­nem Ar­beits­ver­trag als Kon­to­ris­tin nach Cas­si­da, und sie hat­te ihn dort ge­hei­ra­tet. Er war mein Schwa­ger.“

Grae­me nahm mir das lee­re Glas aus der Hand und schenk­te es mir wie­der voll, oh­ne da­bei ein Wort zu sa­gen.

„Ei­gent­lich war er kein rich­ti­ger Sol­dat“, sag­te ich. „Er stu­dier­te Pha­sen­ver­schie­bungs­me­cha­nik, und die­ses Stu­di­um hät­te noch drei wei­te­re Jah­re ge­dau­ert. Aber er fiel bei ei­ner Aus­le­se­prü­fung durch, und das war ge­ra­de zu ei­ner Zeit, als Cas­si­da auf­grund ei­ner ver­trag­li­chen Ver­pflich­tung Trup­pen­kon­tin­gen­te nach Neu­er­de schi­cken muß­te, um dort das mi­li­tä­ri­sche Gleich­ge­wicht wie­der­her­zu­stel­len.“ Ich at­me­te tief durch „Nun, um es mit we­ni­gen Wor­ten aus­zu­drücken: Er lan­de­te schließ­lich in dem glei­chen Feld­zug, über den ich be­rich­te­te. Und auf­grund der Se­rie, die ich schrieb, sorg­te ich da­für, daß er zu mir ab­kom­man­diert wur­de. Wir bei­de glaub­ten, dies sei das bes­te für ihn, auf die­se Wei­se sei er si­cher.“

Wie­der nahm ich einen Schluck von dem Whis­ky.

„Doch wis­sen Sie“, sag­te ich, „die bes­se­ren Ge­schich­ten fin­det man im­mer dann, wenn man dem Kampf­ge­sche­hen ganz na­he ist. Ei­nes Ta­ges, als sich die Trup­pen von Neu­er­de zu­rück­zo­gen, ge­rie­ten wir zwi­schen die Fron­ten. Ich wur­de ver­wun­det, von ei­nem Na­del­ge­schoß, das durch mei­ne Knieschei­be drang. Die Ar­til­le­rie der Quä­ker kam nä­her, und die La­ge wur­de wirk­lich un­ge­müt­lich. Die Sol­da­ten um uns her­um mach­ten sich ei­lig an den Rück­zug, doch Da­ve ver­such­te mich zu tra­gen, denn er fürch­te­te, die Ar­til­le­ris­ten der Quä­ker wür­den mich um­pus­ten, oh­ne sich die Zeit zu neh­men fest­zu­stel­len, daß ich ein Zi­vi­list war. Nun“, ich at­me­te er­neut tief durch, „dann er­wi­sch­ten uns die In­fan­te­rie­ein­hei­ten der Quä­ker. Sie brach­ten uns zu ei­ner Art Lich­tung, wo sie ei­ne Men­ge Ge­fan­ge­ne un­ter­ge­bracht hat­ten, und dort be­hiel­ten sie uns ei­ne Wei­le. Dann tauch­te ein Grup­pen­füh­rer auf – ei­ner die­ser fa­na­ti­schen Ty­pen, ein hoch­ge­wach­se­ner Sol­dat, der et­wa in mei­nem Al­ter war und so aus­sah, als sei er kurz vor dem Ver­hun­gern. Er hat­te den Be­fehl, da­für zu sor­gen, daß sich die In­fan­te­ris­ten zu ei­ner Kampf­trup­pe zu­sam­menschlos­sen, um einen neu­en An­griff durch­zu­füh­ren.“

Ich hielt in­ne und nahm einen wei­te­ren Schluck. Doch der Whis­ky blieb bei­na­he ge­schmack­los für mich.

„Das be­deu­te­te, sie konn­ten kei­ne Män­ner er­üb­ri­gen, um die Ge­fan­ge­nen zu be­wa­chen. Sie muß­ten sie hin­ter den Li­ni­en der Quä­ker frei­las­sen. Der Grup­pen­füh­rer hielt das für ein Un­ding. Sie hät­ten si­cher­zu­stel­len, daß die Ge­fan­ge­nen ih­nen nicht ge­fähr­lich wer­den konn­ten.“

Grae­me be­trach­te­te mich noch im­mer.

„Ich be­griff nicht. Ich ver­stand noch nicht ein­mal, als die an­de­ren Quä­ker – kei­ner von ih­nen war Un­ter­of­fi­zier wie der Grup­pen­füh­rer – pro­tes­tier­ten.“ Ich stell­te das Glas auf dem Tisch ne­ben mir ab und starr­te an die Wand des Bü­ros. Er­neut sah ich es vor mir, so klar und deut­lich, als blick­te ich durch ein Fens­ter auf die­se Sze­ne. „Ich er­in­ne­re mich noch, wie der Grup­pen­füh­rer sich ganz auf­rich­te­te und den Kopf hob. Ich sah in sei­ne Au­gen. Es war, als be­lei­dig­te ihn der Pro­test der an­de­ren.

,Sind Sie Aus­er­wähl­te Got­tes?’ rief er ih­nen zu. ‚Ge­hö­ren Sie zu den Aus­er­wähl­ten?’“

Ich sah zu Ken­sie Grae­me. Er saß noch im­mer be­we­gungs­los da und be­ob­ach­te­te mich. Sein ei­ge­nes Glas wirk­te klein und zer­brech­lich in sei­ner großen Hand.

„Ver­ste­hen Sie?“ frag­te ich ihn. „Als ob die Ge­fan­ge­nen über­haupt kei­ne Men­schen wä­ren, nur weil es sich bei ih­nen nicht um Quä­ker han­del­te. Als wä­ren sie so et­was wie Un­ter­menschen, und als sei es des­halb ganz in Ord­nung, sie um­zu­brin­gen.“ Ich schau­der­te plötz­lich. „Und er brach­te sie um! Ich saß an einen Baum­stumpf ge­lehnt – ge­schützt durch mei­ne Uni­form, die mich als Neu­ig­kei­ten-Er­mitt­ler aus­wies –, und ich sah zu, wie er sie nie­der­schoß. Sie al­le. Ich saß dort und blick­te Da­ve an, und er saß am Bo­den und sah mich an, als ihn der Grup­pen­füh­rer er­schoß.“

Und da­mit brach ich jäh ab. Es war nicht mei­ne Ab­sicht ge­we­sen, al­les auf ein­mal und auf die­se Wei­se zu er­zäh­len. Es war ein­fach so, daß ich nie­man­dem hat­te er­zäh­len kön­nen, wie hilf­los ich ge­we­sen war … nie­man­dem, der es ver­stan­den hät­te. Doch ir­gend et­was an Grae­me gab mir den Ein­druck, daß er ver­ste­hen wür­de.

„Ja“, sag­te er nach ei­nem Au­gen­blick, nahm mein Glas und füll­te es wie­der. „Ein sol­ches Er­leb­nis ist wirk­lich schlimm. Ist der Grup­pen­füh­rer ge­fan­gen und nach dem Söld­ner­ko­dex ver­ur­teilt wor­den?“

„Nach­dem es zu spät war, ja.“

Er nick­te und blick­te an mir vor­bei auf die Wand. „Na­tür­lich sind sie nicht al­le so.“

„Es gibt ge­nug, um ih­nen al­len einen sol­chen Ruf zu ge­ben.“

„Lei­der ja. Nun“, er sah mich mit ei­nem Lä­cheln an, „wir wol­len und wer­den die­sen Feld­zug von sol­chen Sa­chen rein­hal­ten.“

„Sa­gen Sie mir ei­nes“, ant­wor­te­te ich und setz­te mein Glas ab. „Ist ei­ne sol­che Sa­che – wie Sie es aus­drücken – je­mals den Quä­kern selbst zu­ge­sto­ßen?“

Ir­gend et­was ver­än­der­te sich in der At­mo­sphä­re des Zim­mers. Er zö­ger­te kurz, be­vor er ant­wor­te­te. Wäh­rend ich auf sei­ne Er­wi­de­rung war­te­te, spür­te ich, wie mein Herz lang­sa­mer schlug, drei­mal in der Stil­le.

„Nein, das ist es nicht“, sag­te er schließ­lich.

„Warum nicht?“ frag­te ich.

Die Span­nung, die plötz­lich in der Luft lag, ver­stärk­te sich. Und ich be­griff, daß ich es zu rasch vor­an­ge­trie­ben hat­te. Die gan­ze Zeit über hat­te ich zu ihm als Men­schen ge­spro­chen und da­bei ver­ges­sen, was er au­ßer­dem war. Jetzt be­gann ich zu ver­ges­sen, daß er ein Mensch war, und statt des­sen wur­de er mir als Dor­sai be­wußt – ein In­di­vi­du­um, das so mensch­lich war wie ich, das aber auf ei­ne le­bens­lan­ge Aus­bil­dung zu­rück­bli­cken konn­te und des­sen ge­ne­ti­sche Ent­wick­lung über all die Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg zu ei­nem Un­ter­schied ge­führt hat­te. Er be­weg­te sich nicht, noch ver­än­der­te er sei­nen Ton­fall oder et­was in der Art. Doch ir­gend­wie schi­en er die Ent­fer­nung zu mir zu ver­grö­ßern und in ein hö­her ge­le­ge­nes, käl­te­res und stei­ni­ge­res Land zu klet­tern, in das ich mich nur auf ei­ge­ne Ge­fahr vor­wa­gen konn­te.

Ich er­in­ner­te mich an das, was man über die Men­schen die­ser klei­nen, kal­ten Welt mit den nack­ten, fel­si­gen Ber­gen ge­sagt hat­te: Wenn die Dor­sai sich ent­sch­lös­sen, ih­re Sol­da­ten aus den Diens­ten für die an­de­ren Wel­ten zu­rück­zu­zie­hen und sie ge­gen die­se Wel­ten ins Fel­de zu füh­ren, dann könn­te ih­nen nicht ein­mal die ver­ein­te Macht des Rests der Zi­vi­li­sa­ti­on stand­hal­ten. Zu­vor hat­te ich das nie­mals wirk­lich ge­glaubt. Ei­gent­lich hat­te ich nicht ein­mal viel dar­über nach­ge­dacht. Aber in die­sem Au­gen­blick, als ich die­sem Mann ge­gen­über­saß und spür­te, was im Zim­mer vor sich ging, wur­de es mir plötz­lich be­wußt. Es stimm­te tat­säch­lich, und die­ses Wis­sen weh­te mir so kalt ent­ge­gen wie die mir über einen Glet­scher hin­weg ins Ge­sicht heu­len­den Sturm­win­de. Und dann be­ant­wor­te­te er mei­ne Fra­ge.

„Weil so et­was“, sag­te Ken­sie Grae­me, „aus­drück­lich von Ar­ti­kel zwei des Söld­ner­ko­de­xes ver­bo­ten wird.“

Dann wur­de der Ernst in sei­nem Ge­sicht oh­ne Über­gang von ei­nem Lä­cheln er­setzt, und die Span­nung im Zim­mer, die ich ge­ra­de ver­spürt hat­te, lös­te sich auf.

„Nun“, sag­te er und stell­te sein Glas leer auf den Tisch, „wie wä­re es, wenn Sie zu uns in die Of­fi­ziers­mes­se kom­men und mit uns zu­sam­men es­sen?“

Ich nahm das Abendes­sen mit ihm ge­mein­sam ein, und die Mahl­zeit war sehr wohl­schme­ckend. Sie woll­ten mich für die Nacht bei sich un­ter­brin­gen, doch ich konn­te füh­len, wie es mich zum kal­ten und düs­te­ren La­ger na­he Jo­sef­stadt zu­rück­zog – wo mich nur ei­ne Art von kal­ter und bit­te­rer Be­frie­di­gung dar­über er­war­te­te, un­ter mei­nen Fein­den zu wei­len.

Ich fuhr zu­rück.

Es war un­ge­fähr elf Uhr abends, als ich das La­ger­tor pas­sier­te.

Und als ich den Wa­gen park­te, trat ge­ra­de je­mand aus dem Ein­gang zu Ja­me­thons Haupt­quar­tier her­aus. Das Kar­ree war von ei­ni­gen we­ni­gen Schein­wer­fern an den Wän­den nur matt be­leuch­tet, und das Licht ver­lor sich auf dem re­gen­nas­sen Pflas­ter. Einen Au­gen­blick lang konn­te ich nicht er­ken­nen, wer der Mann war – und dann sah ich, daß es sich um Ja­me­thon han­del­te.

Er wä­re in ei­nem ge­wis­sen Ab­stand an mir vor­bei­ge­gan­gen, doch ich stieg aus mei­nem Wa­gen aus und schritt auf ihn zu. Er blieb ste­hen, als ich vor ihn trat.

„Mr. Olyn“, sag­te er ru­hig. In der Dun­kel­heit konn­te ich sei­nen Ge­sichts­aus­druck nicht aus­ma­chen.

„Ich ha­be ei­ne Fra­ge, die ich Ih­nen stel­len möch­te“, sag­te ich und lä­chel­te in der Fins­ter­nis.

„Es ist ziem­lich spät für Fra­gen.“

„Die­se wird nicht viel Zeit in An­spruch neh­men.“ Ich be­müh­te mich, den Aus­druck sei­nes Ge­sichts zu er­ken­nen, aber ich sah nur Schat­ten. „Ich ha­be das La­ger der Exo­ten be­sucht. Ihr Kom­man­deur ist ein Dor­sai. Ich neh­me an, Sie wis­sen das?“

„Ja.“ Ich konn­te kaum die Be­we­gung sei­ner Lip­pen se­hen.

„Wir ha­ben uns un­ter­hal­ten. Da­bei er­gab sich ei­ne Fra­ge, und ich dach­te, die soll­te ich Ih­nen stel­len, Kom­man­deur. Wür­den Sie Ih­ren Män­nern je­mals be­feh­len, Ge­fan­ge­ne um­zu­brin­gen?“

Für einen Au­gen­blick herrsch­te ein selt­sa­mes Schwei­gen zwi­schen uns. Dann ant­wor­te­te er.

„Das Tö­ten oder Miß­han­deln von Kriegs­ge­fan­ge­nen“, gab er un­be­wegt zu­rück, „wird von Ar­ti­kel zwei des Söld­ner­ko­de­xes ver­bo­ten.“

„Aber Sie sind kei­ne Söld­ner hier, oder? Sie sind ei­ne ge­schlos­se­ne Quä­ker-Streit­macht, die für Ih­re ei­ge­ne Wah­re Kir­che und die Äl­tes­ten kämpft.“

„Mr. Olyn“, sag­te er, wäh­rend ich mich wei­ter­hin ver­geb­lich be­müh­te, den Aus­druck sei­nes von Schat­ten ein­gehüll­ten Ge­sichts aus­zu­ma­chen – und die Wor­te schie­nen in die Län­ge ge­zo­gen zu sein, ob­wohl der Ton­fall der Stim­me, die sie sprach, so ru­hig und ge­las­sen war wie im­mer, „mein Herr hat mich zu Sei­nem Die­ner und zu ei­nem Füh­rer Sei­ner Sol­da­ten ge­macht. Bei kei­ner die­ser bei­den Auf­ga­ben wer­de ich ver­sa­gen.“

Und da­mit wand­te er sich um – sein Ge­sicht lag noch im­mer im Schat­ten und war mir so­mit ver­bor­gen – und ging.

Ich kehr­te al­lein in mei­ne Un­ter­kunft zu­rück und mach­te mir ge­dank­lich No­ti­zen dar­über, was ich am nächs­ten Tag er­le­di­gen muß­te. Die Be­geg­nung mit Pad­ma hat­te mich ziem­lich durch­ein­an­der­ge­bracht. Selt­sam: Ir­gend­wie hat­te ich es bei­nah fer­tig­ge­bracht zu ver­ges­sen, daß sei­ne Be­rech­nun­gen der Hand­lun­gen von Men­schen auch auf mich per­sön­lich An­wen­dung fin­den konn­ten. Es er­schüt­ter­te mich nun, dar­an er­in­nert zu wer­den. Ich muß­te mehr dar­über her­aus­fin­den, wie­viel sei­ne Wis­sen­schaft der On­to­ge­ne­tik wuß­te und vor­aus­se­hen konn­te. Falls nö­tig, von Pad­ma selbst. Aber zu­nächst wür­de ich mit der Nach­for­schung bei ge­wöhn­li­chen Be­zugs­quel­len be­gin­nen.

Nie­mand, dach­te ich, wür­de oh­ne wei­te­res auf den phan­tas­ti­schen Ge­dan­ken kom­men, daß ein ein­zel­ner Mann wie ich ei­ne Kul­tur zer­stö­ren konn­te, die die Be­völ­ke­run­gen zwei­er Pla­ne­ten um­faß­te. Nie­mand – au­ßer Pad­ma viel­leicht. Was ich wuß­te, hat­te er mög­li­cher­wei­se mit sei­nen Kal­ku­la­tio­nen ent­deckt. Und das war fol­gen­des: Die bei­den Quä­ker­wel­ten Har­mo­nie und Ein­tracht stan­den vor ei­ner Ent­schei­dung, die Le­ben oder Tod für ih­re gan­ze Le­bens­wei­se be­deu­ten moch­te. Selbst ei­ne ganz un­be­deu­ten­de Sa­che konn­te den ent­schei­den­den Aus­schlag zu die­ser oder je­ner Sei­te ge­ben. Ich dach­te an mei­nen Plan und lieb­kos­te ihn in mei­nen Ge­dan­ken.

Denn jetzt weh­te ein neu­er Wind zwi­schen den Ster­nen.

Vor vier­hun­dert Jah­ren wa­ren wir al­le Men­schen der Er­de ge­we­sen … von Al­t­er­de, dem Mut­ter­pla­ne­ten, der mei­ne Hei­mat war – ei­ne ein­zi­ge Mensch­heit.

Dann, mit der Ab­wan­de­rung zu neu­en Wel­ten, hat­te sich die mensch­li­che Ras­se „zer­split­tert“, um einen Aus­druck der Exo­ten zu ver­wen­den. Je­des ein­zel­ne so­zia­le Frag­ment, je­der psy­cho­lo­gi­sche Ty­pus, hat­te sich selbst iso­liert, sich mit an­de­ren zu­sam­men­ge­schlos­sen, die ähn­lich be­schaf­fen wa­ren. Und das hat­te den Weg frei­ge­macht für die Ent­wick­lung spe­zia­li­sier­ter Ar­ten. Bis wir ein hal­b­es Dut­zend Split­ter-Men­schen­ty­pen hat­ten: die Krie­ger von Dor­sai, die Phi­lo­so­phen der Exo­ti­schen Wel­ten, die Na­tur­wis­sen­schaft­ler auf New­ton, Cas­si­da und Ve­nus und so wei­ter.

Die Iso­la­ti­on hat spe­zi­fi­sche Ar­ten her­vor­ge­bracht. Dann hat­te die zu­neh­men­de, auf Ge­gen­sei­tig­keit be­ru­hen­de Ver­bin­dung zwi­schen den nun ent­wi­ckel­ten jün­ge­ren Wel­ten und die stän­dig zu­neh­men­de Wachs­tums­ra­te des tech­ni­schen Fort­schritts die Not­wen­dig­keit ei­ner Spe­zia­li­sie­rung er­zwun­gen. Der Han­del zwi­schen den Wel­ten be­stand im Aus­tausch ge­schul­ter In­tel­lek­te. Ge­nerä­le der Dor­sai bo­ten einen gu­ten Wech­sel­kurs im Aus­tausch ge­gen Psych­ia­ter von den Exo­ten. Von Al­t­er­de stam­men­de Nach­rich­ten­leu­te wie ich selbst wur­den in Raum­schiffs­kon­struk­teu­re von Cas­si­da um­ge­rech­net. Und so ist es wäh­rend der gan­zen letz­ten hun­dert Jah­re ge­we­sen.

Doch jetzt trie­ben die Wel­ten auf­ein­an­der zu. Die Volks­wirt­schaft ver­schmolz die mensch­li­che Ras­se er­neut zu ei­ner Ein­heit. Und je­de ein­zel­ne Welt kämpf­te dar­um, die Vor­tei­le die­ses Zu­sam­men­schmel­zen für sich zu ge­win­nen und da­bei einen mög­lichst großen Teil der ei­ge­nen Un­ab­hän­gig­keit und Le­bens­wei­se zu wah­ren.

Kom­pro­mis­se wa­ren er­for­der­lich – aber die stren­ge und star­re Re­li­gi­on der Quä­ker ver­bot je­den Kom­pro­miß und hat­te ih­nen viel Feind­schaft ein­ge­bracht. Die öf­fent­li­che Mei­nung auf den an­de­ren Wel­ten wand­te sich be­reits ge­gen die Quä­ker. Wenn man sie bei die­sem Feld­zug und in al­ler Öf­fent­lich­keit in Miß­kre­dit und Ver­ruf brach­te, dann konn­ten sie ih­re Söld­ner nicht mehr ver­mie­ten. Ih­re Han­dels­bi­lanz wür­de ein De­fi­zit auf­wei­sen – und sie muß­te aus­ge­gli­chen sein, da­mit sie die Diens­te der ge­schul­ten Spe­zia­lis­ten in An­spruch neh­men konn­ten, die mit den spe­zi­el­len Mög­lich­kei­ten der an­de­ren Wel­ten aus­ge­bil­det wa­ren. Und sie brauch­ten die­se Fach­leu­te, soll­te die Ge­sell­schaft ih­rer Wel­ten, die an na­tür­li­chen Res­sour­cen arm wa­ren, le­bens­fä­hig blie­ben. Sie wür­den ster­ben.

Wie der jun­ge Da­ve ge­stor­ben war. Lang­sam. In der Nacht.

Als ich jetzt in der Dun­kel­heit dar­über nach­dach­te, stand die Sze­ne wie­der klar vor mei­nen Au­gen. Es war erst frü­her Nach­mit­tag ge­we­sen, als man uns ge­fan­gen­ge­nom­men hat­te, doch die Son­ne ging be­reits un­ter, als der Grup­pen­füh­rer kam und un­se­ren Wäch­tern den Be­fehl über­brach­te ab­zu­rück­en.

Ich er­in­ne­re mich, wie ich zu den Lei­chen auf der Lich­tung ge­kro­chen bin, nach­dem die Quä­ker ab­ge­zo­gen wa­ren, nach­dem al­les vor­über war und sie mich al­lein ge­las­sen hat­ten. Und wie ich Da­ve in­mit­ten der To­ten fand. Und er leb­te noch. Er war schwer ver­letzt, und ich konn­te die Blu­tung nicht stil­len.

Das hät­te auch nichts genützt, wie man mir spä­ter sag­te. Aber als ich ihn in den Ar­men hielt, hat­te ich das an­ge­nom­men. Und des­halb ver­such­te ich es. Aber schließ­lich gab ich auf, und in­zwi­schen war es be­reits ganz dun­kel ge­wor­den. Ich hielt ihn nur fest, und ich wuß­te nicht, daß er tot war – bis er kalt zu wer­den be­gann. Und das war der Au­gen­blick, als ich mich in das zu ver­wan­deln be­gann, was mein On­kel im­mer aus mir zu ma­chen ver­sucht hat­te. Ich spür­te, wie ich im In­nern starb. Da­ve und mei­ne Schwes­ter hat­ten mei­ne Fa­mi­lie sein sol­len, die ein­zi­ge Fa­mi­lie, die ich je­mals zu be­hal­ten ge­hofft hat­te. Statt des­sen konn­te ich nur still da­sit­zen in der Dun­kel­heit und ihn fest­hal­ten. Und hö­ren, wie das Blut von sei­ner rot­durch­tränk­ten Ja­cke Trop­fen für Trop­fen, ganz lang­sam, auf das to­te Va­ri­formei­chen­laub un­ter uns si­cker­te.

Jetzt lag ich hier im La­ger der Quä­ker und konn­te nicht schla­fen und er­in­ner­te mich. Nach ei­ner Wei­le ver­nahm ich das Mar­schie­ren der Sol­da­ten, die im Kar­ree zum Mit­ter­nachts­ap­pell an­tra­ten.

Ich lag auf dem Rücken und lausch­te ih­nen. Schließ­lich ver­stumm­ten ih­re mar­schie­ren­den Stie­fel. Das ein­zi­ge Fens­ter mei­ner Kam­mer be­fand sich über mei­ner Lie­ge, hoch oben in der Wand, an die die lin­ke Sei­te mei­nes Feld­bet­tes ge­rückt war. Es war un­ver­glast, und die Nacht­luft trug die Ge­räusche un­ge­fil­tert zu mir her­an. Zu­sam­men mit dem trü­ben Licht vom Kar­ree, das ein blas­ses, recht­e­cki­ges Mus­ter auf die ge­gen­über­lie­gen­de Wand mei­nes Zim­mers mal­te. Ich lag still da, be­trach­te­te die­ses Recht­eck und lausch­te dem Ap­pell drau­ßen. Und ich hör­te, wie der Of­fi­zier vom Dienst ein Wür­dig­keits­ge­bet mit ih­nen an­stimm­te. Da­nach san­gen sie er­neut ih­re Kampf­hym­ne.

 

Frag nicht, Sol­dat – nicht jetzt noch ir­gend­wann,

In wel­chen Krieg dein Ban­ner dich füh­ren mag.

Die Le­gio­nen des Teu­fels um­zin­geln uns.

Kämp­fe! Und spü­re nicht den Schlag!

 

Ruhm und Eh­re, Lob und Pro­fit,

Sind nicht mehr wert als Flit­ter­gold.

Tu dei­ne Pflicht und fra­ge nicht,

Den Schmutz des Men­schen auf Er­den ihr las­sen sollt.

 

Blut und Kum­mer, nicht en­den­de Pein,

Das ist un­ser al­ler Los.

Pack das blan­ke Schwert und stell dich dem Feind,

Fal­le freu­dig in der Schlacht, so groß.

 

Dann wer­den wir, die ge­weih­ten Sol­da­ten,

Schließ­lich vor dem Thro­ne ste­hen, dem hel­len Schim­mer.

Ge­weiht von un­se­ren Wun­den, dem ro­ten Strö­men,

Dem Wil­len un­se­res Herrn er­ge­ben – für im­mer!

 

Da­nach zo­gen sie sich auf Feld­bet­ten zu­rück, die sich von mei­nem nicht un­ter­schie­den.

Ich lag reg­los da, lausch­te der Stil­le im Kar­ree und dem gleich­mä­ßi­gen Rau­schen ei­nes Re­gen­gus­ses au­ßer­halb mei­nes Fens­ters – und als der Schau­er vor­über war, den Trop­fen, die lang­sam fie­len, ei­ner nach dem an­de­ren, un­ge­zählt in der Dun­kel­heit.