26

 

Von Neu Sankt Mar­kus nach Blau­vain und Pad­mas Bot­schaft wa­ren es ein­tau­send­vier­hun­dert Ki­lo­me­ter. Ich hät­te es in sechs Stun­den schaf­fen sol­len, doch ei­ne un­ter­spül­te Brücke zwang mich zu ei­nem Um­weg, und so brauch­te ich vier­zehn.

Es war nach acht Uhr am fol­gen­den Mor­gen, als ich in die Bot­schaft hin­ein­platz­te, bei der es sich um ei­ne Syn­the­se von Er­ho­lungs­park und Ge­bäu­de han­del­te.

„Pad­ma“, sag­te ich. „Ist er noch …?“

„Ja, Mr. Olyn“, sag­te die Emp­fangs­da­me. „Er er­war­tet Sie.“

Das Ge­sicht über der blau­en Ro­be lä­chel­te mir ent­ge­gen. Ich be­merk­te es kaum. Ich war zu sehr mit mei­ner Er­leich­te­rung dar­über be­schäf­tigt, daß Pad­ma nicht schon zu den Rand­ge­bie­ten der Kampf­zo­ne ab­ge­flo­gen war.

Sie führ­te mich ei­ne Trep­pe hin­ab und um ei­ne Ecke her­um und übergab mich ei­nem jun­gen Exo­ten, der sich als ei­ner von Pad­mas Se­kre­tä­ren vor­stell­te. Er brach­te mich durch ei­ni­ge we­ni­ge Gän­ge und stell­te mich ei­nem an­de­ren Se­kre­tär vor, ei­nem Mann in mitt­le­ren Jah­ren dies­mal. Er ge­lei­te­te mich durch ver­schie­de­ne Räu­me und wies mir den Weg durch einen lan­gen Kor­ri­dor und um ei­ne wei­te­re Ecke her­um, hin­ter der nach sei­nen Wor­ten der Ein­gang zu den Bü­ro­räu­men lag, in de­nen Pad­ma zur Zeit ar­bei­te­te. Dann ver­ließ er mich.

Ich ging in die von ihm an­ge­ge­be­ne Rich­tung. Doch als ich durch den Ein­gang trat, be­fand ich mich nicht in ei­nem Zim­mer, son­dern in ei­nem an­de­ren, kur­z­en Gang. Und ich blieb wie an­ge­wur­zelt ste­hen. Denn ich glaub­te plötz­lich, Ken­sie Grae­me käme mir ent­ge­gen – und nicht mit freund­li­chem Ge­sicht, son­dern mit Wut und Ent­schlos­sen­heit in sei­nen Zü­gen.

Aber der Mann, der wie Ken­sie aus­sah, warf mir nur einen bei­läu­fi­gen Blick zu und schritt auf mich zu, oh­ne mich wei­ter zu be­ach­ten. Dann be­griff ich.

Es war na­tür­lich nicht Ken­sie. Es war Ken­sies Zwil­lings­bru­der Ian, der Kom­man­deur der Gar­ni­son­s­trup­pen hier in Blau­vain. Er schritt mir ent­ge­gen, und ich be­gann mich wie­der in Be­we­gung zu set­zen und auf ihn zu­zu­ge­hen. Doch ich konn­te den Schock der Über­ra­schung nicht ab­strei­fen, bis er an mir vor­bei­sch­ritt.

Ich glau­be, nie­mand in mei­ner Po­si­ti­on hät­te ihm auf die­se Wei­se be­geg­nen kön­nen, oh­ne ge­nau­so ver­blüfft zu sein. Von Ja­nol hat­te ich ei­ni­ge Ma­le ge­hört, daß Ian das ge­naue Ge­gen­teil von Ken­sie war. Nicht im mi­li­tä­ri­schen Sin­ne – bei­de wa­ren her­vor­ra­gen­de Mus­ter­exem­pla­re von Dor­sai-Ofi­zie­ren –, son­dern was ih­re per­sön­li­chen Ei­gen­ar­ten, ih­re Cha­rak­tere be­traf.

Ken­sie hat­te vom ers­ten Au­gen­blick an einen nach­hal­ti­gen Ein­druck auf mich ge­macht – mit sei­ner freund­li­chen und zu­vor­kom­men­den Na­tur und der mensch­li­chen Wär­me, die manch­mal ge­nau die Tat­sa­che ver­ges­sen ließ, daß er ein Dor­sai war. Wenn er nicht zu sehr und un­mit­tel­bar mit mi­li­tä­ri­schen An­ge­le­gen­hei­ten be­schäf­tigt war, dann schi­en er ganz Son­nen­schein zu sein. In sei­ner Ge­gen­wart konn­te man sich ge­nau­so wär­men wie im Son­nen­licht. Ian, sein phy­si­sches Du­pli­kat, das mir nun wie ei­ne Art zwei­äu­gi­ger Odin ent­ge­gen­schritt, war der Schat­ten selbst.

Dies war letzt­end­lich die Ver­kör­pe­rung der Le­gen­de von den Dor­sai. Dies war der stren­ge Mann mit dem ei­ser­nen Her­zen und der dunklen und ein­sa­men See­le. In der mäch­ti­gen Fes­tung sei­nes Kör­pers wohn­te das es­sen­ti­el­le Ich Ians so iso­liert wie ein Ere­mit in ei­ner Höh­le. Er war der grim­mi­ge und ein­sa­me Hoch­län­der sei­ner fer­nen Vor­fah­ren, die in ihm wie­der zum Le­ben er­wach­ten.

We­der Ge­setz noch Mo­ral wa­ren Ians Ma­xi­men, son­dern Ver­trau­en in das ge­ge­be­ne Wort, Sip­pen­loya­li­tät und die Pflicht zur Blut­feh­de. Er war ein Mann, der die Höl­le selbst durch­que­ren wür­de, um ei­ne Schuld zu be­glei­chen, im gu­ten wie im schlech­ten Sin­ne. Und in dem Au­gen­blick, als ich ihn nä­her kom­men sah und ihn schließ­lich er­kann­te, dank­te ich plötz­lich al­len noch üb­rig­ge­blie­be­nen Göt­tern, daß er bei mir kei­ne Schuld of­fen hat­te.

Dann wa­ren wir an­ein­an­der vor­bei, und er ver­schwand hin­ter ei­ner Ecke.

Ge­rüch­te woll­ten wis­sen, er­in­ner­te ich mich, daß die Fins­ter­nis an und in ihm nur in Ken­sies Nä­he er­hellt wur­de, daß er im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes die an­de­re Hälf­te sei­nes Zwil­lings­bru­ders war. Und daß er für im­mer in sei­ner ei­ge­nen Nacht ge­fan­gen war, wenn er das Licht ver­lor, das Ken­sies strah­len­de Ge­gen­wart auf ihn warf.

Es war ei­ne Be­mer­kung, an die ich mich spä­ter er­in­nern soll­te, eben­so wie an den Au­gen­blick, als ich ihn mir ent­ge­gen­kom­men sah.

Jetzt aber ver­gaß ich ihn wie­der, als ich durch einen wei­te­ren Zu­gang schritt und durch ihn in ein Zim­mer ge­lang­te, das wie ein klei­ner Win­ter­gar­ten aus­sah. Und dort saß Pad­ma, ge­klei­det in sei­ne blaue Ro­be, mit freund­li­chem Ge­sicht und kurz­ge­schnit­te­nem wei­ßen Haar.

„Tre­ten Sie nä­her, Mr. Olyn“, sag­te er und er­hob sich. „Und kom­men Sie mit mir.“

Er wand­te sich um und wan­der­te durch einen Bo­gen­gang aus pur­pur­nen Kle­ma­tis­blü­ten. Ich folg­te ihm und ge­lang­te auf einen klei­nen Hof, auf dem nur die el­lip­tisch ge­form­te Li­mou­si­ne ei­nes Luft­wa­gens stand. Pad­ma klet­ter­te be­reits in einen der Sit­ze vor den Kon­trol­len. Er hielt mir die Lu­ke auf.

„Wo­hin flie­gen wir?“ frag­te ich, als ich ein­stieg.

Er be­tä­tig­te die Kon­trol­len des Au­to­pi­lo­ten, und das Fahr­zeug hob sich vom Bo­den. Er über­ließ es ganz der Au­to­ma­tik und dreh­te sei­nen Sitz, so daß er mich di­rekt an­bli­cken konn­te.

„Zum Be­fehls­stand von Kom­man­deur Grae­me“, ant­wor­te­te er.

Wir stie­gen hö­her und flo­gen dann in ho­ri­zon­ta­ler Rich­tung wei­ter. Sei­ne Au­gen wa­ren so hell­braun, wie ich sie in Er­in­ne­rung hat­te. Doch jetzt, in die­ser Hö­he, schie­nen sie das durch die trans­pa­ren­te Kan­zel her­ein­si­ckern­de Son­nen­licht zu kon­zen­trie­ren und dar­in zu er­glü­hen. Ich konn­te we­der die­sen Blick noch sei­nen Ge­sichts­aus­druck deu­ten.

„Ich ver­ste­he“, sag­te ich. „Ich weiß na­tür­lich, daß ein An­ruf von Grae­mes HQ Sie schnel­ler er­reicht, als ich es vom glei­chen Aus­gangs­punkt mit ei­nem Bo­den­wa­gen ver­mag. Aber ich hof­fe, Sie ha­ben nicht vor, mich ihm aus­zu­lie­fern, oder et­was in der Art. Ich ver­fü­ge über Be­glau­bi­gun­gen der Un­par­tei­lich­keit, die mir als Be­richt­er­stat­ter Im­mu­ni­tät ver­lei­hen. Eben­so wie Er­mäch­ti­gun­gen von so­wohl den Pla­ne­ten der Quä­ker als auch den Exo­ti­schen Wel­ten. Und ich be­ab­sich­ti­ge nicht, mich ver­ant­wort­lich ma­chen zu las­sen für ir­gend­ei­ne Schluß­fol­ge­rung, die Grae­me nach un­se­rem Ge­spräch heu­te früh ge­zo­gen hat – al­lein ge­zo­gen hat.“

Pad­ma saß mir vor den Kon­trol­len des Luft­wa­gens still ge­gen­über und sah mich an. Er hat­te sei­ne Hän­de im Schoß ge­fal­tet. Sie wirk­ten blaß vor der blau­en Ro­be, doch un­ter der Haut der Handrücken zeich­ne­ten sich deut­lich die kräf­ti­gen Seh­nen ab.

„Sie be­glei­ten mich nur auf­grund mei­ner ei­ge­nen Ent­schei­dung, nicht der von Ken­sie.“

„Ich möch­te wis­sen, warum“, sag­te ich an­ge­spannt.

„Weil Sie sehr ge­fähr­lich sind“, gab er lang­sam zu­rück. Und er saß re­gungs­los da und sah mich mit ei­nem fes­ten Blick an.

Ich war­te­te dar­auf, daß er fort­fuhr, doch er schwieg. „Ge­fähr­lich?“ frag­te ich. „Ge­fähr­lich für wen?“

„Für die Zu­kunft von uns al­len.“

Ich starr­te ihn an, dann lach­te ich. Ich war zor­nig.

„So ein aus­ge­mach­ter Blöd­sinn!“ sag­te ich.

Er schüt­tel­te lang­sam den Kopf, oh­ne auch nur ein­mal den Blick von mir ab­zu­wen­den. Die­se Au­gen ver­wirr­ten mich. So un­schul­dig und of­fen wie die ei­nes Kin­des … und doch konn­te ich nicht in sie hin­ein­se­hen und den Mann selbst er­ken­nen.

„Al­so gut“, sag­te ich. „Sa­gen Sie mir, warum ich ge­fähr­lich bin.“

„Weil Sie einen we­sent­li­chen Be­stand­teil der mensch­li­chen Ras­se zer­stö­ren wol­len. Und Sie wis­sen, wie.“

Für kur­ze Zeit herrsch­te Stil­le.

„Nun, das ist ei­ne selt­sa­me An­sicht“, sag­te ich lang­sam und ru­hig. „Ich fra­ge mich, wie Sie da­zu ge­kom­men sind.“

„Durch un­se­re on­to­ge­ne­ti­schen Kal­ku­la­tio­nen“, ant­wor­te­te Pad­ma eben­so ru­hig, wie ich ge­spro­chen hat­te. „Und es ist nicht nur ei­ne An­sicht, Tam. Wie Sie selbst am bes­ten wis­sen.“

„Ach ja“, sag­te ich. „On­to­ge­ne­tik. Die hät­te ich bei­na­he ver­ges­sen.“

„Sie ha­ben sie ver­ges­sen, nicht wahr, Tam?“

„Tat­säch­lich?“ sag­te ich. „Nun, ich glau­be, da ha­ben Sie recht. Ich kann mich nicht so recht er­in­nern, selbst wenn ich das ver­su­che. Sie hat ir­gend et­was mit Evo­lu­ti­on zu tun, das weiß ich noch.“

„On­to­ge­ne­tik“, sag­te Pad­ma, „ist die Un­ter­su­chung der Aus­wir­kun­gen der Evo­lu­ti­on auf die sich ge­gen­sei­tig be­ein­flus­sen­den Kräf­te der mensch­li­chen Ge­sell­schaft.“

„Bin ich ei­ne be­ein­flus­sen­de Kraft?“

„Im Au­gen­blick und wäh­rend der letz­ten paar Jah­re – ja“, ant­wor­te­te Pad­ma. „Und viel­leicht für die nächs­ten paar Jah­re. Aber wahr­schein­lich nicht.“

„Das klingt fast wie ei­ne Dro­hung.“

„Und das ist sie in ge­wis­ser Wei­se.“ Pad­mas Au­gen re­flek­tier­ten das Son­nen­licht, als ich in sie hin­ein­blick­te. „Sie kön­nen nicht nur an­de­re, son­dern auch sich selbst zer­stö­ren.“

„Das wür­de mir gar nicht ge­fal­len.“

„Dann“, mein­te Pad­ma, „tä­ten Sie bes­ser dar­an, mir zu­zu­hö­ren.“

Er nahm ei­ni­ge Neu­jus­tie­run­gen an den Kon­trol­len vor, dann dreh­te er sei­nen Sitz wie­der her­um, um mich er­neut an­zu­bli­cken.

„Die mensch­li­che Ras­se“, sag­te Pad­ma, „er­leb­te in dem Au­gen­blick un­se­rer Ge­schich­te ei­ne evo­lu­tio­näre Ex­plo­si­on, als die in­ter­stel­la­re Ko­lo­ni­sie­rung prak­tisch durch­führ­bar wur­de.“ Er mus­ter­te mich auch wei­ter­hin. Ich blieb auf der Hut. „Das er­folg­te aus Grün­den, die mit ei­nem Ras­sen­in­stinkt zu­sam­men­hän­gen, den wir noch nicht ganz er­faßt ha­ben, der je­doch im we­sent­li­chen mit dem Be­griff Selbs­t­er­hal­tungs­trieb um­schrie­ben wer­den kann.“

„Ich ma­che mir bes­ser ei­ni­ge No­ti­zen“, sag­te ich.

„Wie Sie wol­len“, er­wi­der­te Pad­ma ge­las­sen. „Die­se Ex­plo­si­on führ­te zur Ent­ste­hung von Kul­tu­ren, von de­nen je­de ein­zel­ne einen be­stimm­ten Aspekt der mensch­li­chen We­sens­art dar­stellt. Der ag­gres­si­ve und kampf­be­rei­te Aspekt wur­de zu den Dor­sai. Der Aspekt, der den ein­zel­nen Men­schen völ­lig die­sem oder je­nem Glau­ben über­ant­wor­tet, wird von den Quä­kern ver­kör­pert. Die phi­lo­so­phi­sche Sei­te brach­te die Kul­tur der Exo­ten her­vor, der ich an­ge­hö­re. Wir be­zeich­nen die­se ver­schie­de­nen Aspek­te als Split­ter­kul­tu­ren.“

„Oh ja“, sag­te ich. „Ich weiß über Split­ter­kul­tu­ren Be­scheid.“

„Sie wis­sen dar­über Be­scheid, Tam, aber Sie ken­nen sie nicht.“

„Nicht?“

„Nein“, sag­te Pad­ma, „denn Sie stam­men, wie al­le un­se­re Vor­fah­ren, von der Er­de. Sie re­prä­sen­tie­ren den al­ten Men­schen, der al­le Aspek­te in sich ver­ei­nigt. Die An­ge­hö­ri­gen der Split­ter­kul­tu­ren sind Ih­nen in der evo­lu­tio­nären Ent­wick­lung vor­aus.“

Ich spür­te einen leich­ten Druck in der Ma­gen­gru­be, als sich in mir ein Kno­ten aus fros­ti­gem Är­ger bil­de­te. Sei­ne Stim­me ließ das Echo von Ma­thi­as’ Wor­ten in mir er­klin­gen.

„Ach? Ich fürch­te, das ver­ste­he ich nicht.“

„Weil Sie nicht ver­ste­hen wol­len“, gab Pad­ma zu­rück. „Wenn Sie es ver­stün­den, dann müß­ten Sie zu­ge­ben, daß sie an­ders sind als Sie und da­her auch mit an­de­ren Maß­stä­ben be­ur­teilt wer­den müs­sen.“

„An­ders? Wie?“

„An­ders in fol­gen­der Hin­sicht: Al­le An­ge­hö­ri­gen von Split­ter­kul­tu­ren be­grei­fen in­stink­tiv – aber ein Mensch, der die gan­ze Ska­la in sich ver­ei­nigt, muß da­zu erst ex­tra­po­lie­ren.“ Pad­ma ver­än­der­te sei­ne Sitz­po­si­ti­on ge­ring­fü­gig. „Viel­leicht hilft es Ih­nen, Tam, wenn Sie sich den An­ge­hö­ri­gen ei­ner Split­ter­kul­tur als einen Men­schen wie Sie selbst vor­stel­len, nur mit ei­ner Mo­no­ma­nie, die ihm einen ganz be­stimm­ten Cha­rak­ter auf­zwingt, ei­ne ein­zel­ne We­sens­art. Doch mit die­sem einen Un­ter­schied: An­statt al­le geis­ti­gen und phy­si­schen Be­stand­tei­le sei­nes Selbst, die au­ßer­halb der Gren­ze sei­ner Mo­no­ma­nie lie­gen, ab­ster­ben und ver­küm­mern zu las­sen, wie es bei Ih­nen der Fall wä­re …“

„Warum aus­ge­rech­net bei mir?“ un­ter­brach ich ihn.

„Mei­net­we­gen bei je­dem Men­schen mit der gan­zen Band­brei­te al­ler Aspek­te“, sag­te Pad­ma ru­hig. „Die­se Be­stand­tei­le ster­ben nicht ab, son­dern wer­den so ver­än­dert, daß sie mit der Mo­no­ma­nie har­mo­nie­ren und sie fes­ti­gen. So­mit ha­ben wir kei­nen kran­ken, son­dern einen ge­sun­den, aber an­ders­ar­ti­gen Men­schen.“

„Einen ge­sun­den?“ sag­te ich, und da­bei sah ich ihn wie­der vor mei­nen in­ne­ren Au­gen: den Grup­pen­füh­rer der Quä­ker, der Da­ve auf Neu­er­de um­ge­bracht hat­te.

„Ge­sund, wenn man die Kul­tur als Gan­zes be­trach­tet.

Nicht die ge­le­gent­lich ver­krüp­pel­ten ein­zel­nen Men­schen die­ser Kul­tur, son­dern die Kul­tur als sol­che.“

„Es tut mir leid“, sag­te ich. „Das glau­be ich nicht.“

„Doch, Sie glau­ben es, Tam“, sag­te Pad­ma sanft, „Un­be­wußt. Denn Sie pla­nen, die Schwä­che, die ei­ne sol­che Kul­tur zwangs­läu­fig auf­weist, da­zu aus­zu­nut­zen, sie zu zer­stö­ren.“

„Und was für ei­ne Schwä­che ist das?“

„Die auf der Hand lie­gen­de Schwä­che, die das Ge­gen­teil je­der Stär­ke ist“, sag­te Pad­ma. „Die Split­ter­kul­tu­ren sind nicht le­bens­fä­hig.“

Ich muß ge­zwin­kert ha­ben. Ich war wirk­lich ver­wirrt.

„Nicht le­bens­fä­hig? Sie mei­nen, auf sich al­lein ge­stellt kön­nen sie nicht über­le­ben?“

„Selbst­ver­ständ­lich nicht“, sag­te Pad­ma. „Als der Mensch sich im Weltall aus­zu­brei­ten be­gann, rea­gier­te er auf die Her­aus­for­de­run­gen ei­ner an­ders­ar­ti­gen Um­ge­bung da­mit, in­dem er ver­such­te, sich ihr an­zu­pas­sen. Und er paß­te sich auf die Wei­se an, in­dem er al­le Ele­men­te sei­ner Per­sön­lich­keit ein­zeln aus­pro­bier­te, um her­aus­zu­fin­den, wel­ches sich am bes­ten fürs Über­le­ben eig­ne­te. Jetzt, da al­le Ele­men­te – die Split­ter­kul­tu­ren – über­lebt und sich an­ge­paßt ha­ben, ist die Zeit für sie ge­kom­men, wie­der mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen, um so zu ei­ner ge­reif­te­ren und auf das Uni­ver­sum ori­en­tier­ten Mensch­heit zu wer­den.“

Der Luft­wa­gen setz­te zum Lan­de­an­flug an. Wir nä­her­ten uns un­se­rem Ziel.

„Was hat das mit mir zu tun?“ frag­te ich schließ­lich.

„Wenn Sie ei­ne der Split­ter­kul­tu­ren nach­tei­lig be­ein­flus­sen, dann kann sie sich nicht neu an­pas­sen, so wie ein Mensch, der al­le Tei­la­spek­te be­sitzt, da­zu in der La­ge wä­re. Sie wird ster­ben. Und wenn die Ras­se wie­der zu ei­nem Gan­zen ver­schmilzt, dann wird die­ser wert­vol­le Be­stand­teil für im­mer ver­lo­ren sein.“

„Viel­leicht ist es kein Ver­lust“, sag­te ich, jetzt eben­falls mit wei­cher Stim­me.

„Ein be­deu­ten­der Ver­lust so­gar“, sag­te Pad­ma. „Und ich kann es be­wei­sen. Als ein Mensch, der das gan­ze Spek­trum in sich ver­eint, be­sit­zen Sie den We­sen­sa­spekt je­der ein­zel­nen Split­ter­kul­tur. Wenn Sie sich das ein­ge­ste­hen, dann kön­nen Sie sich so­gar mit de­nen iden­ti­fi­zie­ren, die Sie zer­stö­ren wol­len. Ich ha­be Be­wei­se, die ich Ih­nen zei­gen kann. Wol­len Sie sie se­hen?“

Das Fahr­zeug lan­de­te. Die Tür ne­ben mir öff­ne­te sich. Zu­sam­men mit Pad­ma stieg ich aus und stell­te fest, daß Ken­sie be­reits auf uns war­te­te.

Ich sah erst Pad­ma an, dann den bei uns ste­hen­den Ken­sie, der einen Kopf grö­ßer als ich und zwei Köp­fe grö­ßer als der Au­ßen­bür­ge war. Ken­sie er­wi­der­te mei­nen Blick und sah oh­ne be­son­de­ren Ge­sichts­aus­druck zu mir her­ab. Sei­ne Au­gen wa­ren nicht die sei­nes Zwil­lings­bru­ders – doch aus ir­gend­ei­nem Grund war ich in die­sem Au­gen­blick nicht in der La­ge, sei­nem Blick stand­zu­hal­ten.

„Ich bin Be­richt­er­stat­ter“, sag­te ich. „Und da­her bin ich na­tür­lich al­lem ge­gen­über auf­ge­schlos­sen.“

Pad­ma dreh­te sich um und setz­te sich in Rich­tung auf das Haupt­quar­tier in Be­we­gung. Ken­sie kam mit uns, und ich glau­be, Ja­nol und ei­ni­ge der an­de­ren folg­ten uns eben­falls, ob­wohl ich mich nicht um­sah, um mich des­sen zu ver­ge­wis­sern. Wir such­ten das In­nen­bü­ro auf, wo ich mit Grae­me zum ers­ten­mal zu­sam­men­ge­trof­fen war – nur Ken­sie, Pad­ma und ich. Auf Grae­mes Schreib­tisch lag ein Ak­ten­de­ckel. Er hob ihn auf, ent­nahm ihm ei­ne Art Fo­to­ko­pie und reich­te sie mir als ich an ihn her­an­trat.

Ich nahm sie ent­ge­gen. An der Echt­heit be­stand kein Zwei­fel.

Es war ei­ne No­tiz vom Äl­tes­ten Strah­len­den, dem rang­höchs­ten Äl­tes­ten der ver­ein­ten Re­gie­rung von Har­mo­nie und Ein­tracht, ge­rich­tet an den Kriegs­herrn der Quä­ker im Haupt-Ver­tei­di­gungs­zen­trum auf Har­mo­nie. Die Da­tie­rung lag zwei Mo­na­te zu­rück. Der Text stand auf ei­nem Ein­zel­mo­le­kül-Blatt, und das be­deu­te­te, daß kein Wort da­von ver­än­dert oder ver­fälscht wer­den konn­te, war es ein­mal nie­der­ge­schrie­ben.

 

Sie wer­den in Got­tes Nah­men über fol­gen­des in Kennt­nis ge­setzt:

Da es der Wil­le des Herrn zu sein scheint, daß un­se­ren Brü­dern auf San­ta Ma­ria kein Kriegs­glück be­schie­den sei, wird hier­mit an­ge­ord­net, daß ih­nen hin­fort kein Nach­schub mehr ent­sandt wird, we­der in Hin­blick auf Per­so­nen noch auf Ma­te­ri­al. Denn wenn es der Wil­le un­se­res Herrn ist, daß wir sie­gen, so wer­den wir ganz ge­wiß oh­ne wei­te­ren Auf­wand ge­win­nen. Und wenn es Sein Wil­le ist, uns nicht sie­gen zu las­sen, so käme es ge­wiß ei­ner Gott­lo­sig­keit gleich, die Sub­stanz von Got­tes Kir­chen weg­zu­wer­fen in ei­nem Ver­such, sich die­sem Wil­len zu wi­der­set­zen.

Es sei wei­ter be­foh­len, man mö­ge un­se­ren Brü­dern auf San­ta Ma­ria das Wis­sen er­spa­ren, daß kei­ne wei­te­re Un­ter­stüt­zung ein­trifft, auf daß sie auch im Kamp­fe wie im­mer ih­rem Glau­ben und Got­tes Kir­chen treu und un­ver­zagt blei­ben. Be­ach­ten Sie die­se An­wei­sung, im Na­men des Herrn:

 

Auf Be­fehl des­sen, der be­kannt ist als der Strah­len­de

Äl­tes­ter Un­ter Den Aus­er­wähl­ten

 

Ich sah von der No­tiz auf. Grae­me und Pad­ma be­ob­ach­te­ten mich bei­de.

„Wie ha­ben Sie das in die Hand be­kom­men?“ frag­te ich. „Nein, das wer­den Sie mir na­tür­lich nicht sa­gen.“ Mei­ne Hand­flä­chen schwitz­ten plötz­lich, und da­durch wur­de das glat­te Ma­te­ri­al des Blat­tes schlüpf­rig zwi­schen mei­nen Fin­gern. Ich hielt es ganz fest und sprach rasch wei­ter, da­mit ih­re Bli­cke wei­ter­hin auf mich ge­rich­tet wa­ren. „Aber was ist da­mit? Wir wis­sen doch be­reits dar­über Be­scheid; je­der weiß, daß der Strah­len­de sei­ne Trup­pen hier auf­ge­ge­ben hat. Dies ist nur der Be­weis da­für. Warum al­so zei­gen Sie mir die­se No­tiz?“

„Ich dach­te“, sag­te Pad­ma, „die­ses Blatt könn­te Ih­nen einen klei­nen Stoß ge­ben. Einen, der viel­leicht aus­reicht, da­mit Sie die Sa­che aus ei­nem an­de­ren Blick­win­kel se­hen.“

„Ich ha­be nicht ge­sagt, das sei un­mög­lich“, gab ich zu­rück. „Wis­sen Sie, ein Be­richt­er­stat­ter legt sich nie auf ir­gend et­was fest. Selbst­ver­ständ­lich“, ich wog mei­ne Wor­te sorg­fäl­tig ab, „wenn ich mich da­mit be­fas­sen könn­te …“

„Ich hat­te ge­hofft, daß Sie es mit­neh­men“, sag­te Pad­ma.

„Ge­hofft?“

„Wenn Sie sich da­mit be­schäf­ti­gen und wirk­lich be­grei­fen, was der Strah­len­de hier­mit meint, dann se­hen Sie die Quä­ker viel­leicht ganz an­ders. Dann än­dern Sie viel­leicht Ih­re Mei­nung über sie.“

„Das glau­be ich nicht“, ant­wor­te­te ich. „Aber …“

„Ich bit­te Sie um nichts wei­ter als das“, sag­te Pad­ma. „Neh­men Sie die No­tiz mit.“

Einen Au­gen­blick lang rühr­te ich mich nicht; Pad­ma sah mich an, und hin­ter ihm rag­te Ken­sie auf. Dann zuck­te ich mit den Ach­seln und schob die No­tiz in mei­ne Ta­sche.

„Al­so gut“, sa­ge ich. „Ich neh­me sie mit in mei­ne Un­ter­kunft und den­ke dar­über nach. Mein Bo­den­wa­gen muß hier ir­gend­wo ste­hen, nicht wahr?“

Und ich sah Ken­sie an.

„Zehn Ki­lo­me­ter von hier“, sag­te er. „Das ist weit, aber Sie kämen oh­ne­hin nicht durch. Wir ge­hen für den An­griff in Stel­lung, und die Quä­ker be­rei­ten sich dar­auf vor, uns ab­zu­fan­gen.“

„Neh­men Sie mei­nen Luft­wa­gen“, bot Pad­ma an. „Die Flag­ge der Bot­schaft wird Ih­nen hel­fen.“

„In Ord­nung“, sag­te ich.

Wir ver­lie­ßen das Bü­ro ge­mein­sam, um zum Luft­wa­gen zu ge­hen. Im Au­ßen­bü­ro kam ich an Ja­nol vor­bei, und er gab mei­nen Blick ziem­lich kühl zu­rück. Ich konn­te es ihm nicht ver­den­ken. Wir schrit­ten zum Fahr­zeug, und ich stieg ein.

„Sie kön­nen den Luft­wa­gen zu­rück­schi­cken, wenn Sie da­mit durch sind, wann im­mer das sein wird“, sag­te Pad­ma, als ich durch die Ein­stiegs­lu­ke in die Kan­zel klet­ter­te. „Es ist ei­ne Leih­ga­be der Bot­schaft an Sie, Tam. Ich möch­te ihn nicht ver­lie­ren.“

„Nein“, sag­te ich. „Das wer­den Sie auch nicht.“

Ich schloß die Lu­ke und be­rühr­te die Kon­trol­len.

Es war ein Traum von ei­nem Luft­wa­gen. Ich stieg auf, so leicht und schwe­re­los wie ein Ge­dan­ke, und einen Au­gen­blick spä­ter war ich zwei­tau­send Me­ter hoch. Doch be­vor ich in mei­ne Ta­sche griff und die No­tiz her­vor­hol­te, muß­te ich mich zur Ru­he zwin­gen.

Ich be­trach­te sie. Mei­ne Hand, die sie fest­hielt, zit­ter­te noch im­mer leicht.

Hier­mit be­saß ich ihn end­lich. Den Be­weis für das, was Piers Leaf von der Er­de aus in Er­fah­rung ge­bracht hat­te und hin­ter dem ich von An­fang an her­ge­we­sen war. Und Pad­ma selbst hat­te dar­auf be­stan­den, daß ich ihn mit­nahm.

Es war der He­bel – die ar­chi­me­di­sche Brech­stan­ge –, mit dem ich nicht nur ei­ne, son­dern zwei Wel­ten aus den An­geln he­ben wür­de.

Und der die Quä­ker über den Rand des Ab­grunds hin­aus­schob, in dem der Un­ter­gang auf sie war­te­te.