26
Von Neu Sankt Markus nach Blauvain und Padmas Botschaft waren es eintausendvierhundert Kilometer. Ich hätte es in sechs Stunden schaffen sollen, doch eine unterspülte Brücke zwang mich zu einem Umweg, und so brauchte ich vierzehn.
Es war nach acht Uhr am folgenden Morgen, als ich in die Botschaft hineinplatzte, bei der es sich um eine Synthese von Erholungspark und Gebäude handelte.
„Padma“, sagte ich. „Ist er noch …?“
„Ja, Mr. Olyn“, sagte die Empfangsdame. „Er erwartet Sie.“
Das Gesicht über der blauen Robe lächelte mir entgegen. Ich bemerkte es kaum. Ich war zu sehr mit meiner Erleichterung darüber beschäftigt, daß Padma nicht schon zu den Randgebieten der Kampfzone abgeflogen war.
Sie führte mich eine Treppe hinab und um eine Ecke herum und übergab mich einem jungen Exoten, der sich als einer von Padmas Sekretären vorstellte. Er brachte mich durch einige wenige Gänge und stellte mich einem anderen Sekretär vor, einem Mann in mittleren Jahren diesmal. Er geleitete mich durch verschiedene Räume und wies mir den Weg durch einen langen Korridor und um eine weitere Ecke herum, hinter der nach seinen Worten der Eingang zu den Büroräumen lag, in denen Padma zur Zeit arbeitete. Dann verließ er mich.
Ich ging in die von ihm angegebene Richtung. Doch als ich durch den Eingang trat, befand ich mich nicht in einem Zimmer, sondern in einem anderen, kurzen Gang. Und ich blieb wie angewurzelt stehen. Denn ich glaubte plötzlich, Kensie Graeme käme mir entgegen – und nicht mit freundlichem Gesicht, sondern mit Wut und Entschlossenheit in seinen Zügen.
Aber der Mann, der wie Kensie aussah, warf mir nur einen beiläufigen Blick zu und schritt auf mich zu, ohne mich weiter zu beachten. Dann begriff ich.
Es war natürlich nicht Kensie. Es war Kensies Zwillingsbruder Ian, der Kommandeur der Garnisonstruppen hier in Blauvain. Er schritt mir entgegen, und ich begann mich wieder in Bewegung zu setzen und auf ihn zuzugehen. Doch ich konnte den Schock der Überraschung nicht abstreifen, bis er an mir vorbeischritt.
Ich glaube, niemand in meiner Position hätte ihm auf diese Weise begegnen können, ohne genauso verblüfft zu sein. Von Janol hatte ich einige Male gehört, daß Ian das genaue Gegenteil von Kensie war. Nicht im militärischen Sinne – beide waren hervorragende Musterexemplare von Dorsai-Ofizieren –, sondern was ihre persönlichen Eigenarten, ihre Charaktere betraf.
Kensie hatte vom ersten Augenblick an einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht – mit seiner freundlichen und zuvorkommenden Natur und der menschlichen Wärme, die manchmal genau die Tatsache vergessen ließ, daß er ein Dorsai war. Wenn er nicht zu sehr und unmittelbar mit militärischen Angelegenheiten beschäftigt war, dann schien er ganz Sonnenschein zu sein. In seiner Gegenwart konnte man sich genauso wärmen wie im Sonnenlicht. Ian, sein physisches Duplikat, das mir nun wie eine Art zweiäugiger Odin entgegenschritt, war der Schatten selbst.
Dies war letztendlich die Verkörperung der Legende von den Dorsai. Dies war der strenge Mann mit dem eisernen Herzen und der dunklen und einsamen Seele. In der mächtigen Festung seines Körpers wohnte das essentielle Ich Ians so isoliert wie ein Eremit in einer Höhle. Er war der grimmige und einsame Hochländer seiner fernen Vorfahren, die in ihm wieder zum Leben erwachten.
Weder Gesetz noch Moral waren Ians Maximen, sondern Vertrauen in das gegebene Wort, Sippenloyalität und die Pflicht zur Blutfehde. Er war ein Mann, der die Hölle selbst durchqueren würde, um eine Schuld zu begleichen, im guten wie im schlechten Sinne. Und in dem Augenblick, als ich ihn näher kommen sah und ihn schließlich erkannte, dankte ich plötzlich allen noch übriggebliebenen Göttern, daß er bei mir keine Schuld offen hatte.
Dann waren wir aneinander vorbei, und er verschwand hinter einer Ecke.
Gerüchte wollten wissen, erinnerte ich mich, daß die Finsternis an und in ihm nur in Kensies Nähe erhellt wurde, daß er im wahrsten Sinne des Wortes die andere Hälfte seines Zwillingsbruders war. Und daß er für immer in seiner eigenen Nacht gefangen war, wenn er das Licht verlor, das Kensies strahlende Gegenwart auf ihn warf.
Es war eine Bemerkung, an die ich mich später erinnern sollte, ebenso wie an den Augenblick, als ich ihn mir entgegenkommen sah.
Jetzt aber vergaß ich ihn wieder, als ich durch einen weiteren Zugang schritt und durch ihn in ein Zimmer gelangte, das wie ein kleiner Wintergarten aussah. Und dort saß Padma, gekleidet in seine blaue Robe, mit freundlichem Gesicht und kurzgeschnittenem weißen Haar.
„Treten Sie näher, Mr. Olyn“, sagte er und erhob sich. „Und kommen Sie mit mir.“
Er wandte sich um und wanderte durch einen Bogengang aus purpurnen Klematisblüten. Ich folgte ihm und gelangte auf einen kleinen Hof, auf dem nur die elliptisch geformte Limousine eines Luftwagens stand. Padma kletterte bereits in einen der Sitze vor den Kontrollen. Er hielt mir die Luke auf.
„Wohin fliegen wir?“ fragte ich, als ich einstieg.
Er betätigte die Kontrollen des Autopiloten, und das Fahrzeug hob sich vom Boden. Er überließ es ganz der Automatik und drehte seinen Sitz, so daß er mich direkt anblicken konnte.
„Zum Befehlsstand von Kommandeur Graeme“, antwortete er.
Wir stiegen höher und flogen dann in horizontaler Richtung weiter. Seine Augen waren so hellbraun, wie ich sie in Erinnerung hatte. Doch jetzt, in dieser Höhe, schienen sie das durch die transparente Kanzel hereinsickernde Sonnenlicht zu konzentrieren und darin zu erglühen. Ich konnte weder diesen Blick noch seinen Gesichtsausdruck deuten.
„Ich verstehe“, sagte ich. „Ich weiß natürlich, daß ein Anruf von Graemes HQ Sie schneller erreicht, als ich es vom gleichen Ausgangspunkt mit einem Bodenwagen vermag. Aber ich hoffe, Sie haben nicht vor, mich ihm auszuliefern, oder etwas in der Art. Ich verfüge über Beglaubigungen der Unparteilichkeit, die mir als Berichterstatter Immunität verleihen. Ebenso wie Ermächtigungen von sowohl den Planeten der Quäker als auch den Exotischen Welten. Und ich beabsichtige nicht, mich verantwortlich machen zu lassen für irgendeine Schlußfolgerung, die Graeme nach unserem Gespräch heute früh gezogen hat – allein gezogen hat.“
Padma saß mir vor den Kontrollen des Luftwagens still gegenüber und sah mich an. Er hatte seine Hände im Schoß gefaltet. Sie wirkten blaß vor der blauen Robe, doch unter der Haut der Handrücken zeichneten sich deutlich die kräftigen Sehnen ab.
„Sie begleiten mich nur aufgrund meiner eigenen Entscheidung, nicht der von Kensie.“
„Ich möchte wissen, warum“, sagte ich angespannt.
„Weil Sie sehr gefährlich sind“, gab er langsam zurück. Und er saß regungslos da und sah mich mit einem festen Blick an.
Ich wartete darauf, daß er fortfuhr, doch er schwieg. „Gefährlich?“ fragte ich. „Gefährlich für wen?“
„Für die Zukunft von uns allen.“
Ich starrte ihn an, dann lachte ich. Ich war zornig.
„So ein ausgemachter Blödsinn!“ sagte ich.
Er schüttelte langsam den Kopf, ohne auch nur einmal den Blick von mir abzuwenden. Diese Augen verwirrten mich. So unschuldig und offen wie die eines Kindes … und doch konnte ich nicht in sie hineinsehen und den Mann selbst erkennen.
„Also gut“, sagte ich. „Sagen Sie mir, warum ich gefährlich bin.“
„Weil Sie einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen Rasse zerstören wollen. Und Sie wissen, wie.“
Für kurze Zeit herrschte Stille.
„Nun, das ist eine seltsame Ansicht“, sagte ich langsam und ruhig. „Ich frage mich, wie Sie dazu gekommen sind.“
„Durch unsere ontogenetischen Kalkulationen“, antwortete Padma ebenso ruhig, wie ich gesprochen hatte. „Und es ist nicht nur eine Ansicht, Tam. Wie Sie selbst am besten wissen.“
„Ach ja“, sagte ich. „Ontogenetik. Die hätte ich beinahe vergessen.“
„Sie haben sie vergessen, nicht wahr, Tam?“
„Tatsächlich?“ sagte ich. „Nun, ich glaube, da haben Sie recht. Ich kann mich nicht so recht erinnern, selbst wenn ich das versuche. Sie hat irgend etwas mit Evolution zu tun, das weiß ich noch.“
„Ontogenetik“, sagte Padma, „ist die Untersuchung der Auswirkungen der Evolution auf die sich gegenseitig beeinflussenden Kräfte der menschlichen Gesellschaft.“
„Bin ich eine beeinflussende Kraft?“
„Im Augenblick und während der letzten paar Jahre – ja“, antwortete Padma. „Und vielleicht für die nächsten paar Jahre. Aber wahrscheinlich nicht.“
„Das klingt fast wie eine Drohung.“
„Und das ist sie in gewisser Weise.“ Padmas Augen reflektierten das Sonnenlicht, als ich in sie hineinblickte. „Sie können nicht nur andere, sondern auch sich selbst zerstören.“
„Das würde mir gar nicht gefallen.“
„Dann“, meinte Padma, „täten Sie besser daran, mir zuzuhören.“
Er nahm einige Neujustierungen an den Kontrollen vor, dann drehte er seinen Sitz wieder herum, um mich erneut anzublicken.
„Die menschliche Rasse“, sagte Padma, „erlebte in dem Augenblick unserer Geschichte eine evolutionäre Explosion, als die interstellare Kolonisierung praktisch durchführbar wurde.“ Er musterte mich auch weiterhin. Ich blieb auf der Hut. „Das erfolgte aus Gründen, die mit einem Rasseninstinkt zusammenhängen, den wir noch nicht ganz erfaßt haben, der jedoch im wesentlichen mit dem Begriff Selbsterhaltungstrieb umschrieben werden kann.“
„Ich mache mir besser einige Notizen“, sagte ich.
„Wie Sie wollen“, erwiderte Padma gelassen. „Diese Explosion führte zur Entstehung von Kulturen, von denen jede einzelne einen bestimmten Aspekt der menschlichen Wesensart darstellt. Der aggressive und kampfbereite Aspekt wurde zu den Dorsai. Der Aspekt, der den einzelnen Menschen völlig diesem oder jenem Glauben überantwortet, wird von den Quäkern verkörpert. Die philosophische Seite brachte die Kultur der Exoten hervor, der ich angehöre. Wir bezeichnen diese verschiedenen Aspekte als Splitterkulturen.“
„Oh ja“, sagte ich. „Ich weiß über Splitterkulturen Bescheid.“
„Sie wissen darüber Bescheid, Tam, aber Sie kennen sie nicht.“
„Nicht?“
„Nein“, sagte Padma, „denn Sie stammen, wie alle unsere Vorfahren, von der Erde. Sie repräsentieren den alten Menschen, der alle Aspekte in sich vereinigt. Die Angehörigen der Splitterkulturen sind Ihnen in der evolutionären Entwicklung voraus.“
Ich spürte einen leichten Druck in der Magengrube, als sich in mir ein Knoten aus frostigem Ärger bildete. Seine Stimme ließ das Echo von Mathias’ Worten in mir erklingen.
„Ach? Ich fürchte, das verstehe ich nicht.“
„Weil Sie nicht verstehen wollen“, gab Padma zurück. „Wenn Sie es verstünden, dann müßten Sie zugeben, daß sie anders sind als Sie und daher auch mit anderen Maßstäben beurteilt werden müssen.“
„Anders? Wie?“
„Anders in folgender Hinsicht: Alle Angehörigen von Splitterkulturen begreifen instinktiv – aber ein Mensch, der die ganze Skala in sich vereinigt, muß dazu erst extrapolieren.“ Padma veränderte seine Sitzposition geringfügig. „Vielleicht hilft es Ihnen, Tam, wenn Sie sich den Angehörigen einer Splitterkultur als einen Menschen wie Sie selbst vorstellen, nur mit einer Monomanie, die ihm einen ganz bestimmten Charakter aufzwingt, eine einzelne Wesensart. Doch mit diesem einen Unterschied: Anstatt alle geistigen und physischen Bestandteile seines Selbst, die außerhalb der Grenze seiner Monomanie liegen, absterben und verkümmern zu lassen, wie es bei Ihnen der Fall wäre …“
„Warum ausgerechnet bei mir?“ unterbrach ich ihn.
„Meinetwegen bei jedem Menschen mit der ganzen Bandbreite aller Aspekte“, sagte Padma ruhig. „Diese Bestandteile sterben nicht ab, sondern werden so verändert, daß sie mit der Monomanie harmonieren und sie festigen. Somit haben wir keinen kranken, sondern einen gesunden, aber andersartigen Menschen.“
„Einen gesunden?“ sagte ich, und dabei sah ich ihn wieder vor meinen inneren Augen: den Gruppenführer der Quäker, der Dave auf Neuerde umgebracht hatte.
„Gesund, wenn man die Kultur als Ganzes betrachtet.
Nicht die gelegentlich verkrüppelten einzelnen Menschen dieser Kultur, sondern die Kultur als solche.“
„Es tut mir leid“, sagte ich. „Das glaube ich nicht.“
„Doch, Sie glauben es, Tam“, sagte Padma sanft, „Unbewußt. Denn Sie planen, die Schwäche, die eine solche Kultur zwangsläufig aufweist, dazu auszunutzen, sie zu zerstören.“
„Und was für eine Schwäche ist das?“
„Die auf der Hand liegende Schwäche, die das Gegenteil jeder Stärke ist“, sagte Padma. „Die Splitterkulturen sind nicht lebensfähig.“
Ich muß gezwinkert haben. Ich war wirklich verwirrt.
„Nicht lebensfähig? Sie meinen, auf sich allein gestellt können sie nicht überleben?“
„Selbstverständlich nicht“, sagte Padma. „Als der Mensch sich im Weltall auszubreiten begann, reagierte er auf die Herausforderungen einer andersartigen Umgebung damit, indem er versuchte, sich ihr anzupassen. Und er paßte sich auf die Weise an, indem er alle Elemente seiner Persönlichkeit einzeln ausprobierte, um herauszufinden, welches sich am besten fürs Überleben eignete. Jetzt, da alle Elemente – die Splitterkulturen – überlebt und sich angepaßt haben, ist die Zeit für sie gekommen, wieder miteinander zu verschmelzen, um so zu einer gereifteren und auf das Universum orientierten Menschheit zu werden.“
Der Luftwagen setzte zum Landeanflug an. Wir näherten uns unserem Ziel.
„Was hat das mit mir zu tun?“ fragte ich schließlich.
„Wenn Sie eine der Splitterkulturen nachteilig beeinflussen, dann kann sie sich nicht neu anpassen, so wie ein Mensch, der alle Teilaspekte besitzt, dazu in der Lage wäre. Sie wird sterben. Und wenn die Rasse wieder zu einem Ganzen verschmilzt, dann wird dieser wertvolle Bestandteil für immer verloren sein.“
„Vielleicht ist es kein Verlust“, sagte ich, jetzt ebenfalls mit weicher Stimme.
„Ein bedeutender Verlust sogar“, sagte Padma. „Und ich kann es beweisen. Als ein Mensch, der das ganze Spektrum in sich vereint, besitzen Sie den Wesensaspekt jeder einzelnen Splitterkultur. Wenn Sie sich das eingestehen, dann können Sie sich sogar mit denen identifizieren, die Sie zerstören wollen. Ich habe Beweise, die ich Ihnen zeigen kann. Wollen Sie sie sehen?“
Das Fahrzeug landete. Die Tür neben mir öffnete sich. Zusammen mit Padma stieg ich aus und stellte fest, daß Kensie bereits auf uns wartete.
Ich sah erst Padma an, dann den bei uns stehenden Kensie, der einen Kopf größer als ich und zwei Köpfe größer als der Außenbürge war. Kensie erwiderte meinen Blick und sah ohne besonderen Gesichtsausdruck zu mir herab. Seine Augen waren nicht die seines Zwillingsbruders – doch aus irgendeinem Grund war ich in diesem Augenblick nicht in der Lage, seinem Blick standzuhalten.
„Ich bin Berichterstatter“, sagte ich. „Und daher bin ich natürlich allem gegenüber aufgeschlossen.“
Padma drehte sich um und setzte sich in Richtung auf das Hauptquartier in Bewegung. Kensie kam mit uns, und ich glaube, Janol und einige der anderen folgten uns ebenfalls, obwohl ich mich nicht umsah, um mich dessen zu vergewissern. Wir suchten das Innenbüro auf, wo ich mit Graeme zum erstenmal zusammengetroffen war – nur Kensie, Padma und ich. Auf Graemes Schreibtisch lag ein Aktendeckel. Er hob ihn auf, entnahm ihm eine Art Fotokopie und reichte sie mir als ich an ihn herantrat.
Ich nahm sie entgegen. An der Echtheit bestand kein Zweifel.
Es war eine Notiz vom Ältesten Strahlenden, dem ranghöchsten Ältesten der vereinten Regierung von Harmonie und Eintracht, gerichtet an den Kriegsherrn der Quäker im Haupt-Verteidigungszentrum auf Harmonie. Die Datierung lag zwei Monate zurück. Der Text stand auf einem Einzelmolekül-Blatt, und das bedeutete, daß kein Wort davon verändert oder verfälscht werden konnte, war es einmal niedergeschrieben.
Sie werden in Gottes Nahmen über folgendes in Kenntnis gesetzt:
Da es der Wille des Herrn zu sein scheint, daß unseren Brüdern auf Santa Maria kein Kriegsglück beschieden sei, wird hiermit angeordnet, daß ihnen hinfort kein Nachschub mehr entsandt wird, weder in Hinblick auf Personen noch auf Material. Denn wenn es der Wille unseres Herrn ist, daß wir siegen, so werden wir ganz gewiß ohne weiteren Aufwand gewinnen. Und wenn es Sein Wille ist, uns nicht siegen zu lassen, so käme es gewiß einer Gottlosigkeit gleich, die Substanz von Gottes Kirchen wegzuwerfen in einem Versuch, sich diesem Willen zu widersetzen.
Es sei weiter befohlen, man möge unseren Brüdern auf Santa Maria das Wissen ersparen, daß keine weitere Unterstützung eintrifft, auf daß sie auch im Kampfe wie immer ihrem Glauben und Gottes Kirchen treu und unverzagt bleiben. Beachten Sie diese Anweisung, im Namen des Herrn:
Auf Befehl dessen, der bekannt ist als der Strahlende
Ältester Unter Den Auserwählten
Ich sah von der Notiz auf. Graeme und Padma beobachteten mich beide.
„Wie haben Sie das in die Hand bekommen?“ fragte ich. „Nein, das werden Sie mir natürlich nicht sagen.“ Meine Handflächen schwitzten plötzlich, und dadurch wurde das glatte Material des Blattes schlüpfrig zwischen meinen Fingern. Ich hielt es ganz fest und sprach rasch weiter, damit ihre Blicke weiterhin auf mich gerichtet waren. „Aber was ist damit? Wir wissen doch bereits darüber Bescheid; jeder weiß, daß der Strahlende seine Truppen hier aufgegeben hat. Dies ist nur der Beweis dafür. Warum also zeigen Sie mir diese Notiz?“
„Ich dachte“, sagte Padma, „dieses Blatt könnte Ihnen einen kleinen Stoß geben. Einen, der vielleicht ausreicht, damit Sie die Sache aus einem anderen Blickwinkel sehen.“
„Ich habe nicht gesagt, das sei unmöglich“, gab ich zurück. „Wissen Sie, ein Berichterstatter legt sich nie auf irgend etwas fest. Selbstverständlich“, ich wog meine Worte sorgfältig ab, „wenn ich mich damit befassen könnte …“
„Ich hatte gehofft, daß Sie es mitnehmen“, sagte Padma.
„Gehofft?“
„Wenn Sie sich damit beschäftigen und wirklich begreifen, was der Strahlende hiermit meint, dann sehen Sie die Quäker vielleicht ganz anders. Dann ändern Sie vielleicht Ihre Meinung über sie.“
„Das glaube ich nicht“, antwortete ich. „Aber …“
„Ich bitte Sie um nichts weiter als das“, sagte Padma. „Nehmen Sie die Notiz mit.“
Einen Augenblick lang rührte ich mich nicht; Padma sah mich an, und hinter ihm ragte Kensie auf. Dann zuckte ich mit den Achseln und schob die Notiz in meine Tasche.
„Also gut“, sage ich. „Ich nehme sie mit in meine Unterkunft und denke darüber nach. Mein Bodenwagen muß hier irgendwo stehen, nicht wahr?“
Und ich sah Kensie an.
„Zehn Kilometer von hier“, sagte er. „Das ist weit, aber Sie kämen ohnehin nicht durch. Wir gehen für den Angriff in Stellung, und die Quäker bereiten sich darauf vor, uns abzufangen.“
„Nehmen Sie meinen Luftwagen“, bot Padma an. „Die Flagge der Botschaft wird Ihnen helfen.“
„In Ordnung“, sagte ich.
Wir verließen das Büro gemeinsam, um zum Luftwagen zu gehen. Im Außenbüro kam ich an Janol vorbei, und er gab meinen Blick ziemlich kühl zurück. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Wir schritten zum Fahrzeug, und ich stieg ein.
„Sie können den Luftwagen zurückschicken, wenn Sie damit durch sind, wann immer das sein wird“, sagte Padma, als ich durch die Einstiegsluke in die Kanzel kletterte. „Es ist eine Leihgabe der Botschaft an Sie, Tam. Ich möchte ihn nicht verlieren.“
„Nein“, sagte ich. „Das werden Sie auch nicht.“
Ich schloß die Luke und berührte die Kontrollen.
Es war ein Traum von einem Luftwagen. Ich stieg auf, so leicht und schwerelos wie ein Gedanke, und einen Augenblick später war ich zweitausend Meter hoch. Doch bevor ich in meine Tasche griff und die Notiz hervorholte, mußte ich mich zur Ruhe zwingen.
Ich betrachte sie. Meine Hand, die sie festhielt, zitterte noch immer leicht.
Hiermit besaß ich ihn endlich. Den Beweis für das, was Piers Leaf von der Erde aus in Erfahrung gebracht hatte und hinter dem ich von Anfang an hergewesen war. Und Padma selbst hatte darauf bestanden, daß ich ihn mitnahm.
Es war der Hebel – die archimedische Brechstange –, mit dem ich nicht nur eine, sondern zwei Welten aus den Angeln heben würde.
Und der die Quäker über den Rand des Abgrunds hinausschob, in dem der Untergang auf sie wartete.