28

 

Ich hät­te mich auf den Weg zum Raum­ha­fen ma­chen sol­len. Statt des­sen stieg ich in den Luft­wa­gen und flog über die in Stel­lung ge­gan­ge­nen Trup­pen zu­rück, auf der Su­che nach Grae­mes Be­fehls­stand.

Ich ging so sorg­los wie ein Quä­ker mit mei­nem ei­ge­nen Le­ben um. Ich glau­be, ein- oder zwei­mal wur­de trotz der Bot­schafts­flag­ge des Luft­wa­gens das Feu­er auf mich er­öff­net – aber ge­nau er­in­ne­re ich mich nicht. Schließ­lich fand ich den Be­fehls­stand und lan­de­te.

Sol­da­ten um­ga­ben mich, als ich aus dem Luft­wa­gen stieg. Ich zeig­te mei­ne Be­glau­bi­gun­gen und schritt zu der Ge­fechts­ta­fel, die im Frei­en auf­ge­stellt wor­den war, am Ran­de der Schat­ten, die ei­ni­ge große Va­ri­formei­chen war­fen. Grae­me, Pad­ma und der gan­ze Stab hat­ten sich da­vor ver­sam­melt und be­ob­ach­te­ten die dar­auf an­ge­zeig­ten Be­we­gun­gen der ei­ge­nen Trup­pen und die der Quä­ker-Streit­kräf­te. Ei­ne an­hal­ten­de und mit lei­sen Stim­men ge­führ­te Dis­kus­si­on über die ein­zel­nen Ma­nö­ver nahm ih­ren Lauf, und von der knapp zwan­zig Me­ter ent­fern­ten Nach­rich­ten­sam­mel­stel­le kam ein be­stän­di­ger Strom an In­for­ma­tio­nen.

Das Licht der Son­ne fiel bei­na­he senk­recht durch die Baum­wip­fel. Es war Mit­tag – ein war­mer Tag mit kla­rem Him­mel. Ei­ne gan­ze Wei­le be­ach­te­te mich nie­mand. Dann wand­te sich Ja­nol von der Ta­fel ab und sah mich ne­ben der fla­chen Kon­so­le ei­nes Tak­tik­com­pu­ters ste­hen. Sein Ge­sichts­aus­druck ver­här­te­te sich. Dann dreh­te er sich wie­der um und küm­mer­te sich um sei­ne Ar­beit. Doch ich muß ziem­lich elend aus­ge­se­hen ha­ben, dann nach ei­ner Wei­le brach­te er mir einen Feld­be­cher und setz­te ihn auf der Com­pu­ter­kon­so­le ab.

„Trin­ken Sie das“, sag­te er knapp und ging wie­der. Ich griff nach dem Be­cher, stell­te fest, daß es Dor­sai-Whis­ky war, und kipp­te ihn hin­un­ter. Er war fast ge­schmack­los für mich, aber of­fen­bar tat er mir gut, denn kurz dar­auf be­gan­nen sich die ein­zel­nen Mo­sa­ik­stei­ne der Welt um mich her­um wie­der zu­sam­men­zu­set­zen, und ich konn­te wie­der den­ken.

Ich ging zu Ja­nol. „Dan­ke.“

„Kei­ne Ur­sa­che.“ Er sah mich nicht an, son­dern stu­dier­te wei­ter­hin die Un­ter­la­gen auf dem Feld­tisch vor ihm.

„Ja­nol“, sag­te ich, „er­klä­ren Sie mir die Si­tua­ti­on.“

„Ana­ly­sie­ren Sie sie selbst“, ant­wor­te­te er, noch im­mer über sei­ne Pa­pie­re ge­beugt.

„Ich kann sie nicht selbst ana­ly­sie­ren, das wis­sen Sie. Se­hen Sie … ich be­dau­re, was ich ge­tan ha­be. Aber dies hier ist auch mein Job. Kön­nen Sie jetzt nicht sa­gen, was vor sich geht – und sich nach­her bei mir re­van­chie­ren?“

„Sie wis­sen, daß ich mich mit Zi­vi­lis­ten auf kei­nen Streit ein­las­sen darf.“ Dann ent­spann­te sich sein Ge­sicht. „Al­so gut“, sag­te er und rich­te­te sich auf. „Kom­men Sie.“

Er führ­te mich zur Ge­fechts­ta­fel, wo Pad­ma und Ken­sie stan­den, und deu­te­te auf ei­ne Art dunkles Drei­eck zwi­schen zwei ge­wun­de­nen und hel­len Li­ni­en. Um­ge­ben wa­ren sie von an­de­ren Punk­ten und hel­len Flä­chen.

„Dies hier“, Ja­nol deu­te­te auf die bei­den ge­wun­de­nen Li­ni­en, „zeigt das Mün­dungs­ge­biet der bei­den Flüs­se Ma­cin­tok und Sa­rah, et­wa fünf­zehn Ki­lo­me­ter vom dies­sei­ti­gen Stadt­rand Jo­sef­stadts ent­fernt. Es han­delt sich um ein recht hoch­ge­le­ge­nes Ter­rain, Hü­gel mit dich­tem Be­wuchs und ziem­lich of­fe­nen Flä­chen da­zwi­schen. Ein Ge­biet, das sich gut eig­net für ei­ne hart­nä­cki­ge Ver­tei­di­gung, das aber auch zu ei­ner bö­sen Fal­le wer­den kann.“

„Warum?“

Er deu­te­te auf die bei­den Li­ni­en, die die Fluß­läu­fe dar­stell­ten.

„Wird man hier zu­rück­ge­wor­fen, dann sitzt man bald auf ho­hen Klip­pen an den Fluß­ufern fest. Es gibt kei­nen ein­fa­chen Weg hin­über, kei­ne De­ckung für sich zu­rück­zie­hen­de Trup­pen. Von den ge­gen­über­lie­gen­den Fluß­ufern bis nach Jo­sef­stadt ha­ben wir es fast nur mit of­fe­nem Acker­land zu tun.“

Sein Fin­ger deu­te­te erst auf den Punkt, wo sich die bei­den Fluß­li­ni­en tra­fen, zeig­te dann an dem klei­nen dunklen Drei­eck vor­bei und auf die um­ge­be­nen hel­len Flä­chen, Punk­te und Krei­se.

„Auf der an­de­ren Sei­te muß ein Vor­stoß in die­ses Ge­biet von un­se­rer Po­si­ti­on aus eben­falls durch of­fe­nes Ter­rain er­fol­gen – schma­le Strei­fen von Acker­land, die sich mit ei­ner Rei­he von Sümp­fen und Moo­ren ab­wech­seln. Die Si­tua­ti­on wä­re so­wohl für un­se­re als auch die geg­ne­ri­sche Trup­pe recht schwie­rig, wenn wir es hier zum Kampf kom­men lie­ßen. Der­je­ni­ge, der sich als ers­ter zu­rück­zie­hen muß, wird ziem­lich schnell in Schwie­rig­kei­ten kom­men.“

„Wol­len Sie den Geg­ner dort stel­len?“

„Das kommt dar­auf an. Black hat sei­ne leich­te Ar­til­le­rie vor­sto­ßen las­sen. Jetzt zieht er sich in das hö­her ge­le­ge­ne Ter­rain zwi­schen den Flüs­sen zu­rück. Was Mann­schafts- und Ma­te­ri­al­stär­ke an­geht, sind wir weit über­le­gen. Es gibt kei­nen Grund, warum wir ihm nicht nach­set­zen soll­ten, so­lan­ge er in der Fal­le sitzt …“ Ja­nol brach ab.

„Kei­nen Grund?“ frag­te ich.

„Nicht vom tak­ti­schen Stand­punkt aus ge­se­hen.“ Ja­nol run­zel­te die Stirn, wäh­rend er auf die Ta­fel blick­te. „So­lan­ge wir uns nicht zu­rück­zie­hen müs­sen, hät­ten wir kei­ne Schwie­rig­kei­ten. Und da­zu wä­ren wir nur dann ge­zwun­gen, wenn er plötz­lich einen großen tak­ti­schen Vor­teil er­lang­te, der es uns un­mög­lich mach­te, die Stel­lung zu hal­ten.“

Ich blick­te auf sein Pro­fil.

„Wie et­wa der Ver­lust Grae­mes?“ frag­te ich.

Er wand­te sich mir zu; sei­ne Stirn war noch im­mer ge­run­zelt. „In die­ser Rich­tung be­steht kei­ne Ge­fahr.“

Die Stim­men der in der Nä­he ste­hen­den Sol­da­ten ver­än­der­ten sich plötz­lich; ei­ne ge­wis­se Un­ru­he mach­te sich breit. Wir dreh­ten uns bei­de um und sa­hen in die Run­de.

Al­le schar­ten sich um einen Bild­schirm. Wir dräng­ten uns eben­falls in die Men­ge, und als ich zwi­schen den Schul­tern zwei­er Of­fi­zie­re aus Grae­mes Stab hin­durch­sah, ent­deck­te ich auf dem Schirm das Bild ei­ner klei­nen, gras­be­wach­se­nen Wie­se, die von be­wal­de­ten Hü­geln um­ge­ben war. In der Mit­te der Wie­se stand ein lan­ger Tisch im Gras, und da­ne­ben weh­te die Flag­ge der Quä­ker: ein dün­nes, schwar­zes Kreuz auf weißem Grund. An je­der Sei­te des Ti­sches stan­den Klapp­stüh­le, aber es war nur ei­ne Per­son zu se­hen – ein Of­fi­zier der Quä­ker, der vor dem hin­te­ren Ti­schen­de stand, als war­te­te er auf et­was. An den Gren­zen zu den be­wal­de­ten Hü­geln – dort, wo Va­ri­formei­chen und -eschen die Wie­se um­säum­ten – wuch­sen Flie­der­bü­sche. Und die Far­ben­pracht der La­ven­del be­gann nun nach­zu­las­sen und zu ver­blas­sen, denn ih­re Blü­te­zeit war bei­na­he vor­über. So viel hat­te sich in nur vier­und­zwan­zig Stun­den ver­än­dert. Am lin­ken Rand des Schirms konn­te ich den grau­en As­phalt ei­ner Stra­ße er­ken­nen.

„Ich ken­ne die­sen Ort …“ setz­te ich an und wand­te mich zu Ja­nol um.

„Still!“ sag­te er und hob die Hand. Um uns her­um schwie­gen nun al­le. Wei­ter vorn in un­se­rer Grup­pe sprach ei­ne ein­zel­ne Stim­me.

„… es ist ein Ver­hand­lungs­tisch.“

„Ha­ben sie uns einen Par­la­men­tär ge­schickt?“ frag­te die Stim­me von Ken­sie.

„Nein, Sir.“

„Nun, se­hen wir uns die Sa­che mal an.“ Vor­ne kam es zu ei­ner Be­we­gung. Die Grup­pe be­gann sich auf­zu­lö­sen, und ich sah Ken­sie und Pad­ma, die in Rich­tung der ge­park­ten Luft­wa­gen gin­gen. Wie ein Ge­richts­die­ner durch die dicht­ge­drängt ste­hen­den Zu­schau­er ei­nes Pro­zes­ses schob ich mich durch die nun aus­ein­an­der­stre­ben­de Men­ge und lief ih­nen nach.

Ich hör­te, wie Ja­nol mir et­was nachrief, aber ich ach­te­te nicht dar­auf. Dann hat­te ich zu Ken­sie und Pad­ma auf­ge­schlos­sen, die sich dar­auf­hin zu mir um­dreh­ten.

„Ich möch­te Sie be­glei­ten“, sag­te ich.

„Es ist in Ord­nung, Ja­nol“, sag­te Ken­sie und sah an mir vor­bei. „Er kann bei mir blei­ben.“

„Ja, Sir.“ Ich hör­te, wie sich Ja­nol ab­wand­te und wie­der ging.

„Sie wol­len al­so mit mir kom­men, Mr. Olyn?“ frag­te Ken­sie.

„Ich ken­ne die Ge­gend“, er­klär­te ich ihm. „Ich kam ges­tern mor­gen dort vor­bei. Die Quä­ker ha­ben über­all auf der Wie­se und in den Hü­geln zu bei­den Sei­ten tak­ti­sche Ver­mes­sun­gen vor­ge­nom­men. Sie ha­ben kei­ne Vor­be­rei­tun­gen für Ver­hand­lun­gen ir­gend­wel­cher Art ge­trof­fen.“

Schwei­gend mus­ter­te mich Ken­sie ei­ne gan­ze Wei­le, so als näh­me er selbst ei­ni­ge tak­ti­sche Ver­mes­sun­gen vor.

„Dann kom­men Sie“, sag­te er. Er wand­te sich an Pad­ma. „Sie blei­ben hier?“

„Die­ser Be­reich ge­hört zum Kampf­ge­biet. Bes­ser, ich flie­ge ab.“ Pad­mas glat­tes und wei­ches Ge­sicht wand­te sich mir zu. „Viel Glück, Mr. Olyn“, sag­te er, dann ging er. Einen Au­gen­blick lang sah ich ihm nach und be­ob­ach­te­te, wie die in ei­ne blaue Ro­be gehüll­te Ge­stalt über das Gras glitt, dann dreh­te ich mich wie­der um. Grae­me war be­reits auf hal­b­em We­ge zum nächs­ten Mi­li­tär-Luft­wa­gen. Ich eil­te ihm nach.

Es han­del­te sich um einen Kampf­wa­gen, und die Aus­stat­tung war da­her nicht so lu­xu­ri­ös wie beim Fahr­zeug des Au­ßen­bür­gen. Ken­sie flog auch nicht in ei­ner Hö­he von zwei­tau­send Me­tern, son­dern nur we­ni­ge Me­ter über dem Bo­den, zwi­schen den auf­ra­gen­den Baum­stäm­men hin­durch. Die Sit­ze wa­ren schmal und eng. Ken­sies brei­te Sta­tur rag­te über sei­nen Sitz hin­aus und dräng­te mich in mei­nem Sitz zur Sei­te. Ich spür­te den Kol­ben sei­nes Such­ge­schoß-Re­vol­vers; mit je­der Lenk­be­we­gung, die er durch­führ­te, bohr­te er sich in mei­ne Sei­te.

Schließ­lich ge­lang­ten wir an die Gren­ze des be­wal­de­ten und hü­ge­li­gen Drei­ecks, das von den Quä­kern be­setzt war. Im Schutz der Va­ri­formei­chen, die jetzt wie­der neue Blät­ter tru­gen, flo­gen wir einen Hang hin­auf.

Die Bäu­me wa­ren so groß, daß sie den über­wie­gen­den Teil des Bo­den­be­wuch­ses ver­drängt hat­ten. Zwi­schen ih­ren säu­len­ar­ti­gen Stäm­men war es dun­kel, und der Bo­den war mit den brau­nen Mus­tern ab­ge­fal­le­ner Blät­ter ge­pols­tert. In der Nä­he des Hü­gel­kamms stie­ßen wir auf ei­ne Ein­heit der Exo­ten, die hier ras­te­te und auf den Be­fehl zum Vor­marsch war­te­te. Ken­sie stieg aus dem Wa­gen und gab den Gruß des Trup­pen­füh­rers zu­rück.

„Ha­ben Sie die Ti­sche ge­se­hen, die die Quä­ker auf­ge­stellt ha­ben?“ frag­te er.

„Ja, Kom­man­deur. Der Of­fi­zier, den sie zu­rück­ge­las­sen ha­ben, hält sich noch im­mer dort auf. Wenn Sie bis zum Hü­gel­kamm hier ge­hen, kön­nen Sie ihn se­hen – und das Mo­bi­li­ar.“

„Gut“, sag­te Ken­sie. „Sie blei­ben mit Ih­ren Män­nern hier, Trup­pen­füh­rer. Der Be­richt­er­stat­ter und ich wer­den uns die Sa­che ein­mal an­se­hen.“

Er ging vor­aus, zwi­schen den Stäm­men der Ei­chen hin­durch. Als wir den Kamm des Hü­gels er­reich­ten, la­gen noch wei­te­re fünf­zig Me­ter Wald vor uns, der dann schließ­lich an die Wie­se grenz­te. Sie war rund zwei­hun­dert Me­ter breit; der Tisch be­fand sich ge­nau in der Mit­te, und die reg­lo­se, schwar­ze Ge­stalt des Quä­ker­of­fi­ziers stand am hin­te­ren En­de.

„Was hal­ten Sie da­von, Mr. Olyn?“ frag­te Ken­sie und blick­te durch die Bäu­me hin­un­ter.

„Warum hat ihn nicht je­mand er­schos­sen?“ er­kun­dig­te ich mich.

Er warf mir einen kur­z­en Sei­ten­blick zu.

„Wir ha­ben noch reich­lich Zeit, ihn zu er­schie­ßen“, sag­te er, „be­vor er auf der an­de­ren Sei­te in De­ckung ge­hen kann. Wenn wir ihn über­haupt er­schie­ßen müs­sen. Das woll­te ich von Ih­nen auch gar nicht hö­ren. Sie ha­ben den Kom­man­deur der Quä­ker erst kürz­lich ge­se­hen. Wel­chen Ein­druck hat er auf Sie ge­macht? Ist er zur Ka­pi­tu­la­ti­on be­reit?“

„Nein!“ sag­te ich.

„Ich ver­ste­he“, gab Ken­sie zu­rück.

„Sie glau­ben doch nicht wirk­lich, er wol­le sich er­ge­ben? Wie kom­men Sie auf einen sol­chen Ge­dan­ken?“

„Für ge­wöhn­lich wer­den Ver­hand­lungs­ti­sche auf­ge­baut, um über die Ka­pi­tu­la­ti­ons­be­din­gun­gen zwi­schen ge­gen­ein­an­der kämp­fen­den Streit­kräf­ten zu be­ra­ten.“

„Aber er hat Ih­nen kei­ne Ver­hand­lun­gen an­ge­bo­ten.“

„Nein.“ Ken­sie be­ob­ach­te­te die Ge­stalt des Quä­ker­of­fi­ziers. Er war wie ei­ne reg­lo­se Sta­tue im Son­nen­licht. „Viel­leicht wi­der­spricht es sei­nen Prin­zi­pi­en, ei­ne Ver­hand­lung an­zu­bie­ten, aber nicht das Ver­han­deln selbst – wenn es der Zu­fall will, daß wir uns plötz­lich am glei­chen Tisch ge­gen­über­sit­zen.“

Er dreh­te sich um und wink­te mit der einen Hand. Der Trup­pen­füh­rer, der hin­ter uns tiefer am Hang ge­war­tet hat­te, kam her­auf.

„Sir?“ frag­te er Ken­sie.

„Ir­gend­wel­che Quä­ker­trup­pen im ge­gen­über­lie­gen­den Wald?“

„Nur vier Mann, Sir, mehr nicht. Un­se­re In­fra­rotau­gen ma­chen ih­re Kör­per­wär­me klar und deut­lich aus. Sie ver­su­chen nicht, sich vor uns zu ver­ber­gen.“

„Ich ver­ste­he.“ Er zö­ger­te. „Trup­pen­füh­rer?“

„Sir?“

„Ge­hen Sie bit­te hin­un­ter zu der Wie­se und fra­gen Sie den Quä­ker­of­fi­zier, was dies hier zu be­deu­ten hat.“

„Ja­wohl, Sir.“

Wir blie­ben oben und be­ob­ach­te­ten, wie der Trup­pen­füh­rer un­ge­lenk den stei­len Hang zwi­schen den Bäu­men hin­ab­klet­ter­te. Er über­quer­te die Wie­se – wie in Zeit­lu­pe, dach­te ich – und nä­her­te sich dem Of­fi­zier der Quä­ker.

Sie stan­den sich ge­gen­über und blick­ten sich an. Sie spra­chen mit­ein­an­der, aber es war uns un­mög­lich, ih­re Stim­men zu hö­ren. Die Fah­ne mit dem dün­nen, schwar­zen Kreuz flat­ter­te in der leich­ten Bri­se, die dort un­ten weh­te. Dann dreh­te sich der Trup­pen­füh­rer um und klet­ter­te zu uns zu­rück.

Er blieb vor Ken­sie ste­hen und sa­lu­tier­te. „Kom­man­deur“, sag­te er, „der Kom­man­deur der Aus­er­wähl­ten Trup­pen Got­tes möch­te Sie im Fel­de tref­fen und über ei­ne Ka­pi­tu­la­ti­on ver­han­deln.“ Er hielt kurz in­ne, um wie­der Atem zu schöp­fen. „Er schlägt vor, Sie soll­ten gleich­zei­tig die sich ge­gen­über­lie­gen­den Wal­dun­gen ver­las­sen und dann ge­mein­sam an den Tisch her­an­tre­ten.“

„Ich dan­ke Ih­nen, Trup­pen­füh­rer“, sag­te Ken­sie. Er sah an sei­nem Of­fi­zier vor­bei und be­ob­ach­te­te die Wie­se und den Tisch. „Ich den­ke, ich wer­de run­ter­ge­hen.“

„Black meint es nicht ehr­lich“, wand­te ich ein.

„Trup­pen­füh­rer“, sag­te Ken­sie. „Hal­ten Sie Ih­re Män­ner ein­satz­be­reit, un­mit­tel­bar drü­ben hin­ter dem Hü­gel­kamm. Wenn er ka­pi­tu­liert, dann wer­de ich dar­auf be­ste­hen, daß er so­fort mit mir kommt, hier­her.“

„Ja, Sir.“

„Viel­leicht hat er uns in die­ser Sa­che des­halb kein re­gu­lä­res Ver­hand­lungs­an­ge­bot un­ter­brei­tet, weil er zu­nächst ka­pi­tu­lie­ren und sei­ne Trup­pen erst nach­her da­von un­ter­rich­ten will. Al­so hal­ten Sie Ih­re Män­ner be­reit. Wenn Black be­ab­sich­tigt, sei­ne Of­fi­zie­re vor vollen­de­te Tat­sa­chen zu stel­len, dann wol­len wir ihm kei­nen Strich durch die Rech­nung ma­chen.“

„Er wird sich nicht er­ge­ben“, sag­te ich.

„Mr. Olyn“, sag­te Ken­sie und dreh­te sich zu mir um. „Ich schla­ge vor, Sie zie­hen sich hin­ter den Hü­gel­kamm zu­rück. Der Trup­pen­füh­rer wird sich um Ih­re Si­cher­heit küm­mern.“

„Nein“, wi­der­sprach ich. „Ich ge­he mit hin­un­ter. Wenn es sich wirk­lich um ei­ne Ver­hand­lung über Ka­pi­tu­la­ti­ons­be­din­gun­gen han­delt, dann ist mit kei­nem Kampf­ge­sche­hen zu rech­nen, und ich wä­re so­mit völ­lig be­rech­tigt, zu­ge­gen zu sein. Und wenn das nicht der Fall ist … warum ge­hen Sie dann über­haupt hin?“

Einen Au­gen­blick lang sah mich Ken­sie son­der­bar an.

„Al­so gut“, sag­te er. „Dann kom­men Sie mit.“

Ken­sie und ich dreh­ten uns um und klet­ter­ten den ziem­lich stei­len Hang zwi­schen den Bäu­men hin­ab. Un­se­re Stie­felsoh­len fan­den kei­nen Halt, und nur die Ab­sät­ze, die sich bei je­dem Schritt in den Bo­den bohr­ten, be­wahr­ten uns vor dem Ab­rut­schen. Als wir durch die Flie­der­bü­sche ka­men, roch ich den schwa­chen und sü­ßen – in­zwi­schen fast ganz ver­weh­ten – Duft der ver­wel­ken­den Blü­ten.

Auf der an­de­ren Sei­te der Wie­se – dem Tisch di­rekt ge­gen­über – tra­ten vier schwarz­ge­klei­de­te Män­ner aus der Wal­dung, als auch wir die Bäu­me hin­ter uns lie­ßen. Ei­ner von ih­nen war Ja­me­thon Black.

Ken­sie und Ja­me­thon sa­lu­tier­ten vor­ein­an­der.

„Kom­man­deur Black“, sag­te Ken­sie.

„Ja, Kom­man­deur Grae­me“, ant­wor­te­te Ja­me­thon. „Ich bin Ih­nen zu Dank ver­pflich­tet, daß Sie hier­her­ge­kom­men sind, um sich mit mir zu tref­fen.“

„Es ist mei­ne Pflicht und mir ein Ver­gnü­gen, Kom­man­deur.“

„Ich möch­te mit Ih­nen die Ka­pi­tu­la­ti­ons­be­din­gun­gen be­ra­ten.“

„Ich kann Ih­nen die üb­li­chen Be­din­gun­gen an­bie­ten“, sag­te Ken­sie. „Die ent­spre­chend dem Söld­ner­ko­dex auf Trup­pen in Ih­rer La­ge An­wen­dung fin­den.“

„Sie miß­ver­ste­hen mich, Sir“, sag­te Ja­me­thon. „Ich bin hier­her­ge­kom­men, um über Ih­re Ka­pi­tu­la­ti­on zu ver­han­deln.“

Die Fah­ne flat­ter­te.

Plötz­lich sah ich hier wie­der die schwarz­ge­klei­de­ten Män­ner bei der Feld­ver­mes­sung – wie ich sie einen Tag zu­vor ge­se­hen hat­te. Sie hat­ten sich ge­nau dort be­fun­den, wo wir jetzt stan­den.

„Ich fürch­te, das Miß­ver­ständ­nis be­ruht auf Ge­gen­sei­tig­keit, Kom­man­deur“, sag­te Ken­sie. „Mei­ne tak­ti­sche Po­si­ti­on ist der Ih­ren über­le­gen, und Ih­re Nie­der­la­ge ist so gut wie si­cher. Ich ha­be kei­nen Grund zu ka­pi­tu­lie­ren.“

„Sie wol­len sich nicht er­ge­ben?“

„Nein“, sag­te Ken­sie mit Nach­druck.

Plötz­lich sah ich wie­der die fünf Pos­ten, dort, wo nun die Of­fi­zie­re, Un­ter­of­fi­zie­re und Ja­me­thon selbst stan­den. Und vor ih­nen sah ich den um­ge­stürz­ten Mar­kie­rungs­pfahl.

„Ach­tung!“ rief ich Ken­sie zu – doch es war längst zu spät.

Die Er­eig­nis­se wa­ren be­reits ins Rol­len ge­kom­men. Der Trup­pen­füh­rer an der Sei­te Ja­me­thons sprang vor ihn, und al­le fünf zo­gen ih­re Sei­ten­waf­fen. Ich hör­te er­neut das Flat­tern der Fah­ne, und das knal­len­de Ge­räusch schi­en ei­ne gan­ze Wei­le an­zu­dau­ern.

Zum ers­ten­mal sah ich nun einen der le­gen­dären Dor­sai in Ak­ti­on. Ken­sies Re­ak­ti­on kam so ge­spens­tisch schnell, als hät­te er Ja­me­thons Ge­dan­ken ge­nau in dem Au­gen­blick ge­le­sen, be­vor die Quä­ker nach ih­ren Waf­fen grif­fen. Als ih­re Hän­de die Sei­ten­waf­fen be­rühr­ten, sprang er be­reits auf den Tisch zu, mit feu­er­be­rei­tem Such­ge­schoß-Re­vol­ver in der Faust. Er schi­en di­rekt auf den Trup­pen­füh­rer zu­zu­flie­gen. Sie gin­gen bei­de zu Bo­den, doch Ken­sie blieb in Be­we­gung. Er roll­te sich von dem Trup­pen­füh­rer ab, der nun reg­los im Gras lag. Er kam auf die Knie, feu­er­te, warf sich nach vorn, roll­te wei­ter.

Der Grup­pen­füh­rer rechts von Ja­me­thon stürz­te zu Bo­den. Ja­me­thon und die rest­li­chen zwei Sol­da­ten hat­ten nun ei­ne bei­na­he voll­stän­di­ge Kehrt­wen­dung voll­führt und ver­such­ten, Ken­sie nicht in ih­ren Rücken ge­lan­gen zu las­sen. Die bei­den üb­rig­ge­blie­be­nen Sol­da­ten scho­ben sich vor Ja­me­thon; sie hat­ten ih­re Waf­fen noch nicht an­ge­legt. Ken­sie ver­harr­te re­gungs­los, als sei er ge­gen ei­ne stei­ner­ne Wand ge­prallt, kam mit ei­nem Satz auf die Bei­ne und schoß zwei­mal. Die bei­den Quä­ker san­ken zu Bo­den, der ei­ne links, der an­de­re rechts.

Jetzt stand Ja­me­thon Ken­sie di­rekt ge­gen­über, und die Waf­fe in sei­ner Hand war feu­er­be­reit und an­ge­legt. Ja­me­thon schoß. Ein hel­ler, blau­er Blitz fauch­te durch die Luft, doch Ken­sie hat­te sich schon wie­der fal­len las­sen. Er lag auf der einen Sei­te im Gras, stütz­te sich mit ei­nem Ell­bo­gen ab und be­tä­tig­te zwei­mal den Feu­er­knopf sei­nes Such­ge­schoß-Re­vol­vers.

Die Waf­fe in Ja­me­thons Hand senk­te sich. Er stand jetzt mit dem Rücken ge­gen den Tisch, und er streck­te sei­nen an­de­ren Arm aus, um sich auf der Tisch­flä­che ab­zu­stüt­zen. Er ver­such­te er­neut, die Waf­fe zu he­ben, doch er hat­te nicht mehr die Kraft da­zu. Sie ent­glitt sei­ner Hand. Er lehn­te sich noch stär­ker ge­gen den Tisch und dreh­te sich da­bei halb her­um, wo­durch sein Ge­sicht in mei­ne Rich­tung blick­te. Sein Aus­druck war so be­herrscht wie im­mer, aber der Glanz in sei­nen Au­gen war ir­gend­wie an­ders, als er mich an­sah und er­kann­te – so ei­gen­ar­tig wie der Blick, mit dem ein Mann sei­nen Ri­va­len an­sieht, den er ge­ra­de be­siegt und der von vorn­her­ein kei­ne wirk­li­che Ge­fahr für ihn dar­ge­stellt hat­te. Ein schwa­ches Lä­cheln um­spiel­te die Win­kel sei­ner dün­nen Lip­pen. Wie das Lä­cheln in­ne­ren Tri­um­phes.

„Mr. Olyn“, flüs­ter­te er. Und dann trüb­te sich der Glanz sei­ner Au­gen, als ihn das Le­ben ver­ließ, und er stürz­te ne­ben den Tisch.

Na­he Ex­plo­sio­nen er­schüt­ter­ten den Bo­den zu mei­nen Fü­ßen. Vom Kamm des Hü­gels hin­ter uns feu­er­te der Trup­pen­füh­rer, den Ken­sie dort zu­rück­ge­las­sen hat­te, Rauch­bom­ben ab, die zwi­schen uns und der von den Quä­kern be­setz­ten Sei­te der Wie­se de­to­nier­ten. Ei­ne graue Wand aus Rauch wuchs zwi­schen uns und dem ge­gen­über­lie­gen­den Hü­gel in die Hö­he, um uns Sichtschutz vor dem Feind zu ge­wäh­ren. Wie ei­ne un­durch­dring­li­che Bar­rie­re reck­te sie sich dem blau­en Him­mel ent­ge­gen, und in ih­rem auf­ra­gen­den Schat­ten stan­den nur Ken­sie und ich.

Auf Ja­me­thons Ge­sicht lag noch im­mer die­ses schwa­che Lä­cheln.