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Na­tür­lich hat­te mich Da­ve noch nie zu Ge­sicht be­kom­men. Aber Ei­leen dürf­te mich be­schrie­ben ha­ben, und es war zu er­war­ten, daß er mei­nen Na­men im glei­chen Au­gen­blick er­kann­te, als ihn mir der Kom­man­dant über­ant­wor­te­te. Trotz­dem hat­te er Grips ge­nug, kei­ne dum­men Fra­gen zu stel­len, bis wir im Haupt­quar­tier an­ge­langt und un­se­ren Füh­rer end­lich los­ge­wor­den wa­ren.

In­fol­ge­des­sen hat­te ich die Ge­le­gen­heit, ihn mei­ner­seits un­ter­wegs zu be­ob­ach­ten. Zu­nächst mach­te er kei­nen be­son­de­ren Ein­druck auf mich. Er war et­was klei­ner als ich und sah be­deu­tend jün­ger aus, als er nach dem Al­ters­un­ter­schied zwi­schen uns bei­den hät­te aus­se­hen sol­len. Un­ter sei­nem milch­wei­ßen Haar hat­te er ein Ba­by­ge­sicht, das sich wahr­schein­lich auch mit dem Al­ter nicht we­sent­lich ver­än­dern wür­de. Das ein­zi­ge, was er mit mei­ner Schwes­ter ge­mein hat­te, war ei­ne Art an­ge­bo­re­ner Un­schuld und Sanft­heit – je­ne Un­schuld und Sanft­heit schwa­cher Cha­rak­ter, die wis­sen, daß sie viel zu zart sind, um für ih­re Rech­te zu kämp­fen und zu ge­win­nen, und die ver­su­chen, durch Un­ter­wür­fig­keit und in Hoff­nung auf die gu­ten Ab­sich­ten an­de­rer das Bes­te dar­aus zu ma­chen.

Viel­leicht war aber auch mein Ur­teil et­was zu hart aus­ge­fal­len. Denn ich selbst war auch nicht un­be­dingt ei­ne Kämp­fer­na­tur. Ich hielt mich auch ab­seits und be­ob­ach­te­te mei­ne Mit­menschen.

Den­noch konn­te mir Da­ve mit sei­ner Er­schei­nung und sei­nem Cha­rak­ter kaum im­po­nie­ren. Ich neh­me auch nicht an, daß er ei­ne Leuch­te war. Sei­ner­zeit, als Ei­leen ihn hei­ra­te­te, war er nichts wei­ter als ein klei­ner Pro­gram­mie­rer. Er hat­te nur ei­ne Teil­zeit­ar­beit, wäh­rend Ei­leen voll ar­bei­te­te und im Ver­lauf die­ser fünf Jah­re ver­sucht hat­te, ihn durch den Lehr­plan ei­ner cas­si­da­ni­schen Uni­ver­si­tät für Schalt­me­cha­ni­ker zu schleu­sen. Nach et­wa drei Jah­ren war er ge­ra­de durch ei­ne Prü­fung ge­fal­len, und zu sei­nem Pech pas­sier­te das ge­ra­de zu ei­nem Zeit­punkt, wo Cas­si­da sei­ne Re­kru­ten ein­be­rief, um sie auf Neu­er­de bei der Kam­pa­gne ge­gen die Re­bel­len des Nor­dens ein­zu­set­zen. Al­so blieb ihm nichts an­de­res üb­rig, als die Uni­form an­zu­zie­hen.

Jetzt wür­de man glau­ben, daß mich Ei­leen so­fort um Hil­fe ge­be­ten hät­te. Das war nicht der Fall – und daß sie sich nicht an mich ge­wandt hat­te, ver­wun­der­te mich ei­ni­ger­ma­ßen, nach­dem ich da­von er­fuhr. Spä­ter hat sie mir er­zählt, wie es da­zu ge­kom­men war, und das ging mir an die Nie­ren und ließ mein Herz und mei­ne See­le er­be­ben und gab sie all den Stür­men von Wut und Ver­zweif­lung preis. Doch das kam erst viel spä­ter. Der Um­stand, durch den ich auf Da­ve ge­sto­ßen war und durch den ich er­fah­ren hat­te, wo er sich auf­hielt, war der plötz­li­che und un­er­war­te­te Tod mei­nes On­kels Ma­thi­as. Ich muß­te al­so we­gen der Erb­schaft mit Ei­leen auf Cas­si­da in Ver­bin­dung tre­ten.

Ihr be­schei­de­nes Erb­teil – Ma­thi­as hat­te näm­lich den Groß­teil sei­nes Ver­mö­gens dem En­zy­klo­pä­die­pro­jekt ver­macht – war für sie nicht von Be­deu­tung, wenn es mir nicht ge­lin­gen soll­te, für sie einen Pri­vat­ver­trag mit ei­nem auf der Er­de be­schäf­tig­ten Cas­si­da­ner zu schlie­ßen, des­sen Fa­mi­lie auf Cas­si­da leb­te. Nur Re­gie­run­gen oder große Or­ga­ni­sa­tio­nen wa­ren in der La­ge, pla­ne­ta­re Gut­ha­ben in Werks­ver­trä­ge um­zu­mün­zen, die sich aus der einen in die an­de­re Welt trans­fe­rie­ren lie­ßen. Auf die­sem Weg er­fuhr ich dann, daß Da­ve mei­ne Schwes­ter und sei­ne Hei­mat­welt ver­las­sen hat­te, um sich den Trup­pen auf Neu­er­de an­zu­schlie­ßen.

Aber selbst bei die­ser Ge­le­gen­heit bat mich Ei­leen nicht um Hil­fe. Ich war es, der dar­an dach­te, Da­ve wäh­rend der Kam­pa­gne als mei­nen As­sis­ten­ten an­zu­for­dern, und ich schrieb ihr nur, um sie über den Gang der Din­ge zu un­ter­rich­ten. Nun aber war ich mir selbst nicht dar­über im kla­ren, warum ich dies al­les ge­tan hat­te, und es war mir fast pein­lich, als Da­ve ver­such­te, mir zu dan­ken, nach­dem wir end­lich un­se­ren Be­treu­er los­ge­wor­den und nach Haupt­burg, der nächs­ten grö­ße­ren Stadt hin­ter der Front un­ter­wegs wa­ren.

„Laß das!“ fuhr ich ihn an. „Was ich bis jetzt für dich ge­tan ha­be, war der leich­te­re Teil der Ge­schich­te. Du mußt mich als Zi­vi­list be­glei­ten, oh­ne Waf­fen. Da­für brau­chen wir einen Paß, der von bei­den Sei­ten un­ter­zeich­net ist. Das wird aber kein Kin­der­spiel sein, weil ir­gend­ein Idi­ot vor we­ni­ger als acht Stun­den auf Quä­ker-Sol­da­ten an­ge­legt hat!“

Nun hielt er den Mund, fas­sungs­los und be­schämt. Au­ßer­dem war er schwer be­lei­digt, weil ich nicht zu­ge­las­sen hat­te, sich bei mir zu be­dan­ken. Im­mer­hin war ihm da­durch der Mund ge­stopft, und das war al­les, was ich im Au­gen­blick woll­te.

Wir nah­men die Be­feh­le des Haupt­quar­tiers in Emp­fang, die ihn mir auf Zeit als As­sis­ten­ten zu­wie­sen. Dann be­en­de­ten wir un­se­re Rei­se auf ei­nem Bahn­steig in Haupt­burg. Ich setz­te ihn und mein Ge­päck in ei­nem Ho­tel­zim­mer ab und sag­te, daß ich nächs­ten Mor­gen zu­rück­kom­men wür­de.

„Soll ich al­so auf mei­nem Zim­mer blei­ben?“ frag­te er, als ich be­reits die Tür­klin­ke in der Hand hat­te.

„Tu, was du willst, ver­dammt noch mal!“ gab ich zu­rück. „Ich bin nicht dein An­füh­rer. Nur sei mor­gen früh um neun Uhr da, wenn ich zu­rück­kom­me.“

Da­mit ver­ließ ich ihn. Aber kaum hat­te ich die Tür hin­ter mir ge­schlos­sen, wur­de mir auch klar, was er sich vor­ge­stellt hat­te und was mir Kum­mer be­rei­te­te. Wahr­schein­lich dach­te er, wir könn­ten ein paar Stun­den da­mit ver­brin­gen, uns als Schwa­ger nä­her­zu­kom­men, und ge­nau das war es, was ich we­der woll­te noch be­ab­sich­tig­te. Ich hat­te ihm mei­ner Schwes­ter zu­lie­be das Le­ben ge­ret­tet, aber dies war noch lan­ge kein Grund da­für, mich mit ihm zu ver­brü­dern.

Wie je­der weiß, han­delt es sich bei Neu­er­de und Frei­land um Schwes­ter­pla­ne­ten des Si­ri­us. Dem­nach lie­gen sie dicht bei­ein­an­der – nicht so dicht zwar wie Ve­nus, Er­de und Mars, aber im­mer­hin dicht ge­nug, daß man von ei­ner Um­lauf­bahn über Neu­er­de auch kurz auf die Um­lauf­bahn um Frei­land über­wech­seln kann, wo­bei man sein Ziel nur um we­ni­ge Gra­de, wenn über­haupt, ver­fehlt. Wenn man sich al­so vor dem ge­rin­gen Ri­si­ko nicht scheut, zwi­schen den Wel­ten zu rei­sen, kann man in et­wa ei­ner Stun­de von ei­nem zum an­de­ren Pla­ne­ten wech­seln – ei­ne hal­be Stun­de bis zur Sta­ti­on auf der Um­lauf­bahn, kein Zeit­auf­wand für den Sprung, und ei­ne hal­be Stun­de bis zur Ober­flä­che am En­de der Rei­se.

Das war der Weg, den ich eben­falls ein­schlug, und zwei Stun­den nach­dem ich mei­nen Schwa­ger ver­las­sen hat­te, zeig­te ich dem Pfört­ner am Ein­gang zum Hau­se von Hen­drik Galt, Mar­schall der Streit­kräf­te auf Frei­land, mei­ne Ein­la­dung.

Die Ein­la­dung galt für einen Emp­fang zu Eh­ren ei­nes Man­nes, der bis­her we­nig Staub auf­ge­wir­belt hat­te, ei­nes Dor­sai (denn auch Galt war na­tür­lich ein Dor­sai), Raum­pa­trouil­len­füh­rer Do­nal Grae­me. Dies war Grae­mes ers­ter Auf­tritt in der Öf­fent­lich­keit. Er hat­te so­eben einen An­griff von vier oder fünf Raum­schif­fen auf die pla­ne­ta­re Ab­wehr von New­ton hin­ter sich – einen An­griff, der glück­lich ge­nug ver­lau­fen war, um den Druck zu lo­ckern, den die New­to­ni­er auf Ori­en­te aus­üb­ten, ei­ne un­be­wohn­te Schwes­ter­welt von Frei­land und Neu­er­de, wo­bei er Galts pla­ne­ta­re Streit­kräf­te aus ei­ner pre­kä­ren tak­ti­schen Si­tua­ti­on her­aus­ge­holt hat­te.

Nach mei­ner da­ma­li­gen Be­ur­tei­lung han­del­te es sich um einen be­ses­se­nen mi­li­tä­ri­schen Glücks­rit­ter – wie so man­cher sei­ner Art. Doch zum Glück hat­te ich es nicht mit ihm zu tun, son­dern mit ei­ni­gen ein­fluß­rei­chen Leu­ten, die an die­sem Emp­fang teil­neh­men soll­ten.

Ins­be­son­de­re be­nö­tig­te ich die Un­ter­schrift des Chefs der Nach­rich­ten­dien­st­ab­tei­lung von Frei­land auf Da­ves Pa­pie­ren – nicht daß dies ei­ne Pro­tek­ti­on mei­nes Schwa­gers beim Nach­rich­ten­dienst be­deu­tet hät­te. Die­se Art Pro­tek­ti­on galt nur für Gil­de­mit­glie­der und mit ge­wis­sen Ein­schrän­kun­gen für Vo­lon­tä­re auf Pro­be wie mich. Doch bei ei­nem Un­ein­ge­weih­ten wie et­wa für einen Sol­da­ten im Feld konn­te durch­aus die­ser Ein­druck ent­ste­hen. Au­ßer­dem brauch­te ich die Un­ter­schrift ir­gend­ei­nes hö­he­ren Of­fi­ziers un­ter den Söld­nern der Quä­ker­wel­ten, für den Fall, daß Da­ve und ich mit ei­nem ih­rer Sol­da­ten wäh­rend der Kämp­fe auf dem Schlacht­feld Schwie­rig­kei­ten be­kämen.

Den Nach­rich­ten­dienst­chef, einen ei­ni­ger­ma­ßen um­gäng­li­chen Mann na­mens Nuy Snel­ling, einen Erd­be­woh­ner, konn­te ich leicht auf­stö­bern. Er mach­te kei­ne Um­stän­de und er­klär­te sich so­fort be­reit, Da­ve zu be­schei­ni­gen, daß der Nach­rich­ten­dienst mit sei­ner As­sis­tenz ein­ver­stan­den sei.

„Sie wis­sen na­tür­lich“, be­merk­te er, als er mir den Paß zu­rück­gab, „daß dies hier kei­nen Pfif­fer­ling wert ist. Die­ser Da­ve Hall – ist das ein Freund von Ih­nen?“

„Mein Schwa­ger“, er­wi­der­te ich.

„Hm“, mein­te er und zog die Au­gen­brau­en hoch. „Al­so, viel Glück.“ Dann wand­te er sich ei­nem Exo­ten in blau­er Ro­be zu, den ich ur­plötz­lich als Pad­ma iden­ti­fi­zier­te.

Der Schock war so stark, daß ich ei­ne Un­vor­sich­tig­keit be­ging, wie schon seit Jah­ren nicht mehr, näm­lich zu re­den, oh­ne vor­her zu über­le­gen.

„Bot­schaf­ter Pad­ma!“ spru­del­te ich her­aus. „Was in al­ler Welt tun Sie hier?“

Snel­ling trat einen Schritt zu­rück, um uns bei­de im Vi­sier zu ha­ben, und zog wie­der die Au­gen­brau­en hoch. Doch Pad­ma rea­gier­te, oh­ne mei­nem Vor­ge­setz­ten Zeit zu las­sen, mich we­gen mei­nes Faux­pas zu rü­gen. Na­tür­lich hat­te er sich vor mir in kei­ner Wei­se zu recht­fer­ti­gen, aber er schi­en in kei­ner Wei­se be­lei­digt oder gar brüs­kiert zu sein.

„Das­sel­be könn­te ich Sie fra­gen, Tam“, mein­te er lä­chelnd.

In­zwi­schen hat­te ich mich wie­der ge­fan­gen.

„Ich tau­che über­all dort auf, wo es et­was Neu­es gibt“, er­wi­der­te ich. Das war die Stan­dar­dant­wort des Nach­rich­ten­diens­tes. Doch Pad­ma hat­te be­schlos­sen, mei­ne Ant­wort wört­lich zu neh­men.

„In ei­nem ge­wis­sen Sinn ma­che ich es ge­nau­so“, sag­te er.

„Wis­sen Sie noch, Tam, ich ha­be Ih­nen ge­le­gent­lich et­was über ein Sche­ma er­zählt. Hier und jetzt gibt es ei­ne sol­che Ge­le­gen­heit.“

Ich wuß­te zwar nicht, was er mein­te, aber da ich nun mal das Ge­spräch be­gon­nen hat­te, konn­te ich nicht ein­fach knei­fen.

„Tat­säch­lich?“ gab ich mit ei­nem Lä­cheln zu­rück. „Ich hof­fe, die Sa­che hat nichts mit mir zu tun.“

„Nein“, sag­te er. Und schlag­ar­tig wur­de ich mir wie­der sei­ner nuß­brau­nen Au­gen be­wußt, die tief in mei­ne Au­gen schau­ten. „Eher et­was mit Do­nal Grae­me.“

„Das ist nicht mehr wie recht“, gab ich zu­rück. „Schließ­lich fin­det der Emp­fang zu sei­nen Eh­ren statt.“ Ich lach­te, wo­bei ich krampf­haft nach ei­ner Mög­lich­keit such­te, ihn los­zu­wer­den. In Pad­mas Ge­gen­wart be­kam ich ir­gend­wie ei­ne Gän­se­haut im Nacken. Mir war, als wür­de er ei­ne Art ok­kul­te Wir­kung auf mich aus­üben, so daß ich in sei­ner Ge­gen­wart nicht klar den­ken konn­te. „Bei die­ser Ge­le­gen­heit darf ich Sie viel­leicht fra­gen, was aus die­sem jun­gen Mäd­chen ge­wor­den ist, das mich an je­nem Tag in Mark Tor­res Bü­ro ge­führt hat? Ich glau­be, sie hieß Li­sa … Li­sa Kent.“

„Ja, Li­sa“, sag­te Pad­ma, wo­bei sei­ne Au­gen im­mer noch auf mir haf­te­ten. „Sie ist hier. Sie ist jetzt mei­ne Pri­vat­se­kre­tä­rin. Ich glau­be, Sie wer­den bald auf sie sto­ßen. Sie macht sich im­mer noch Ge­dan­ken über Ih­re Ret­tung.“

„Sei­ne Ret­tung?“ warf Snel­ling wie von un­ge­fähr, aber nicht un­in­ter­es­siert ein. Es ge­hör­te zu sei­nen Auf­ga­ben, wie auch zu de­nen al­ler Voll­mit­glie­der der Gil­de, die Vo­lon­tä­re auf al­les das hin zu be­ob­ach­ten, was ei­ner Auf­nah­me in die Gil­de wi­der­sprach.

„Vor sich selbst“, sag­te Pad­ma, wäh­rend er mich aus sei­nen nuß­brau­nen Au­gen an­blick­te, die so ver­schlei­ert und so gold­gelb wa­ren wie die Au­gen ei­nes Got­tes oder ei­nes Dä­mons.

„Dann wird es viel­leicht bes­ser sein, wenn ich sie su­che, da­mit sie mit ih­rem Ret­tungs­werk fort­fah­ren kann“, be­merk­te ich dies­mal mei­ner­seits wie bei­läu­fig, die Ge­le­gen­heit er­grei­fend, mich aus dem Staub ma­chen zu kön­nen. „Viel­leicht se­hen wir uns spä­ter.“

„Viel­leicht“, sag­te Snel­ling. Ich aber mach­te, daß ich fort­kam.

So­bald ich in der Men­ge un­ter­ge­taucht war, streb­te ich ei­nem der Zu­gän­ge zu den Trep­pen zu, die zu den klei­nen Bai­ko­nen hin­auf­führ­ten, wel­che rings­her­um wie Thea­ter­lo­gen an den Wän­den kleb­ten. Ich woll­te mich kei­nes­falls von die­sem merk­wür­di­gen Mäd­chen er­wi­schen las­sen, die­ser Li­sa Kent, an die ich mich so­wie­so recht leb­haft er­in­ner­te. Vor fünf Jah­ren, nach je­nem denk­wür­di­gen Er­eig­nis in der En­zy­klo­pä­die, hat­te ich im­mer wie­der den Wunsch ge­habt, in die En­kla­ve zu­rück­zu­keh­ren und sie auf­zu­su­chen. Doch je­des­mal wur­de mein Vor­ha­ben durch ei­ne Art Angst­ge­fühl ver­ei­telt.

Ich wuß­te, was die­ses Angst­ge­fühl zu be­deu­ten hat­te. Tief in mir wur­zel­te näm­lich das ir­ra­tio­na­le Ge­fühl, daß je­ne Wahr­neh­mung und je­ne Fä­hig­keit, die ich mir er­ar­bei­tet hat­te, um Leu­te zu ma­ni­pu­lie­ren – wie ich mei­ne Schwes­ter sei­ner­zeit in der Bi­blio­thek mit Ja­me­thon Black ma­ni­pu­liert hat­te und wie ich je­dem, der mei­nen Weg kreuz­te, bis hin zu Ober­leut­nant Fra­ne, mei­nen Wil­len auf­ge­zwun­gen hat­te –, ver­schwin­den könn­ten, wenn ich ver­su­chen wür­de, mit Li­sa Kent eben­so zu ver­fah­ren.

Ich such­te und fand al­so ei­ne Trep­pe, die auf einen klei­nen, lee­ren Bal­kon führ­te, wo ei­ni­ge Stüh­le um einen run­den Tisch grup­piert wa­ren. Von hier aus konn­te ich wohl den Äl­tes­ten Strah­len­den aus­ma­chen, den Vor­sit­zen­den des Ver­ei­nig­ten Kir­chen­rats, der die bei­den Quä­ker­wel­ten Har­mo­nie und Ein­tracht re­gier­te. Der Strah­len­de war ein Mi­li­tan­ter – ei­ner der füh­ren­den Kir­chen­män­ner der Quä­ker, der fest an den Krieg als Lö­sung al­ler Din­ge glaub­te – und er hat­te Neu­er­de einen kur­z­en Be­such ab­ge­stat­tet, um sich zu er­kun­di­gen, wie sich die Söld­ner der Freund­li­chen bei ih­ren Auf­trag­ge­bern auf Neu­er­de be­währ­ten. Ei­ne Un­ter­schrift von ihm auf Da­ves Paß wä­re für mei­nen Schwa­ger ein bes­se­rer Schutz ge­gen die Quä­ker-Trup­pen ge­we­sen als fünf be­waff­ne­te Kom­man­dos der Cas­si­da­ner.

Schon nach fünf Mi­nu­ten er­blick­te ich ihn in der Men­ge, die we­ni­ge Me­ter un­ter mei­nem Aus­guck bro­del­te. Er stand am an­de­ren En­de des Raum­es und sprach mit ei­nem weiß­haa­ri­gen Mann – dem Aus­se­hen nach ein Ve­nu­sier oder New­to­ni­er. Ich wuß­te ge­nau, wie er aus­sah, wie ich die meis­ten wich­ti­gen Per­sön­lich­kei­ten der vier­zehn be­wohn­ten Wel­ten vom Aus­se­hen her kann­te. Nur weil ich auf­grund mei­ner be­son­de­ren Be­ga­bun­gen die Er­folgs­lei­ter bis zu die­sem Punkt ziem­lich schnell er­klom­men hat­te, hieß noch lan­ge nicht, daß ich für mei­nen Er­folg nicht hart ge­ar­bei­tet hat­te. Doch trotz mei­nes Wis­sens ver­setz­te mir der ers­te An­blick des Strah­len­den einen klei­nen Schock.

Zum ers­ten­mal muß­te ich fest­stel­len, wie merk­wür­dig kräf­tig er für einen Kir­chen­mann war. Er war grö­ßer als ich, mit Schul­tern wie ein Scheu­nen­tor und ob­wohl be­reits in mitt­le­ren Jah­ren – mit ei­ner Tail­le wie ein Sprin­ter. Er stand da, ganz in Schwarz, in­dem er mir den Rücken zu­kehr­te, die Bei­ne leicht ge­spreizt, das Ge­wicht auf die Fuß­bal­len ver­la­gert wie ein ge­schul­ter Kämp­fer. Den­noch war et­was an ihm, et­was wie ei­ne dunkle Kraft, die mei­nen Mut kühl­te und den­noch den Wunsch in mir weck­te, mei­ne Kräf­te mit ihm zu mes­sen.

Ei­nes war si­cher: Er war kein Ober­leut­nant Fra­ne, der nach mei­ner Pfei­fe tan­zen wür­de.

Ich mach­te kehrt, um zu ihm hin­un­ter­zu­ge­hen – aber der Zu­fall woll­te es an­ders, wenn es ein Zu­fall war. Wahr­schein­lich wer­de ich es nie er­fah­ren. Viel­leicht war es ei­ne Art Über­emp­find­lich­keit, die mir Pad­mas Be­mer­kung ein­ge­impft hat­te, dies hier sei ei­ne be­stimm­te Stun­de und ein be­stimm­ter Ort im mensch­li­chen Ent­wick­lungs­sche­ma, ein Mo­ment, für den er ver­ant­wort­lich zeich­ne­te. Ich selbst hat­te be­reits zu vie­le Men­schen durch solch sub­ti­le, aber an­ge­mes­se­ne Sug­ge­s­ti­on be­ein­flußt, um noch dar­an zu zwei­feln, daß es dies­mal mir so er­gan­gen war. Doch plötz­lich er­blick­te ich einen klei­nen Men­schen­auf­lauf di­rekt un­ter mir.

Ei­ner aus der Grup­pe war Wil­liam von Ce­ta, Chef­un­ter­neh­mer die­ses ge­wal­ti­gen kom­mer­zi­el­len Pla­ne­ten mit der ge­rin­gen Schwer­kraft un­ter der Son­ne von Tau Ce­ti. Dann war da noch ein hoch­ge­wach­se­nes, hüb­sches, blon­des, ziem­lich jun­ges Mäd­chen mit Na­men An­ea Mar­li­va­na, die Aus­er­wähl­te von Kul­tis ih­rer Ge­ne­ra­ti­on, ein Ju­wel der Ge­ne­ra­tio­nen exo­ti­scher Ab­stam­mung. Dort war auch Hen­rik Galt, un­über­seh­bar in der Ga­la­uni­form ei­nes Mar­schalls, mit sei­ner Nich­te El­vi­ne. Und da war noch ein Mann, der kein an­de­rer als Do­nal Grae­me sein konn­te.

Er war ein jun­ger Mann in der Uni­form ei­nes Pa­trouil­len­füh­rers, mit dem dunklen Haar und der fast be­frem­den­den Tüch­tig­keit und Aus­ge­wo­gen­heit sei­ner Be­we­gun­gen, cha­rak­te­ris­tisch für all die­je­ni­gen, die für den Krieg und für den Kampf ge­bo­ren sind. Aber er war zu klein für einen Dor­sai – er hät­te mich kaum über­ragt, wenn ich ne­ben ihm stün­de –, schlank und fast un­auf­fäl­lig. Den­noch blieb mein Blick an ihm haf­ten.

Für ei­ne Se­kun­de be­geg­ne­ten sich un­se­re Bli­cke. Er war na­he ge­nug, so daß ich die Far­be sei­ner Au­gen er­ken­nen konn­te – das war es, was mich zu­rück­hielt.

Denn sei­ne Au­gen wa­ren farb­los, sie hat­ten über­haupt kei­ne be­stimm­te Far­be. Sie wa­ren je­weils grau, grün oder blau, je nach­dem, wie Licht und Schat­ten in ih­nen spiel­ten. Grae­me wand­te den Blick wie­der ab, fast noch im glei­chen Mo­ment. Doch ich war vom Blick die­ser frem­den Au­gen ge­fan­gen, über­rascht und ver­le­gen zu­gleich. Doch die­ser ein­zi­ge Au­gen­blick des Zö­gerns ge­nüg­te.

Als ich mich end­lich von die­sem tran­ce­ar­ti­gen Zu­stand be­freit hat­te und wie­der nach dem Strah­len­den Aus­schau hielt, sah ich, daß ihn je­mand von dem weiß­haa­ri­gen Mann ab­lenk­te. Es war ein Ad­ju­tant, der plötz­lich auf­ge­taucht war und des­sen Fi­gur und Hal­tung mir merk­wür­dig be­kannt vor­ka­men, der ein­dring­lich auf den Äl­tes­ten der Quä­ker­wel­ten ein­re­de­te.

Und wäh­rend ich noch da­stand und zu­schau­te, mach­te der Strah­len­de auf dem Ab­satz kehrt, folg­te dem Ad­ju­tan­ten und ver­ließ den Raum mit ra­schen Schrit­ten durch ei­ne Tür, von der ich wuß­te, daß sie in die Ein­gangs­hal­le und von dort zu Galts Räu­men führ­te. Er ging, und ich war na­he dar­an, mei­ne Chan­ce zu ver­pas­sen. Ich dreh­te mich rasch um, um die Trep­pe hin­un­ter­zu­ei­len und ihm zu fol­gen, be­vor er mei­nen Bli­cken ent­schwand.

Doch mein Weg war ver­stellt. Der Au­gen­blick, wo ich Do­nal Grae­me un­ver­wandt an­ge­st­arrt hat­te, hat­te mich aus dem Gleich­ge­wicht ge­bracht. Denn als ich mich um­dreh­te, kam je­mand die Trep­pe her­auf und trat auf den Bal­kon. Es war Li­sa Kent.