9
Es war halb sieben Uhr morgens, als ich die Halle meines Hotels in Blauvain betrat. In meinen Nerven prickelte es, meine Augen und mein Mund waren trocken, weil ich seit vierundzwanzig Stunden kein Auge mehr zugetan hatte. Der Tag, dem ich entgegensah, sollte ein großer Tag werden, so daß ich kaum Aussicht hatte, während der nächsten vierundzwanzig Stunden ein Nickerchen machen zu können. Aber zwei bis drei schlaflose Tage und Nächte gehören zum Berufsrisiko eines Journalisten. Man muß stets auf dem Posten sein, Augen und Ohren offenhalten und einfach ausharren, bis das erwartete Ereignis eintrifft.
Ich war zwar gespannt wie ein Bogen, doch sollte die Nachricht eintreffen, würde ich schon Mittel und Wege finden, um mich durchzuschlagen. Dann war es endlich soweit, und die Nachricht, die ich in der Rezeption vorfand, vertrieb mir gründlich die Sehnsucht nach Schlaf und einigen Stunden der Entspannung.
Es war ein Brief von Eileen. Ich trat beiseite und riß den Umschlag auf. Sie schrieb:
Liebster Tam
Dein Brief, in dem du mir mitteilst, daß du Dave aus dem Kampfgebiet heraushalten und ihn als deinen Assistenten anstellen willst, ist soeben eingetroffen. Ich bin so froh, daß ich es dir gar nicht sagen kann. Ich habe noch nie gehört, daß einer wie du von der Erde – gar ein Kandidat für die Gilde – so etwas für uns getan hätte.
Wie kann ich dir nur danken? Und wie könntest du mir verzeihen, daß ich dir fünf Jahre lang nicht geschrieben und mich nicht um dich gekümmert habe? Das sieht einer Schwester nicht ähnlich. Aber all dies geschah nur, weil ich wußte, wie nutzlos und wie hilflos ich war. Seit unserer Kindheit hatte ich stets den Eindruck, daß du dich meinetwegen insgeheim geschämt und mich nie ganz ernst genommen hast.
Als du mir seinerzeit in der Bibliothek klargemacht hast, daß eine Heirat mit Jamethon Black ein Fehler sein würde, wußte ich bereits, daß du nichts weiter als die Wahrheit über mich gesagt hast – dennoch mußte ich dich dafür hassen. Damals kam es mir so vor, als wärst du wirklich stolz darauf, verhindert zu haben, daß ich mit Jamie auf und davon ging.
Nun aber, da du versuchst, Dave zu retten und zu schützen, weiß% ich erst, wie falsch ich dich eingeschätzt habe und wie leid es mir tut, daß ich so schlecht von dir gedacht habe. Du warst der einzige, der mir nach dem Tod unserer Eltern geblieben war, und ich habe dich geliebt, Tam. Doch mir war stets, als würdest du mich nicht mögen, ebensowenig wie Onkel Mathias.
Jetzt ist aber alles anders geworden, seitdem ich Dave kennenlernte und er mich heiratete. Irgendwann einmal mußt du nach Alban auf Cassida kommen und unsere Wohnung sehen. Wir waren froh, daß wir so eine große Wohnung bekommen haben. Es ist mein erstes richtiges Zuhause, und ich glaube, du wirst überrascht sein, wie schön wir es haben. Dave wird dir alles erzählen, wenn du ihn fragst – glaubst du nicht auch, daß es für jemanden wie mich wundervoll ist, geliebt und geheiratet zu werden? Er ist so nett und so anhänglich. Weißt du, er wollte unbedingt, daß ich dich über unsere Heirat benachrichtige, obwohl er wußte, wie ich damals dachte. Aber ich wollte es einfach nicht. Er hat immer recht, während ich meistens unrecht habe – wie du nur zu gut weißt, Tam.
Hab nochmals vielen Dank für alles, was du für Dave tust, alle meine guten Wünsche begleiten euch. Sag Dave, ich werde ihm auch schreiben, aber ich glaube, daß mein Feldpostbrief ihn nicht so schnell erreichen wird wie dieser Brief, den ich dir schreibe.
In Liebe
Eileen
Ich steckte den Brief wieder in den Umschlag, verstaute ihn in meiner Tasche und ging in mein Zimmer hinauf. Zunächst dachte ich daran, ihm den Brief zu zeigen, doch im Aufzug überfiel mich plötzlich eine Art Verlegenheit bei dem Gedanken an ihren überschwenglichen Dank und an die Art und Weise, wie sie sich selbst beschuldigte, nicht gerade die Beste aller Schwestern zu sein. Auch ich war nicht stets der Beste aller Brüder gewesen. Und was ich für Dave tun wollte, mochte ihr großartig erscheinen, war es in Wirklichkeit aber nicht. Es war kaum mehr als das, was ich für jeden Fremden getan hätte, ein Gefallen, der auf Gegenseitigkeit beruhte.
Auf irgendeine Weise hatte sie mich beschämt, dennoch tat es mir wohl, daß sie es mir gesagt hatte. Vielleicht konnten wir in Zukunft wie normale Menschen miteinander verkehren. Bei den Gefühlen, die sie und Dave füreinander hegten, durfte ich in absehbarer Zeit mit Neffen oder Nichten rechnen. Wer weiß – vielleicht würde ich schließlich selbst einmal heiraten (der Gedanke an Lisa kam mir auf unerklärliche Weise in den Sinn) und würde selbst Kinder haben. Am Ende würden dann auch wir überall in einem halben Dutzend Welten Verwandte haben, wie so manche anderen Familien auch.
Also widerlege Mathias, dachte ich bei mir, und Padma auch.
Auf diese absurde, aber angenehme Weise hing ich meinen Tagträumen nach, als ich an der Tür meiner Hotelsuite angekommen war und mir erneut die Frage stellte, ob ich Dave den Brief zeigen sollte. Doch dann beschloß ich, abzuwarten und erst auf den Brief zu warten, den Eileen an ihn geschrieben hatte. Ich stieß die Tür auf und trat ein.
Er war bereits auf, gestiefelt und gespornt. Er lächelte, als er mich erblickte, und ich war einen Augenblick lang verwirrt, bis ich dahinterkam, daß ich wahrscheinlich beim Eintreten gelächelt hatte.
„Ich habe Nachrichten von Eileen“, sagte ich. „Nur eine kleine Notiz, die besagt, daß für dich ein Brief unterwegs ist, es aber wahrscheinlich noch einen Tag dauern wird, bis ihn die Feldpost befördert und zustellt.“
Er war offensichtlich erfreut, und wir gingen zum Frühstück. Beim Essen wurde mein Kopf klarer, und sobald wir gefrühstückt hatten, brachen wir zum Hauptquartier der cassidanischen und einheimischen Truppen auf. Dave kümmerte sich um meine Ausrüstung, obwohl sie nicht besonders schwer oder sperrig war. Auf diese Weise hatte ich allerdings Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen.
Das Hauptquartier hatte mir einen militärischen Lufttransporter zugesagt. Als ich allerdings beim Depot für Transportfahrzeuge ankam, mußte ich mich anstellen. Vor mir wurde gerade ein Feldkommandeur abgefertigt, der auf die Spezialausrüstung für seinen Befehlswagen wartete. Zunächst wollte ich mich darüber beschweren, daß man mich warten ließ, doch dann beschloß ich, lieber den Mund zu halten. Dieser Mann dort war kein gewöhnlicher Feldoffizier.
Es war ein schlanker, großer Mann mit schwarzem, leicht gekräuseltem Haar über einem knochigen, aber offenen und lächelnden Gesicht. Ich habe bereits erwähnt, daß ich für einen Erdgeborenen ziemlich groß bin. Dieser Offizier war aber so groß wie ein Dorsai, und offensichtlich war er auch einer. Außerdem verfügte er über diese … diese Qualität, für die es keinen Namen gibt und die ein Geburtsrecht dieser Leute ist, eine Qualität, die über bloße Kraft, Furchtlosigkeit oder Mut hinausging und eher das Gegenteil all dieser schematischen Qualitäten darstellte.
Es ist die Ruhe und die Gelassenheit, über jede Kritik, über die Zeit und selbst über das Leben erhaben. Ich war auf dem Planeten der Dorsai gewesen und hatte die gleiche Eigenschaft sowohl bei halbwüchsigen Jungen als auch bei Kindern festgestellt. Diese Leute sind zwar sterblich – wie alle Menschen sterblich sind, die von einer Frau geboren wurden –, doch keiner von ihnen läßt sich erobern, weder als einzelner noch in der Gruppe. Einen Dorsai in seinem Charakter zu erfassen ist nicht nur undenkbar, es ist irgendwie einfach – unmöglich.
Dies alles konnte ich auch an diesem Kommandeur entdecken, neben seiner militärischen Einstellung. Doch er hatte auch etwas Merkwürdiges an sich, etwas Unerklärliches, das nicht so recht zum Charakterbild eines Dorsai passen wollte.
Er strahlte eine gewisse sonnige Kraft und Wärme aus, die ich fast greifen konnte, obwohl ich einige Meter weit von der Gruppe von Offizieren entfernt stand, die sich um ihn geschart hatten wie junge Ulmen im Windschatten einer Eiche. Von diesem Dorsai-Offizier schien eine Lebensfreude auszugehen, so strahlend, daß sie in jedem, der in seiner Nähe stand, die gleiche Lebensfreude erweckte, selbst in mir, der ich abseits stand und sich nicht leicht durch eine solche Ausstrahlung beeinflussen ließ.
Es mag aber auch sein, daß ich durch Eileens Brief an diesem Morgen besonders sensibilisiert war. Ja, das mußte es wohl gewesen sein.
Da war aber noch etwas, das mein geschultes Auge sofort erblickte, etwas, das mit Charakterqualitäten nichts zu tun hatte, nämlich die Tatsache, daß seine Uniform feldblau und eng geschnitten war, ein Merkmal nicht cassidanischer, sondern exotischer Herkunft. Die Exoten, die, reich und mächtig wie sie waren, aufgrund ihrer Philosophie keine direkte Gewalt ausüben mochten, hatten die besten Söldnertruppen angeheuert, die es unter den Sternen gab. Und das hieß, daß ein Großteil dieser Truppen, zumindest aber die Offiziere, Dorsai waren. Was hatte also dieser Dorsai-Kommandeur mit den schnell aufgenähten Neuerde-Epauletten auf seiner exotischen Uniform hier zu suchen, umgeben von Stabsoffizieren von Neuerde und Cassida?
War er soeben erst bei den angeschlagenen Streitkräften des Südens von Neuerde eingetroffen, so war es wirklich ein glücklicher Zufall, daß er gerade an jenem Morgen auftauchte, wo, wie ich wußte, vergangene Nacht im Hauptquartier der Quäker in Contrevale ein bestimmter Plan ausgeheckt wurde.
Aber war es wirklich Zufall? Es war kaum anzunehmen, daß die Cassidaner von der taktischen Besprechung der Quäker bereits Wind bekommen hatten. Der Geheimdienst von Neuerde war mit Leuten wie Oberleutnant Frane recht dünn besetzt. Und nach einem Paragraphen der Söldnerverträge war es Söldnern verboten, in Zivil für den Geheimdienst zu arbeiten. Gleichzeitig konnte man aber kaum noch an einen Zufall glauben.
„Warte“, sagte ich zu Dave.
Ich versuchte, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, die diesen Dorsai-Kommandeur umgab, um etwas aus seinem eigenen Mund zu erfahren. Doch im gleichen Augenblick fuhr sein Wagen vor. Er stieg ein und fuhr ab, bevor ich ihn erreichen konnte. Immerhin konnte ich feststellen, daß er in Richtung Süden zur Front gefahren war.
Die Gruppe der Offiziere, die er zurückgelassen hatte, löste sich langsam auf. Ich ließ sie gehen und konzentrierte mich auf den Neuerde-Mann, der meinen Wagen gebracht hatte. Er konnte zumindest soviel wissen wie die Offiziere, und ich nahm an, daß man ihn nicht davor gewarnt hatte, irgendwelche Geheimnisse auszuplaudern. Der Kommandeur war, wie ich erfahren konnte, erst gestern den südlichen Streitkräften auf Befehl eines gewissen Exoten Patma oder Padma zugewiesen worden. Außerdem war dieser exotische Offizier ein Verwandter jenes Donal Graeme, an dessen Empfang ich teilgenommen hatte – obwohl, soweit ich wußte, Donal bei den Freiländern und nicht bei den Exoten verpflichtet war und unter dem Kommando von Henrik Galt stand.
„Kensie Graeme, so heißt der Bursche“, sagte der Mann vom Pool. „Und er ist ein Zwilling, wissen Sie. Übrigens – können Sie mit einem solchen Wagen umgehen?“
„Ja“, sagte ich. Ich saß bereits hinter dem Steuer und Dave auf dem Beifahrersitz. Ich drückte den Abhebknopf, und der Wagen richtete sich auf seinem Acht-Zentimeter-Luftpolster auf. „Ist dieser Zwilling auch da?“
„Ich glaube, der sitzt immer noch auf Kultis“, sagte der Mann.
„Er ist mindestens so sauer, wie dieser hier fröhlich ist. Wie dem auch sei, sie sind sehr verschieden, und man sagt, man kann sie kaum auseinanderhalten – denn der andere bekleidet den gleichen Rang.“
„Wie heißt dieser andere?“ fragte ich, die Hand abfahrbereit am Steuer.
Er runzelte die Stirn, dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf.
„Weiß nicht“, sagte er. „Irgendein kurzer Name – Ian oder so.“
„Immerhin, vielen Dank.“ Dann startete ich den Wagen. Ich war versucht, nach Süden zu fahren, in jene Richtung, die Kensie Graeme eingeschlagen hatte. Doch meine Pläne standen fest, seitdem ich letzte Nacht aus dem Hauptquartier der Quäker zurückgekehrt war. Und wenn man nicht ausgeschlafen hat, ist es wenig ratsam, seine Pläne ohne triftigen Grund zu ändern. Aber eine schlaflose Nacht und ein Brummschädel am nächsten Morgen sind durchaus dazu angetan, triftige Gründe in der Versenkung verschwinden zu lassen, die einem dann – leider oft zu spät – wieder einfallen.
So habe ich es mir zum Prinzip gemacht, meine Pläne niemals spontan zu ändern, wenn ich nicht sicher bin, daß ich alle fünf Sinne beieinander habe, ein Prinzip, das sich bereits öfter ausgezahlt hat, obwohl natürlich kein Prinzip perfekt ist.
Wir ließen das Luftfahrzeug auf etwa zweihundertfünfzig Meter aufsteigen und flogen die Linien der Cassidaner entlang, wobei unsere Nachrichtendienstfarben am Rumpf im Sonnenschein glühten und unser Warngerät gleichzeitig ein neutrales Signal sendete. Emblem und Signal mußten genügen, dachte ich, um in dieser Höhe einigermaßen sicher zu sein, so lange unter uns alles ruhig blieb. Sobald aber die Kampfhandlungen einsetzten, war es besser, wie ein angeschossener Vogel in Bodennähe Schutz zu suchen.
Inzwischen aber, solange wir in der Luft noch einigermaßen sicher waren, wollte ich die Linien erst in Richtung Norden abgrasen (wo sie einen Knick machten und zum Quäker-Hauptquartier und nach Contrevale wiesen) und dann in Richtung Süden fliegen – um eventuell herauszufinden, was der Strahlende oder seine schwarzgekleideten Männer im Schilde führten.
Zwischen den beiden feindlichen Lagern von Contrevale und Blauvain verlief eine direkte Linie in Nord-Süd-Richtung. Die gegenwärtige tatsächliche Kampflinie kreuzte diese imaginäre Linie in einem Winkel, dessen nördliches Ende in Richtung Contrevale und Quäker-Hauptquartier wies, während das südliche Ende fast bis zu den Vororten von Blauvain reichte, einer Stadt mit etwa 60000 Einwohnern.
Also lag die ganze Kampflinie bedeutend näher bei Blauvain als bei Contrevale – ein Umstand, der für die vereinigten Streitkräfte von Cassida und Neuerde entschieden von Nachteil war. Sie konnten am Südende nicht in die Stadt zurückweichen und mußten dennoch eine gerade Frontlinie und die Kommunikation aufrechterhalten, die für eine wirksame Verteidigung notwendig war. Insofern hatten die Quäker-Truppen ihre Gegner in eine ungünstige Feldposition hineinmanövriert.
Andererseits war der Winkel der Kampflinie spitz genug, daß sich der Großteil der Quäker-Truppen nach Süden hin innerhalb der nördlichen Flanke der cassidanischen Linie befand. Bei größeren Truppenreserven und einer entschlossenen, kühnen Führung jedoch, so schien es mir, war es bei einiger Überlegung möglich, die Kommunikation zwischen den südlichen und vorgerückten Teilen der Quäker-Linie und dem Quäker-Hauptquartier in Richtung Contrevale abzuschneiden.
Dies hätte zumindest den Vorteil gehabt, bei den Quäkern Verwirrung zu stiften, aus der ein einigermaßen entschlossenes cassidanisches Feldkommando einiges Kapital schlagen konnte.
Aber nichts deutete auf ein solches Manöver hin. Jetzt, mit einem Dorsai als Feldkommandeur, hätten die Cassidaner einen solchen Versuch machen können – sofern noch genügend Zeit und Leute zur Verfügung standen. Mir kam es aber höchst unwahrscheinlich vor, daß die Quäker, nachdem sie die ganze Nacht über ihren Plänen verbracht hatten, die Hände in den Schoß legen und zusehen würden, wie sich die Cassidaner anschickten, die Kommunikation des Feindes abzuschneiden.
Was hatten die Quäker eigentlich vor? Das war die große Frage. Das, was ich soeben erwähnt hatte, war eine mögliche Taktik für die Cassidaner. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Quäker aus der gegenwärtigen Position und Situation Nutzen ziehen konnten.
Das südliche Ende der Linie bei den Vororten von Blauvain war ziemlich offenes Gelände, bebautes Land und Weideland auf vereisten Hügeln. Im Norden waren ebenfalls die Berge, hügeliges Land, von Wald durchzogen, von Variobirkenhainen, die sich im feuchten, vereisten Oberland des Südens hier auf Neuerde angesiedelt hatten und die fast zweimal so hoch wuchsen wie auf der Erde – beinahe achtzig Meter – und ihre Wipfel so dicht zusammensteckten, daß unter ihnen nichts weiter als eine einheimische Moosart existieren konnte. Es war alles in allem ein Märchenland, ein Robin-Hood-Wald, der sich unter ihren Ästen und Zweigen erstreckte, mit hohen, schaligen, silbergoldenen und grauen anderthalb bis drei Meter dicken Stämmen, die wie Säulen aus der Dämmerung zu den sonnigen Blättern emporragten.
Beim Anblick dieses merkwürdigen Waldes wurde mir klar, daß sich unter diesem undurchdringlichen Laubdach jede Menge Truppen verbergen konnten und daß ich aus der Luft weder ihre Waffen noch ihre Helme erkennen konnte. Kurz, die Quäker konnten im Schatten dieses Waldes einen Großangriff vorbereiten, ohne daß ich es auch nur ahnen konnte.
Nun war aber keine Zeit mehr zu verlieren. Ich verwünschte im stillen meine Müdigkeit und meinen Brummschädel, daß ich nicht gleich auf solche Gedanken gekommen war. Ich drehte in einem großen Bogen ab und hin zu einer Mulde mit einer befestigten Stellung der Cassidaner, aus der ein Kanonenrohr hervorragte, um dann zu parken. Hier im Freien war der Platz für das Moos viel zu sonnig, um zu gedeihen. Überall wuchs aber ein kniehohes einheimisches Gras und wiegte sich im leichten Wind wie die Oberfläche eines Sees.
Ich stieg aus und watete durch das Gras bis zu den Büschen, hinter denen sich die Stellung verbarg.
„Irgendwelche Anzeichen von Quäkern hier oder in den Wäldern?“ fragte ich den diensthabenden Gruppenführer.
„Nicht daß ich wüßte“, erwiderte er. Es war ein schlanker, hochgeschossener junger Mann, ein Milchbart, der zu früh den Kinderschuhen entwachsen war. Seine Uniformjacke war am Hals offen. „Unsere Patrouille ist unterwegs.“
„Hm“, meinte ich. „Ich will es etwas weiter vorn versuchen. Vielen Dank.“
Ich kehrte zu meinem Fahrzeug zurück und erhob mich wieder in die Lüfte, das heißt diesmal nur wenige Zentimeter über den Boden, und flog in Richtung Wald davon. Hier war es etwas kühler.
Ich streifte von einer Baumgruppe zur anderen. Bei der dritten Baumgruppe stießen wir auf eine Patrouille der Cassidaner. Die Männer lagen flach auf dem Boden und waren gut getarnt. Ich konnte keinen von ihnen ausmachen, bis ein Gruppenführer mit kantigem Gesicht, die Handwaffe im Anschlag und mit gesenktem Visier, direkt neben unserem Fahrzeug auftauchte.
„Was zum Teufel machen Sie denn hier?“ fragte er, indem er sein Visier lüftete.
„Ich bin Berichterstatter und habe die Erlaubnis, mich zwischen den Kampflinien zu bewegen. Wollen Sie meine Papiere sehen?“
„Sie wissen am besten, was Sie mit Ihrem Kram anfangen können“, meinte er. „Und selbst wenn ich es verbieten könnte, würden Sie’s wohl trotzdem tun. Dies hier ist kein Wochenend-Picknick im Grünen, und daran wird auch Ihre Anwesenheit nichts ändern. Wir haben schon genug Ärger mit den Leuten, die hier in einer Kampfzone wie nachgemachte Soldaten herumsteigen. Da macht ein Ausflügler mehr oder weniger nichts mehr aus.“
„Wieso?“ fragte ich unschuldig. „Haben Sie auch sonst noch Schwierigkeiten?“
„Wir haben seit dem Morgengrauen keinen Schwarzhelm mehr gesehen, das ist es!“ sagte er. „Ihre vorgeschobenen Stellungen sind leer – gestern waren alle noch besetzt. Man braucht nur eine Antenne auszufahren und die Ohren zu spitzen – und schon kann man schweres Geschütz hören, das irgendwo in einer Entfernung von kaum fünfzehn bis zwanzig Kilometer bewegt wird. Das ist es! Warum gehen Sie also nicht hinter die Linien zurück, Freund, damit wir uns nicht auch noch um Sie kümmern müssen?“
„Aus welcher Richtung haben Sie die Geräusche vernommen?“
Er zeigte nach vorn, in Richtung Quäker-Gebiet.
„Das ist dann unsere Richtung“, sagte ich, indem ich mich in meinem Sitz zurücklehnte und Miene machte, das Schiebedach zu schließen.
„Halt!“ rief er, bevor ich noch das Dach schließen konnte. „Wenn Sie unbedingt die feindlichen Linien überfliegen wollen, kann ich Sie natürlich nicht aufhalten. Ich muß Sie allerdings warnen, daß Sie dies auf eigene Gefahr tun. Das Gelände dort draußen liegt zwischen den Linien, und Sie laufen Gefahr, in die Schußlinie automatischer Waffen zu geraten.“
„Gut, gut. Sie haben Ihre Pflicht getan.“ Ich zog das Schiebedach energisch zu. Vielleicht war ich besonders empfindlich, weil ich nicht ausgeschlafen hatte, dennoch hatte ich das Gefühl, daß es mir dieser Mann besonders schwergemacht hatte. Ich sah noch sein grimmiges Gesicht, während ich mein Fahrzeug startete und davonflog.
Vielleicht hatte ich ihm aber auch Unrecht getan. Wir glitten zwischen den Bäumen dahin, und in wenigen Sekunden schon war er unseren Blicken entschwunden. Wir fuhren durch Wälder und überquerten leicht abschüssiges Gelände, ohne während der nächsten halben Stunde überhaupt etwas zu entdecken, und ich war der Meinung, daß wir kaum zwei oder drei Kilometer von dem Punkt entfernt sein konnten, wo der Scharführer das Geräusch von Waffen lokalisiert hatte, als es passierte.
Da war plötzlich ein Pfeifen und ein Schlag, der mir das Instrumentenbrett ins Gesicht schleuderte. Dann wurde ich bewußtlos.
Ich blinzelte und öffnete die Augen. Das runde Gesicht voller Sorge, beugte sich Dave über mich. Er war aus seinem Sicherheitsgurt geschlüpft und war damit beschäftigt, meinen Gurt zu lockern.
„Was ist los?“ murmelte ich. Er aber achtete nicht auf mich, nahm mir den Sicherheitsgurt ab und zog mich aus dem Fahrzeug.
Er wollte mich auf das Moos legen, doch bis wir endlich aus dem Fahrzeug draußen waren, war mein Kopf wieder klar. Anscheinend war ich eher benommen als bewußtlos gewesen. Doch als ich mich umdrehte und nach unserem Fahrzeug schaute, war ich dankbar, daß ich so billig davongekommen war.
Wir waren über eine Vibrationsmine hinweggeschwebt. Unser Luftfahrzeug war wie alle Fahrzeuge, die für den Feldeinsatz bestimmt sind, mit Sensoren ausgerüstet, die in verschiedenen Winkeln angeordnet waren. Und einer dieser Sensoren hatte die Mine gezündet, während wir noch einige Meter von ihr entfernt waren. Dennoch war die Nase des Fahrzeugs nur noch ein Trümmerhaufen, und das Instrumentenbrett war durch meine Stirn zerschmettert worden. Ein Wunder, daß meine Stirn noch heil war und nur eine gewaltige Beule aufzublühen begann.
„Mir geht es bestens – mir geht es bestens!“ sagte ich irritiert zu Dave. Dann begann ich auf unser Fahrzeug zu schimpfen, um mir etwas Luft zu machen.
„Was fangen wir jetzt an?“ fragte Dave, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte.
„Wir werden zu Fuß zu den Quäker-Linien marschieren. Sie liegen am nächsten“, grollte ich. Dabei fiel mir die Warnung des Gruppenführers wieder ein, und ich begann erneut vor mich hinzufluchen. Und weil ich irgendein Opfer brauchte, fuhr ich Dave an. „Wir sind immer noch hinter einer Story her, vergiß das nicht!“
Ich wandte mich ab und stakste in die Richtung, in der unser Fahrzeug geflogen war. Wahrscheinlich lagen im Gelände noch mehr Minen herum, doch wenn ich zu Fuß ging, würde mein Gewicht wohl kaum ausreichen, um sie zu zünden. Einen Augenblick später hatte mich Dave eingeholt, und wir wanderten schweigend Seite an Seite über den Moosteppich zwischen den gewaltigen Baumstämmen dahin, bis das Fahrzeug unseren Blicken entschwunden war.
Zu spät fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, meinen Armbandkompaß mit dem Peilgerät im Fahrzeug zu vergleichen. Jetzt schaute ich auf das Peilgerät an meinem Handgelenk. Nach der Anzeige mußten die Quäker-Linien direkt vor uns liegen. Wenn die Anzeige stimmte, war alles in Butter. Wenn nicht – so war eine Orientierung zwischen diesen gewaltigen Stämmen und auf diesem Moospolster so gut wie ausgeschlossen. Wären wir zu unserem Fahrzeug zurückgekehrt, um uns noch einmal zu vergewissern, so wären wir allerdings buchstäblich verloren gewesen.
Nun, da war im Augenblick nichts zu machen. Wichtig war, immer geradeaus durch die Dämmerung und die Stille des Waldes zu wandern. Ich stellte meinen Richtungsanzeiger auf unseren jetzigen Kurs ein und hoffte das Beste. So marschierten wir weiter – wie ich hoffte, in Richtung Quäker-Front, wo diese auch immer liegen mochte.