7
„Tam!“ sagte sie. „Warten Sie! Laufen Sie nicht davon!“
Das wäre auch kaum möglich gewesen, ohne sie über den Haufen zu rennen, weil sie die schmale Treppe blockierte. Ich blieb unentschlossen stehen und schaute zu der Tür hin, durch die der Strahlende und sein Adjutant bereits verschwunden waren. Und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich bereits zu spät dran war. Die beiden waren flink auf den Beinen. Bis ich die Treppen hinuntereilen und mir einen Weg durch die Menge bahnen konnte, dürften sie bereits ihr Fahrzeug bestiegen haben und davongefahren sein. Vielleicht, wenn ich mich in jenem Augenblick gerührt hätte, als sich der Strahlende zum Gehen wandte – doch selbst wenn ich ihn noch erwischt hätte, wäre es verlorene Liebesmüh gewesen. Nicht Lisas Auftauchen, sondern mein eigenes Zögern, als ich in die merkwürdigen Augen von Donal Graeme blickte, ließ mich die Chance verpassen, die Unterschrift des Strahlenden für Daves Paß zu bekommen.
Mein Blick kehrte zu Lisa zurück. Merkwürdig, jetzt, wo wir uns wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, freute ich mich über die Begegnung, auch wenn die Furcht von vorhin immer noch in mir steckte, daß sie es irgendwie fertigbringen würde, mich kaltzustellen.
„Woher wußten Sie, daß ich hier bin?“ wollte ich wissen.
„Padma sagte mir, daß Sie versuchen, mir aus dem Weg zu gehen“, meinte sie. „Und dort unten wäre es wohl kaum möglich gewesen. Also mußten Sie woanders zu finden sein, wobei Ihnen außer diesen Logen keine Wahl übrigblieb. Ich habe Sie soeben an der Brüstung stehen und hinunterschauen sehen.“
Sie war vom schnellen Treppensteigen etwas außer Atem, und die Worte kamen hastig über ihre Lippen.
„Na schön“, sagte ich. „Sie haben mich gefunden. Was wollen Sie?“
Sie hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, aber die Anstrengung färbte immer noch ihre Wangen. Sie sah sehr hübsch aus, das konnte ich nicht übersehen. Dennoch hatte ich immer noch Angst vor ihr.
„Tam!“ sagte sie. „Mark Torre möchte Sie sprechen!“
Meine Angst steigerte sich wie der Heulton einer Sirene, und ich erkannte im Augenblick die Gefahr, die von ihr ausging. Ihr Instinkt oder ihr Wissen schienen ihr die nötige Kraft zu verleihen. Jeder andere wäre nicht auf diese Weise mit der Tür ins Haus gefallen. Doch irgendeine instinktive Weisheit warnte sie vor der Gefahr, mir genügend Zeit zu lassen, um die Situation einzuschätzen und sie zu meinem Vorteil zu nutzen.
Ich aber konnte genauso direkt sein, wenn es sein mußte. Ich ging um sie herum, ohne etwas zu erwidern. Sie verstellte mir den Weg, so daß ich stehenbleiben mußte.
„Was ist los?“ fragte ich barsch.
„Das hat er mir nicht gesagt.“
Jetzt sah ich eine Möglichkeit, den Spieß umzukehren, und brach in lautes Gelächter aus. Sie starrte mich einen Augenblick an, dann errötete sie wieder, diesmal aber vor Zorn.
„Tut mir leid.“ Ich hörte auf zu lachen, und insgeheim tat es mir wirklich leid. Obwohl ich gezwungen war, gegen sie anzukämpfen und sie abzuwehren, konnte ich sie viel zu gut leiden, um sie auf diese gemeine Art auszulachen. „Doch über was sonst könnten wir reden als über die alte Geschichte, daß ich mich zur Enzyklopädie bekennen soll? Wissen Sie noch? Ich war stets …“ – das Wort lag mir auf der Zunge und entschlüpfte mir auch sofort – „… auf ZERSTÖRUNG ausgerichtet.“
„Wir wollen nichts weiter als unsere Chancen wahrnehmen,“ versetzte sie hartnäckig. „Außerdem ist es nicht Padma, der bei der Enzyklopädie das Sagen hat. Es ist Mark Torre, und er wird langsam alt. Er weiß besser als jeder andere, wie gefährlich es ist, die Zügel aus der Hand zu legen, wenn keiner da ist, der sie wieder ergreift. In einem Jahr, ja sogar in sechs Monaten, könnte das Projekt scheitern oder von Außenstehenden zerstört werden. Glauben Sie vielleicht, daß Ihr Onkel der einzige Mann auf Erden war, der über die Erde und die Bevölkerung der Neuen Welten so dachte wie er?“
Ich richtete mich auf, und ein Kältegefühl überflutete meinen Sinn. Sie hatte einen Fehler begangen, indem sie Mathias erwähnte. Auch mein Gesichtsausdruck muß sich gewandelt haben, weil ich merkte, wie sich ihre Miene veränderte, während sie mich anschaute.
„Was haben Sie mir angetan?“ rief ich in plötzlich ausbrechendem Zorn. „Haben Sie mich beobachtet? Haben Sie mir Spione auf die Spur gesetzt?“ Ich trat vor, und sie wich instinktiv zurück. Ich packte sie am Arm und hielt sie fest. „Wieso haben Sie mich jetzt, ausgerechnet jetzt nach fünf Jahren aufgespürt? Woher wußten Sie, daß ich hier und heute anwesend sein würde?“
Jetzt versuchte sie nicht mehr sich loszureißen und stand würdevoll da.
„Lassen Sie mich los“, sagte sie sanft. Ich gehorchte und trat einen Schritt zurück. „Padma sagte mir, daß Sie hier sein würden. Er meinte, es sei meine letzte Chance – er hatte es ausgerechnet. Sie wissen noch, was er Ihnen über die Ontogenese erzählt hat.“
Ich starrte sie eine Sekunde an, dann lachte ich brüsk los.
„Nun lassen Sie aber mal die Kirche im Dorf!“ sagte ich. „Ich bin zwar bereit, eine Menge über die Exoten zu schlucken, aber Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, daß irgend jemand in der Lage ist vorauszuberechnen, wer sich zu welchem Zeitpunkt auf irgendeiner der vierzehn Welten aufhalten wird!“
„Nicht irgendwer, sondern Sie!“ erwiderte sie böse. „Sie und einige, die so sind wie Sie – weil Sie ein Macher und nicht nur ein Schräubchen sind. Die Einflüsse, die auf einen Menschen einwirken, der durch das Schema fortbewegt wird, sind viel zu weitreichend und sehr kompliziert zu berechnen. Sie aber sind äußeren Einflüssen nicht gnadenlos preisgegeben. Sie haben die Wahl, haben die Möglichkeit, sich von dem Druck zu befreien, den Menschen und Ereignisse auf Sie ausüben. Padma hat Ihnen das schon vor fünf Jahren gesagt!“
„Und aus all diesen Gründen bin ich demnach eher berechenbar. Machen Sie noch ein paar von diesen Scherzen.“
„Oh, Tam!“ sagte sie verbittert. „Natürlich fällt es leichter. Dazu braucht man keine Ontogenese, das können Sie selbst fertigbringen. Sie haben jetzt fünf Jahre daran gearbeitet, die Mitgliedschaft in der Nachrichtengilde zu erringen. Glauben Sie, daß dies keinem aufgefallen ist?“
Natürlich hatte sie recht. Es gab keinen Grund, um dies geheimzuhalten. Sie konnte es aus meinem Gesicht ablesen.
„Nun gut“, fuhr sie fort. „Mittlerweile sind Sie ein gutes Stück vorangekommen. Was braucht man jetzt noch, um als Vollmitglied aufgenommen zu werden? Immer zur Stelle zu sein, wo die interessantesten Nachrichten zu erwarten sind, nicht wahr? Und was ist die interessanteste, wenn nicht gar die wichtigste Nachricht, das wichtigste Ereignis auf allen vierzehn Welten? Der Krieg zwischen dem Norden und dem Süden von Neuerde. Neuigkeiten und Nachrichten über Kriege sind stets dramatisch. Sie mußten also zusehen, daß man Sie mit diesem Auftrag betraut. Und Sie gehören zweifellos zu den Leuten, die so ziemlich alles erreichen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben.“
Ich schaute sie prüfend an. Alles, was sie sagte, hatte Hand und Fuß. Doch wenn dem so war, warum war mir dann nicht bereits früher aufgefallen, daß ich berechenbar war? Mir war plötzlich, als würde mich jemand unter dem Mikroskop beobachten, als spionierte mir jemand nach, gegen den ich nicht den geringsten Verdacht hegte. Dann fiel mir etwas ein.
„Bisher haben Sie aber nur erklärt, warum ich auf Neuerde gewesen bin“, sagte ich langsam. „Warum bin ich aber jetzt hier bei diesem besonderen Anlaß auf Freiland anwesend?“
Jetzt wurde sie zum erstenmal unsicher, und mir schien, als würde sie an sich und an ihrem Wissen zweifeln.
„Padma …“ begann sie und brach dann zögernd ab. „Padma sagt, dieser Ort und diese Zeit bilden einen Schnittpunkt zweier Kurven. Und da Sie das sind, was Sie sind, werden Sie instinktiv von solchen besonderen Koordinatenpunkten angezogen – und zwar durch Ihren eigenen Wunsch, solche Gelegenheiten für Ihre Zwecke zu nutzen.“
Ich schaute sie unverwandt an, während ich das Gesagte langsam verdaute. Dann, plötzlich, schoß es wie eine Flamme durch meinen Sinn, und mir wurde schlagartig die Beziehung zwischen dem, was sie soeben gesagt, und dem, was ich früher gehört hatte, bewußt.
„Koordinatenpunkt – ach ja!“ sagte ich hart und trat in meiner Erregung einen Schritt auf sie zu. „Padma sagte, dies sei ein besonderer Koordinatenpunkt. Für Graeme – und auch für mich! Warum? Was hat das für mich zu bedeuten?“
„Ich …“ Sie zögerte. „Ich weiß es nicht so genau, Tam. Und ich glaube auch nicht, daß Padma es weiß.“
„Doch irgend etwas, was ihn und mich betrifft, hat Sie hierher getrieben! Stimmt das?“ fragte ich, indem ich sie fast anschrie. Mein Sinn lechzte nach Wahrheit. „Warum haben Sie mich verfolgt, bis hierher und auch an diesen besonderen Koordinatenpunkt, wie Sie es nennen! Sagen Sie’s mir!“
„Padma …“ begann sie, und wieder schwankte sie. Im Lichte meiner plötzlichen Erkenntnis wurde mir bewußt, daß sie mir gern eine Lüge aufgetischt hätte, daß aber irgend etwas da war, was sie davon abhielt. „Padma, … hat alles zusammengetragen, was ihm bei Erstellen der Enzyklopädie von Nutzen sein könnte. Für seine Berechnungen wurden ihm besondere Daten zur Verfügung gestellt. Und als er sich neulich dieser Daten bediente, zeigten die Ergebnisse, daß alles bedeutend komplizierter – und bedeutend wichtiger ist. Die Enzyklopädie ist für die ganze menschliche Rasse bedeutend wichtiger als er vor fünf Jahren angenommen hatte. Auch ist mittlerweile die Gefahr größer, daß die Enzyklopädie niemals zum Tragen kommt. Und Ihre eigene Kraft der Zerstörung …“
Sie vollendete ihren Satz nicht und schaute mich fast flehend an, als wollte sie sich entschuldigen, daß sie mitten im Satz aufgehört hatte. Doch meine Gedanken rasten, und mein Herz klopfte vor Aufregung.
„Weiter!“ befahl ich barsch.
„Die Zerstörungskraft in Ihnen war größer, als man sich dies je hätte träumen lassen. Aber, Tam …“ sagte sie fast leidenschaftlich, „da war noch etwas anderes. Sie werden sich sicher daran erinnern, was Ihnen Padma vor fünf Jahren gesagt hat, daß Sie nämlich die Wahl hätten, jenes dunkle Tal bis zum bitteren Ende zu durchschreiten? Nun, das stimmt nicht ganz. Sie haben eine Chance – hier und jetzt. Wenn Sie sich jetzt besinnen, gibt es einen schmalen Weg für Sie, der aus der Finsternis hinausführt. Aber Sie müssen sich sofort entscheiden. Sie müssen Ihren Plan sofort aufgeben, ganz gleich, was es kostet, und müssen auf die Erde zurückkehren, um mit Mark Torre zu sprechen!“
„Sofort“, murmelte ich, ihre Worte gedankenlos wiederholend, während ich meinen sich jagenden Gedanken nachhing. „Nein“, sagte ich, „machen Sie sich nichts daraus. Was ist das überhaupt – welche Art Zerstörung, die ich lassen soll? Vorerst habe ich nichts dergleichen vor – zumindest jetzt noch nicht.“
„Tam!“ Ich spürte wie aus weiter Ferne ihre Hand auf meinem Arm, ich sah ihr blasses Gesicht, das mich gespannt anstarrte, als wollte sie meine Aufmerksamkeit wecken. Doch mir war, als würden meine Sinne dies alles wie aus weiter Ferne wahrnehmen. Denn wenn ich recht hatte – sofern ich wirklich recht hatte –, so gingen selbst Padmas Berechnungen auf jene dunkle Kraft hinaus, die in mir waltete, jene Fähigkeit, die ich in den letzten fünf Jahren zur Schau getragen hatte. Wenn ich aber wirklich über solche Kräfte verfügte, was konnte ich dann als nächstes alles tun?
„Es geht nicht darum, was Sie vorhaben!“ sagte Lisa verzweifelt. „Sehen Sie, auch ein Gewehr hat es nicht vor, jemanden zu erschießen. Aber es ist in Ihnen, Tam, wie eine Waffe, deren Hähne gespannt sind. Nur dürfen Sie es nicht zulassen, daß diese Waffe losgeht. Sie können sich ändern, solange noch Zeit dafür bleibt. Sie können sich selbst und die Enzyklopädie retten …“
Das letzte Wort durchfuhr mich wie ein Donnerschlag, dem ein millionenfaches Echo folgte. Es hörte sich an wie jene zahllosen Stimmen, die ich vor fünf Jahren am Transitpunkt des Indexraumes in der Enzyklopädie vernommen hatte. Durch all die Erregung, die mich umfing, drang es plötzlich zu mir durch und berührte mich so scharf wie eine Speerspitze. Es drang wie ein heller Lichtstrahl durch die dunklen Wände, die sich triumphierend um mich herum aufgerichtet hatten, wie an jenem Tag in Mark Torres Büro. Wie ein gleißendes Licht durchschnitt es für einen Augenblick die Dunkelheit und ließ mich ein Bild erblicken – mich selbst, im Regen, Padma mir gegenüber, und einen Toten, der zwischen uns beiden lag.
Doch ich riß mich von dieser Vorstellung los, wich zurück in die angenehme, einlullende Finsternis, und das Gefühl meiner Kraft und meiner Stärke kehrte wieder zurück.
„Ich brauche die Enzyklopädie nicht!“ sagte ich laut.
„Doch! Und ob Sie sie brauchen!“ rief sie. „Jeder Erdgeborene braucht sie – und wenn Padma recht hat in Zukunft auch alle Menschen auf allen vierzehn Welten. Und nur Sie allein können dafür sorgen, daß sie sie auch bekommen. Tam, Sie müssen …“
„Müssen!“
Diesmal trat ich einen Schritt zurück. Ich war von jener eiskalten Wut erfüllt, die einst nur Mathias in mir erwecken konnte, doch diesmal gemischt mit einem Gefühl des Triumphes und der Macht. „Ich muß gar nichts! Setzen Sie mich nicht mit all diesen Erdenwürmern gleich. Vielleicht brauchen sie Ihre Enzyklopädie, ich aber nicht!“
Damit ging ich um sie herum und nutzte meine Kraft, um sie buchstäblich beiseite zu schieben. Ich hörte, wie sie mir nachrief, während ich die Treppen hinunterging. Ich aber verschloß meine Ohren und wollte ihren Ruf nicht hören. Ich weiß bis heute noch nicht, was sie mir zuletzt nachgerufen hat. Ich ließ den Balkon und ihre Rufe hinter mir, bahnte mir meinen Weg durch die Menge und strebte jenem Ausgang zu, durch welchen der Strahlende verschwunden war. Nachdem der Quäker-Führer gegangen war, gab es auch für mich keinen Grund, hier weiter herumzustehen. Und bei meinem von neuem erwachten Machtgefühl konnte ich die Leute einfach nicht mehr um mich dulden. Die meisten unter ihnen stammten von den Neuen Welten. Aber Lisas Stimme klang weiter in meinem Ohr und sagte mir, daß ich die Enzyklopädie brauchte, wie ein Echo der bitteren Lektionen meines Onkels Mathias über die Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit des Erdenmenschen.
Wie ich bereits angenommen hatte, waren der Strahlende und derjenige, der ihn vom Empfang abberufen hatte, bereits verschwunden, als ich draußen in der frischen Kühle dieser mondlosen Freiland-Nacht angelangt war. Der Parkplatzwächter sagte mir, sie seien weggefahren.
Ich hatte wenig Grund dazu, jetzt gleich nach ihnen zu suchen. Sie konnten überall hingefahren sein, vielleicht hatten sie auch den Planeten bereits verlassen, um nach Harmonie oder Eintracht zurückzukehren. Laß sie laufen, dachte ich, immer noch verbittert über das, was mir Lisa über die Unfähigkeit der Erdgeborenen gesagt hatte, ein Umstand, den ich aus ihren Worten herausgelesen zu haben glaubte. Laß sie laufen. Ich war Manns genug, um auch allein mit dem Problem fertig zu werden, mit den Unannehmlichkeiten, die uns die Quäker bereiten würden, weil Daves Paß nicht die Unterschrift eines ihrer ranghöchsten Beamten trug.
Ich begab mich zum Raumhafen und nahm die erste Fähre zur Umlaufbahn, die Anschluß an das Raumschiff nach Neuerde hatte. Unterwegs hatte ich Gelegenheit, mich abzukühlen und zu beruhigen. Ich machte mir klar, daß es immer noch der Mühe wert war, die Unterschrift für Daves Paß zu beschaffen. Vielleicht mußte ich ihn aus irgendwelchen Gründen auf die eigenen Beine stellen, vielleicht konnten wir auch durch Zufall auf dem Schlachtfeld getrennt werden. Es konnten auch hundert andere Dinge passieren, die ihn in Schwierigkeiten brachten, wenn ich nicht gerade in der Nähe war, um ihm aus der Patsche zu helfen.
Da ich meine Chance bei dem Strahlenden verpaßt hatte, blieb mir nichts weiter übrig, als mein Glück bei den Quäker-Truppen im Norden zu versuchen, um vielleicht dort die Unterschrift für Daves Paß zu bekommen. Sobald ich also die Umlaufbahn von Neuerde erreicht hatte, tauschte ich meine Fahrkarte um für eine Reise nach Contrevale, jene Stadt im Norden, die direkt hinter den Linien der Söldnertruppen von den Quäkerwelten im Norden lag.
All dies brauchte einige Zeit. Es war nach Mitternacht, bis ich von Contrevale aus das Hauptquartier der nördlichen Streitkräfte erreichte. Mein Nachrichtendienstausweis öffnete mir die Tore zum Gelände, das selbst zu dieser Nachtzeit ungewöhnlich leer war. Doch als ich schließlich vor dem Kommandogebäude ankam, war ich erstaunt über die vielen Fahrzeuge, die dort parkten.
Auch diesmal durfte ich mit meinem Ausweis eine schweigsame, ganz in Schwarz gekleidete Wache passieren, die, das Gewehr im Anschlag, vor der Tür stand. Ich trat in den Empfangsraum, wo ein langgezogener Schalter den Raum in zwei Hälften teilte, von dem aus man durch die große Panoramascheibe auf den Parkplatz mit seinen Nachtlichtern hinausblicken konnte. Hinter dem Schalter saß nur ein einziger Mann an einem der Schreibtische, ein Gruppenführer, kaum älter als ich, doch mit jenen verhärteten Zügen der Selbstbeherrschung, die man bei einigen Leuten seines Schlages beobachten konnte.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch und kam nach vorn, als ich mich dem Schalter näherte.
„Ich bin Berichterstatter der Interstellaren Nachrichtendienste“, sagte ich, „Ich suche …“
„Ihre Papiere!“
Die Aufforderung war barsch und in nasalem Ton gesprochen. Die schwarzen Augen in seinem knochigen Gesicht schauten mich prüfend an, und die kurze Aufforderung wirkte wie eine Ohrfeige. Etwas wie Haß sprang wie ein Funke von ihm auf mich über, als er die Hand nach meinem Ausweis ausstreckte – und mein eigenes Haßgefühl, aufgestört wie ein Löwe durch den Ruf eines Feindes, traf ihn mit voller Wucht, bevor ich überhaupt in der Lage war, meinen Verstand einzuschalten.
Ich hatte schon von dieser Freiland-Rasse gehört, doch bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie einem Freiländer gegenübergestanden. Dies hier war einer von jenen, die von Harmonie oder Eintracht kamen und ihren privaten Jargon nicht nur unter sich sprachen, sondern ihn gleichermaßen bei der Unterhaltung mit anderen Männern und Frauen verwendeten, einer von denen, die alle persönlichen Freuden des Lebens mieden, die der Wollust und der Völlerei entsagt hatten. Ihr Leben war nichts weiter als eine Erprobung und Bewährung mit Waffen, ein Vorzimmer für ein anderes Leben, das nur jenen beschieden war, die rechten Glaubens waren – und auch unter diesen nur den Auserwählten des Herrn.
Diesem Mann war es gleichgültig, daß er nichts weiter war als eine niedrige Charge, ein kleiner Funktionär unter Tausenden seinesgleichen, die von einem armseligen und felsigen Planeten stammten, ich aber war einer von nur wenigen hundert von den vierzehn bewohnten Welten, die entsprechend geschult und privilegiert waren, die Kleidung eines Nachrichtenmannes zu tragen. Ihm war es auch gleichgültig, ob ich nun ein Mitglied oder ein Kandidat der Gilde war, der mit den Regierenden von Planeten sprechen konnte, und ob ich ihn für einen halben Narren hielt oder nicht. Er wußte zwar, daß ich ein Produkt einer Bildung und Schulung war, die mich haushoch über ihn stellten, aber dies alles machte ihm nichts aus, denn er war ein Auserwählter Gottes, während ich nicht zu seiner Kirche gehörte. Darum betrachtete er mich, wie ein Kaiser einen Hund betrachtet, der ihm über den Weg läuft.
Ich erwiderte seinen Blick. Für jede spontane menschliche Regung gibt es eine Grenze, und keiner wußte dies besser als ich. Ich kannte aber auch die Grenze, die Möglichkeit, jemanden in die Schranken zu weisen, der seine Nase etwas zu hoch trug, indem man ihn lächerlich machte. Denn vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es oft nur ein Schritt. Kein Thron konnte je so hoch gebaut werden, um ihn nicht durch Lächerlichkeit in seinen Grundfesten zu erschüttern. Doch ich schaute diesen Mann an, und das Lachen blieb mir im Halse stecken.
Ich konnte nicht lachen, und dies aus einem ganz simplen Grund. Denn er mochte zwar ein Halbnarr sein, engstirnig und beschränkt, doch er hätte sich jederzeit gelassen auf einem Scheiterhaufen verbrennen lassen, ohne auch nur ein Jota von seinem Glauben und seiner Überzeugung abzuweichen, während ich kaum in der Lage war, einen Finger in eine Streichholzflamme zu halten, ohne nicht innerhalb einer Minute selbst die größten Ideale aufzugeben.
Er aber wußte, daß mir dies bekannt war. Ich wußte die Wahrheit über ihn, und er kannte die Wahrheit über mich. Unsere gegenseitige Kenntnis war so deutlich wie die Schranke, die uns voneinander trennte. So konnte ich ihn nicht einfach auslachen, um meine Selbstachtung zurückzugewinnen, und ich haßte ihn wegen dieser Erkenntnis.
Ich gab ihm meine Papiere, und er blätterte sie durch.
„Die Papiere sind in Ordnung“, sagte er hochnäsig. „Was führt Sie hierher?“
„Ein Paß“, sagte ich, indem ich meine Papiere einsteckte und Daves Paß hervorkramte. „Für meinen Assistenten. Wie Sie sehen, wechseln wir zwischen den Linien hin und her …“
„Hinter unseren Linien und zum Überschreiten dieser Linien ist kein Paß erforderlich. Dazu genügt der Nachrichtendienstausweis.“ Damit wandte er sich ab und machte Miene, an seinen Schreibtisch zurückzukehren.
„Aber mein Assistent“, sagte ich ruhig, „hat keinen solchen Ausweis. Ich habe ihn erst heute eingestellt und hatte noch keine Zeit, Papiere für ihn zu beschaffen. Ich möchte daher einen provisorischen Paß mit der Unterschrift eines der Offiziere aus dem Hauptquartier …“
Mittlerweile war er wieder am Schalter angelangt.
„Ist Ihr Assistent kein Journalist?“
„Kein offizieller. Nein. Aber …“
„Dann darf er auch unsere Linien nicht passieren. Wir können ihm keinen Paß ausstellen.“
„Oh, ich weiß nicht“, meinte ich vorsichtig. „Ich wollte Ihren Ältesten Strahlenden um einen Paß bitten, bei einem Empfang auf Freiland, der erst vor wenigen Stunden stattgefunden hat, aber ich hatte leider keine Gelegenheit, den Paß zu bekommen.“ Ich hielt an, weil der Gruppenführer grimmig den Kopf schüttelte.
„Bruder Strahlender“, sagte er, und aus seiner Anrede konnte ich entnehmen, daß er unerschütterlich bleiben würde. Nur die Puristen unter den Fanatikern von Freiland waren so sehr auf die Rangunterschiede erpicht. Der Älteste Strahlende konnte meinem Mann befehlen, die Geschützstellung des Feindes ohne Waffen zu stürmen, und dieser Mann hätte keinen Augenblick gezögert, diesem Befehl zu gehorchen. Doch das sollte noch lange nicht heißen, daß mein Mann davon überzeugt war, die Meinung eines Strahlenden oder Bruder Strahlenden ginge über die seine hinaus.
Dafür gab es einen ganz einfachen Grund. Des Strahlenden Rang und Titel waren für diese Welt gedacht, in den Augen meines Mannes also Schall und Rauch. Vor Gott waren sie alle gleich, er und der höchste Mann in der Bruderschaft der Auserwählten.
„Bruder Strahlender“, sagte er, „könnte keinen Paß für jemanden ausstellen, der nicht berechtigt ist, unter uns zu weilen und zu wandeln, der vielleicht ein Spion für die andere Seite ist.“
Nun hatte ich nur noch eine einzige Karte in der Hand, von der ich allerdings wußte, daß sie wahrscheinlich ein Flop sein würde. Trotzdem mußte ich es riskieren.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte ich, „würde ich gern die Meinung eines Ihrer Vorgesetzten zu diesem Thema hören. Bitte holen Sie einen herbei, vielleicht den Offizier vom Dienst, wenn sonst niemand erreichbar ist.“
Er aber wandte sich ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.
„Der Offizier vom Dienst“, sagte er abschließend, indem er sich wieder irgendwelchen Papieren zuwandte, an denen er gearbeitet hatte, „wird Ihnen auch nichts anderes sagen können. Ich werde ihn auch nicht stören, damit er Ihnen noch einmal dasselbe erzählt.“
Es war, als hätte sich alles gegen meinen Plan verschworen, diese Unterschrift für den Paß einzuholen. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, sich mit diesem Mann weiter herumzustreiten. Also machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ das Gebäude.