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Am Tag nach mei­ner Lan­dung hör­te es end­gül­tig auf zu reg­nen. Tag für Tag wur­de der Bo­den tro­ckener. Bald schon moch­te er so fest sein, daß er das Ge­wicht von schwe­rem, bo­den­ge­bun­de­nem Kriegs­ge­rät tra­gen konn­te. Und je­der­mann wuß­te, daß dann die Früh­jahr­sof­fen­si­ve der Exo­ten be­gann. In der Zwi­schen­zeit be­rei­te­ten sich so­wohl die Trup­pen der Exo­ten als auch die der Quä­ker dar­auf vor.

Wäh­rend der fol­gen­den paar Wo­chen ging ich flei­ßig mei­ner Ar­beit als Be­richt­er­stat­ter nach. Ich schrieb haupt­säch­lich ak­tu­el­le Ar­ti­kel und klei­ne­re Be­rich­te über die Sol­da­ten und Ein­hei­mi­schen. Ich hat­te ei­ne Men­ge Te­le­gram­me zu ver­schi­cken, und ich er­le­dig­te das al­les ge­wis­sen­haft. Ein Kor­re­spon­dent ist nur so gut wie sei­ne Kon­tak­te: Ich knüpf­te über­all Kon­tak­te, au­ßer bei den Quä­ker­trup­pen. Die blie­ben zu­rück­hal­tend, ob­wohl ich dort mit vie­len Sol­da­ten sprach. Sie zeig­ten auch wei­ter­hin we­der Furcht noch Un­si­cher­heit.

Ich hör­te, daß es mit dem Aus­bil­dungs­stand die­ser Quä­ker­sol­da­ten im all­ge­mei­nen nicht weit her war, da ih­re Rei­hen auf­grund der selbst­mör­de­ri­schen Tak­ti­ken ih­rer Of­fi­zie­re dau­ernd mit un­er­fah­re­nem Er­satz auf­ge­füllt wer­den muß­ten. Die­se hier je­doch wa­ren von ei­nem Ex­pe­di­ti­ons­korps üb­rig­ge­blie­ben, das sechs­mal so stark wie jetzt ge­we­sen war. Sie al­le wa­ren Ve­te­ra­nen, auch wenn die meis­ten von ih­nen noch kei­ne zwan­zig Jah­re alt wa­ren. Nur hier und dort – un­ter den Un­ter­of­fi­zie­ren und häu­fi­ger un­ter den Of­fi­zie­ren – ent­deck­te ich den Pro­to­typ des Grup­pen­füh­rers, der die Kriegs­ge­fan­ge­nen auf Neu­er­de er­schos­sen hat­te. Hier wirk­ten die Män­ner die­ser Art wie toll­wü­ti­ge graue Wöl­fe in­mit­ten ei­ner Meu­te aus ge­hor­sa­men und gut dres­sier­ten jun­gen Hun­den, die ge­ra­de erst ent­wöhnt wa­ren. Ich war ver­sucht zu glau­ben, sie al­lein stell­ten das dar, was ich zu zer­stö­ren be­ab­sich­tig­te.

Um die­ser Ver­su­chung wi­der­ste­hen zu kön­nen, sag­te ich mir, daß Alex­an­der der Große be­reits ge­gen die Berg­stäm­me ins Feld ge­zo­gen war und in Pel­la, der Haupt­stadt von Ma­ze­do­ni­en, re­giert und die Hin­rich­tung von Men­schen be­foh­len hat­te, als er erst sech­zehn ge­we­sen war. Doch die Quä­ker­sol­da­ten wirk­ten auch wei­ter­hin bei­na­he wie Kin­der auf mich. Ich konn­te mir nicht hel­fen: Ich muß­te sie mit den er­wach­se­nen und er­fah­re­nen Söld­nern in Ken­sie Grae­mes Streit­kräf­ten ver­glei­chen. Denn ent­spre­chend ih­rer phi­lo­so­phi­schen Prin­zi­pi­en lehn­ten es die Exo­ten ab, Trup­pen aus Söld­nern oder Re­kru­ten zu mie­ten, die sich nicht aus frei­em Wil­len für die Uni­form ent­schie­den hat­ten.

Wäh­rend all die­ser Zeit hör­te ich nicht ein Wort von der Blau­en Front. Aber im Ver­lau­fe von zwei Wo­chen hat­te ich mir mei­ne ei­ge­nen Ver­bin­dun­gen in Neu Sankt Mar­kus ge­schaf­fen. Und zu Be­ginn der drit­ten Wo­che er­hielt ich durch einen die­ser Kon­tak­te die In­for­ma­ti­on, daß der Ju­we­lier­la­den in der Wal­lace-Stra­ße ge­schlos­sen, die Ja­lou­si­en her­un­ter­ge­las­sen und so­wohl Wa­ren als auch In­ven­tar aus dem Ver­kaufs­raum her­aus­ge­bracht wor­den wa­ren. Es schi­en, als sei das Ge­schäft ver­legt oder auf­ge­ge­ben wor­den. Das war al­les, was ich wis­sen muß­te.

Die nächs­ten Ta­ge hielt ich mich in der Nä­he von Ja­me­thon Black auf – und als die Wo­che zu En­de ging, zahl­te es sich aus, daß ich ihn be­ob­ach­te­te.

Um zehn Uhr an je­nem Frei­tag­abend be­fand ich mich auf ei­nem schma­len Steg di­rekt über mei­ner Un­ter­kunft und un­ter­halb des Wach­gangs in den La­ger­wäl­len. Und ich be­ob­ach­te­te, wie drei Zi­vi­lis­ten, die ganz nach Mit­glie­dern der Blau­en Front aus­sa­hen, aufs Kar­ree fuh­ren, aus­stie­gen und in Ja­me­thons Bü­ro tra­ten.

Et­was län­ger als ei­ne Stun­de blie­ben sie dort. Als sie wie­der ab­fuh­ren, ging ich hin­un­ter und zu Bett. Die­se Nacht schlief ich tief und fest.

Am nächs­ten Mor­gen stand ich früh auf. Post war für mich ein­ge­trof­fen. Ein Li­ni­en­schiff hat­te mir von der Er­de ei­ne Mit­tei­lung vom Di­rek­tor der Nach­rich­ten­diens­te mit­ge­bracht, in der er mir ganz per­sön­lich sei­ne An­er­ken­nung für mei­ne Ex­preß­be­rich­te aus­sprach. Einst, vor drei Jah­ren, hät­te mir das ei­ne Men­ge be­deu­tet. Jetzt aber fürch­te­te ich nur, man könn­te zu dem Schluß kom­men, mei­ne Re­cher­chen hier hät­ten so­viel In­ter­essan­tes er­ge­ben, daß man mir zu mei­ner Un­ter­stüt­zung ei­ni­ge Mit­ar­bei­ter schi­cken müs­se. Ich konn­te es nicht ris­kie­ren, an­de­re Nach­rich­ten­leu­te in mei­ner Nä­he zu ha­ben. Sie hät­ten ent­de­cken kön­nen, wo­mit ich be­schäf­tigt war.

Ich stieg in mei­nen Wa­gen und fuhr die Haupt­stra­ße ent­lang nach Os­ten, nach Neu Sankt Mar­kus und dem Haupt­quar­tier der Exo­ten. Die Trup­pen der Quä­ker wa­ren be­reits im Fel­de. Acht­zehn Ki­lo­me­ter öst­lich von Jo­sef­stadt wur­de ich von ei­ner Grup­pe aus fünf jun­gen Sol­da­ten an­ge­hal­ten, un­ter de­nen sich kein Un­ter­of­fi­zier be­fand. Sie er­kann­ten mich.

„In Got­tes Na­men, Mr. Olyn“, sag­te der ers­te, der mei­nen Wa­gen er­reich­te. Er beug­te sich her­un­ter, um durch das of­fe­ne Fens­ter links von mir mit mir zu spre­chen. „Sie kön­nen hier nicht wei­ter­fah­ren.“

„Und warum nicht, wenn ich fra­gen darf?“ gab ich zu­rück.

Er wand­te sich um und deu­te­te auf ein klei­nes Tal zwi­schen zwei be­wal­de­ten Hü­geln links von uns.

„Dort wer­den tak­ti­sche Ver­mes­sun­gen durch­ge­führt.“

Ich sah hin­über. Das klei­ne Tal – oder die Wie­se – zwi­schen den Hü­geln war et­wa hun­dert Me­ter breit. Es schlän­gel­te sich da­hin, be­schrieb dann ei­ne Kur­ve nach rechts und war von hier aus nicht wei­ter zu über­bli­cken. Am Ran­de der be­wal­de­ten Hü­gel, dort, wo das Ter­rain in die of­fe­ne Wie­se über­ging, wuch­sen Flie­der­bü­sche, de­ren Blü­ten ei­ni­ge Ta­ge alt wa­ren. Die Wie­se selbst war grün und bot einen an­ge­neh­men An­blick mit dem jun­gen und fri­schen Gras des ge­ra­de be­gin­nen­den Früh­jahrs und dem Weiß und Pur­pur des Flie­ders. Die Va­ri­formei­chen hin­ter den Flie­der­bü­schen bil­de­ten ver­schwom­me­ne Kon­tu­ren, in der klei­ne, neue Blät­ter wuch­sen.

In der Mit­te die­ser gan­zen Sze­ne­rie, im Mit­tel­punkt der Wie­se, schrit­ten schwarz­ge­klei­de­te Ge­stal­ten mit Be­rech­nungs­ge­rä­ten um­her und ver­ma­ßen und un­ter­such­ten die Mög­lich­kei­ten des Tö­tens und Ster­bens von al­len Sei­ten. Ge­nau in der Mit­te der Wie­se hat­ten sie aus ir­gend­ei­nem Grun­de Mar­kie­rungs­pfäh­le auf­ge­stellt: ein ein­zel­ner Pfos­ten, dann ei­ner da­vor mit zwei wei­te­ren zu bei­den Sei­ten und dann noch ei­ner vor die­sen drei­en. Wei­ter vorn be­fand sich ein an­de­rer ein­zel­ner Pfos­ten. Er lag auf dem Bo­den, als sei er um­ge­stürzt oder bei­sei­te ge­wor­fen wor­den.

Ich wand­te mich ab und sah wie­der auf in das ha­ge­re und jun­ge Ge­sicht des Sol­da­ten.

„Be­rei­ten Sie sich dar­auf vor, die Exo­ten zu schla­gen?“ frag­te ich.

Er faß­te mei­ne Wor­te als di­rek­te und ehr­lich ge­mein­te Fra­ge auf, als hät­te mei­ne Stim­me ganz und gar nicht iro­nisch ge­klun­gen.

„Ja, Sir“, sag­te er ernst­haft. Ich mus­ter­te ihn und blick­te dann in die straf­fen Mie­nen und kla­ren Au­gen sei­ner Ka­me­ra­den.

„Schon ein­mal dar­an ge­dacht, daß Sie auch ver­lie­ren könn­ten?“

„Nein, Mr. Olyn.“ Er schüt­tel­te fei­er­lich den Kopf. „Nie­mand ver­liert, der im Na­men des Herrn in die Schlacht zieht.“ Er be­merk­te, daß ich da­von erst noch über­zeugt wer­den muß­te und fuhr ernst und wür­de­voll fort: „Er hat Sei­ne Hand auf Sei­ne Hei­li­gen Sol­da­ten ge­legt. Und da­her bleibt ih­nen nur der Sieg – oder manch­mal der Tod. Und was ist schon der Tod?“

Er sah sei­ne Ka­me­ra­den an, und sie al­le nick­ten.

„Was ist schon der Tod?“ wie­der­hol­ten sie.

Ich be­trach­te­te sie. Dort stan­den sie und frag­ten mich und sich selbst, was der Tod sei … als sprä­chen sie von ei­nem zwar har­ten, aber not­wen­di­gen Job.

Ich hat­te ei­ne Ant­wort für sie pa­rat, aber ich sprach sie nicht aus. Der Tod, das war ein Grup­pen­füh­rer – ein Quä­ker wie sie selbst –, der Sol­da­ten wie ih­nen den Be­fehl er­teil­te, Ge­fan­ge­ne zu er­mor­den. Das war der Tod.

„Ru­fen Sie einen Of­fi­zier“, sag­te ich. „Mein Pas­sier­schein er­laubt mir die Wei­ter­fahrt.“

„Ich be­dau­re, Sir“, ant­wor­te­te der­je­ni­ge, der zu mir ge­spro­chen hat­te, „aber wir kön­nen un­se­ren Pos­ten nicht ver­las­sen, um einen Of­fi­zier zu ho­len. Doch es kommt bald oh­ne­hin ei­ner hier­her.“

Ich hat­te so ei­ne Ah­nung, was „bald“ be­deu­te­te, und ich lag rich­tig da­mit. Es wur­de Mit­tag, be­vor ein Trup­pen­füh­rer kam, die Sol­da­ten Es­sen fas­sen ließ und mir die Wei­ter­fahrt ge­stat­te­te.

Als ich Ken­sie Grae­mes Haupt­quar­tier er­reich­te, stand die Son­ne schon tief und über­zog den Bo­den mit den lan­gen Schat­ten von Bäu­men. Und doch war es, als er­wa­che das La­ger ge­ra­de erst.

Man muß­te kein Mi­li­tär­fach­mann sein, um zu er­ken­nen, daß die Exo­ten nun end­lich ge­gen Ja­me­thon ins Feld zo­gen.

Ich traf Ja­nol Ma­rat, den Kom­man­deur von Neu­er­de.

„Ich muß Trup­pen-Kom­man­deur Grae­me spre­chen“, sag­te ich.

Wir kann­ten uns in­zwi­schen recht gut, doch er schüt­tel­te nur den Kopf.

„Das ist jetzt nicht mög­lich, Tam. Es tut mir leid.“

„Ja­nol“, sag­te ich, „dies­mal geht es nicht um ein In­ter­view. Es ist ei­ne Sa­che von Le­ben und Tod. Im Ernst. Ich muß Ken­sie spre­chen.“

Er starr­te mich an. Ich starr­te zu­rück.

„War­ten Sie hier“, sag­te er. Wir stan­den be­reits im Bü­ro des Haupt­quar­tiers. Doch er ging wie­der hin­aus und ließ mich für et­wa fünf Mi­nu­ten al­lein. Ich stand da und lausch­te dem Ti­cken der Wand­uhr. Dann kam er zu­rück.

„Hier ent­lang“, sag­te er.

Zwi­schen den ge­wölb­ten Bla­sen der Plas­tik-Bau­wer­ke hin­durch führ­te er mich zum rück­wär­ti­gen Be­reich des La­gers, zu ei­nem klei­nen Ge­bäu­de, das zwi­schen ei­ni­gen Bäu­men halb ver­bor­gen war. Als wir durch den Vor­der­ein­gang tra­ten, be­merk­te ich, daß es Ken­sies per­sön­li­che Un­ter­kunft war. Durch ein klei­nes Wohn­zim­mer schrit­ten wir in einen Raum, bei dem es sich um ei­ne Kom­bi­na­ti­on aus Schlaf­zim­mer und Bad han­del­te. Ken­sie war ge­ra­de aus der Dusch­ka­bi­ne her­aus­ge­kom­men und zog sich nun einen Kampf­an­zug an. Er sah mich neu­gie­rig an und wand­te sei­nen Blick dann zu Ja­nol.

„In Ord­nung, Kom­man­deur“, sag­te er. „Sie kön­nen jetzt wie­der zu Ih­ren Pflich­ten zu­rück­keh­ren.“

„Ja­wohl, Sir“, ant­wor­te­te Ja­nol, oh­ne mich da­bei an­zu­se­hen.

Er sa­lu­tier­te und ging hin­aus.

„Al­so gut, Tam“, mein­te Ken­sie und zog sich die Uni­form­ho­se an. „Um was geht’s?“

„Ich weiß, daß Sie be­reit sind, ins Feld zu zie­hen“, sag­te ich.

Er sah mich ein we­nig amü­siert an, wäh­rend er sei­nen Ho­sen­bund schloß. Er hat­te sein Hemd noch nicht an­ge­zo­gen, und in dem re­la­tiv klei­nen Zim­mer rag­te er wie ein Rie­se auf, wie ei­ne Art über­wäl­ti­gen­de Na­tur­ge­walt. Sein Kör­per war so ge­bräunt wie dunkles Holz, und die Mus­keln bil­de­ten deut­lich sicht­ba­re Strän­ge auf sei­ner Brust und den Schul­tern. Sein Bauch war flach, und die Seh­nen und Bän­der sei­ner Ar­me tra­ten deut­lich her­vor und ver­schwan­den wie­der, wenn er sie be­weg­te. Er­neut spür­te ich die­ses be­son­de­re und au­ßer­ge­wöhn­li­che Ele­ment des Dor­sai in ihm. Es war nicht nur sei­ne phy­si­sche Grö­ße und Stär­ke. Es war nicht ein­mal die Tat­sa­che, daß er ein Mann war, der von Ge­burt an für den Krieg aus­ge­bil­det und für den Kampf selbst ge­bo­ren war. Nein, es war et­was Vi­ta­les und doch Un­greif­ba­res – die glei­che Be­son­der­heit der An­ders­ar­tig­keit, auf die man auch bei den ge­bo­re­nen Exo­ten wie Pad­ma dem Au­ßen­bür­gen sto­ßen konn­te. Oder bei ei­ni­gen For­schern von New­ton oder Cas­si­da. Et­was, das weit über und jen­seits des ge­wöhn­li­chen Men­schen lag; et­was, das die­sen Mann wie einen Fels er­schei­nen und ihn – wenn es um sei­ne Be­rufs­s­par­te ging – ei­ne so voll­stän­di­ge und al­les an­de­re ver­drän­gen­de Über­le­gen­heit aus­strah­len ließ, daß er jen­seits je­der Schwä­che war, un­an­greif­bar, un­be­sieg­bar.

Vor mei­nen in­ne­ren Au­gen sah ich den schlan­ken und dunklen Schat­ten Ja­me­thons, der ei­nem sol­chen Mann wie die­sem ge­gen­über­stand. Und die Mög­lich­keit ei­nes Sie­ges von Ja­me­thon war un­denk­bar, voll­kom­men aus­ge­schlos­sen.

Aber Ge­fah­ren und Ri­si­ken gab es im­mer.

„Al­so gut, ich wer­de Ih­nen er­zäh­len, auf was ich ge­sto­ßen bin“, sag­te ich zu Ken­sie. „Ich ha­be ge­ra­de her­aus­ge­fun­den, daß Black in Kon­takt steht mit der Blau­en Front, ei­ner hie­si­gen po­li­ti­schen und ter­ro­ris­ti­schen Grup­pie­rung, die ih­re Zen­tra­le in Blau­vain hat. Drei von ih­nen be­such­ten ihn letz­te Nacht. Ich ha­be sie ge­se­hen.“

Ken­sie griff nach sei­nem Hemd und schob einen lan­gen Arm in den einen Är­mel.

„Ich weiß“, sag­te er.

Ich starr­te ihn an.

„Be­grei­fen Sie nicht?“ sag­te ich. „Es sind Mör­der. Das ist das Ka­pi­tal, auf des­sen Zin­sen sie hof­fen. Und der ein­zi­ge Mann, den bei­de aus dem Weg räu­men wol­len – so­wohl Ja­me­thon als auch die Blaue Front –, sind Sie.“

Er schob den an­de­ren Arm in den zwei­ten Är­mel.

„Ich weiß dar­über Be­scheid“, sag­te er. „Sie wol­len die ge­gen­wär­ti­ge Re­gie­rung hier auf San­ta Ma­ria stür­zen und sich selbst an die Macht brin­gen – und das ist un­mög­lich, so­lan­ge uns die Exo­ten da­für be­zah­len, hier den Frie­den zu er­hal­ten.“

„Bis­her hat­ten sie nicht Ja­me­thons Un­ter­stüt­zung.“

„Ha­ben sie sie jetzt?“ frag­te er und knöpf­te das Hemd mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger zu.

„Die Quä­ker sind ver­zwei­felt“, sag­te ich. „Ja­me­thon weiß, daß er kaum ei­ne Chan­ce hat, ih­rer Of­fen­si­ve stand­zu­hal­ten – selbst wenn mor­gen Ver­stär­kung für ihn ein­trä­fe. Mör­der wer­den zwar von den Kriegs­kon­ven­tio­nen und dem Söld­ner­ko­dex ge­äch­tet, aber Sie und ich ken­nen die Quä­ker.“

Ken­sie sah mich mit ei­nem ei­gen­ar­ti­gen Blick an und griff nach sei­ner Ja­cke.

„Tat­säch­lich?“ frag­te er.

Ich wich sei­nem Blick nicht aus. „Et­wa nicht?“

„Tam.“ Er zog die Ja­cke an und schloß sie. „Ich ken­ne die Män­ner, ge­gen die ich kämp­fen muß. Es ge­hört zu mei­nem Ge­schäft, sie zu ken­nen. Aber wie kom­men Sie auf den Ge­dan­ken, das sei auch bei Ih­nen der Fall?“

„Es ge­hört auch zu mei­nem Ge­schäft“, er­wi­der­te ich. „Viel­leicht ha­ben Sie das ver­ges­sen. Ich bin Be­richt­er­stat­ter. Men­schen ge­hö­ren zu mei­nem Be­ruf, jetzt und für im­mer.“

„Aber Sie mö­gen die Quä­ker nicht.“

„Soll­te ich das?“ frag­te ich. „Ich bin auf al­len Wel­ten ge­we­sen. Ich ha­be den ce­ta­ni­schen In­dus­tri­el­len ge­se­hen: Er denkt nur an sei­nen Pro­fit, aber er ist ein Mensch. Ich ha­be die New­to­ni­er und Ve­nu­sier ge­se­hen; sie schwe­ben mit ih­ren Ge­dan­ken weit über den Wol­ken, aber wenn man ih­nen kräf­tig ge­nug auf die Fü­ße tritt, kann man sie in die Wirk­lich­keit zu­rück­brin­gen. Ich ha­be Exo­ten wie Pad­ma bei ih­ren men­ta­len Ta­schen­spie­ler­tricks ge­se­hen und den Frei­lan­der, der bis zu den Oh­ren in sei­ner ei­ge­nen Bü­ro­kra­tie steckt. Ich ha­be die Men­schen mei­ner ei­ge­nen Hei­mat­welt Al­t­er­de ge­se­hen und auch die von Co­by, selbst die von Dor­sai wie Sie. Und ich sa­ge Ih­nen: Sie al­le ha­ben einen Punkt ge­mein­sam – un­ter all den ver­schie­de­nen Scha­len sind es doch al­les Men­schen. Je­der ein­zel­ne von ih­nen ist ein Mensch – sie ha­ben sich nur auf ei­ne be­stimm­te, nutz­brin­gen­de Wei­se spe­zia­li­siert.“

„Und die Quä­ker nicht?“

„Fa­na­tis­mus“, sag­te ich. „Ist das nutz­brin­gend? Es ist ge­nau das Ge­gen­teil. Was ist gut, was ist auch nur ver­ständ­lich und ent­schuld­bar an ei­nem blin­den, ein­sei­ti­gen und al­les an­de­re ver­dam­men­dem Glau­ben, der nicht zu­läßt, daß ein Mensch nach­denkt und sei­ne ei­ge­nen Schlüs­se zieht?“

„Wo­her wol­len Sie wis­sen, daß sie kei­ne ei­ge­nen Schlüs­se zie­hen?“ frag­te Ken­sie. Er stand mir nun di­rekt ge­gen­über und sah mich an.

„Ei­ni­ge von ih­nen ma­chen das viel­leicht“, gab ich zu­rück. „Die Jun­gen un­ter ih­nen viel­leicht, be­vor auch bei ih­nen das Gift zu wir­ken be­ginnt. Wel­chen Nut­zen hat das Wei­ter­be­ste­hen die­ser Kul­tur?“

Plötz­lich herrsch­te Stil­le im Zim­mer.

„Wo­von spre­chen Sie über­haupt?“ frag­te Ken­sie.

„Ich mei­ne, Sie soll­ten sich um die Mör­der küm­mern“, sag­te ich. „Und nicht um die Trup­pen der Quä­ker. Be­wei­sen Sie, daß Ja­me­thon Black die Kriegs­kon­ven­tio­nen ge­bro­chen hat, in­dem er mit der Blau­en Front ei­ne Über­ein­kunft zu Ih­rer Er­mor­dung traf. Da­durch kön­nen Sie San­ta Ma­ria für die Exo­ten ge­win­nen, oh­ne einen ein­zi­gen Schuß ab­zu­ge­ben.“

„Und wie soll­te ich das be­werk­stel­li­gen?“

„Be­nut­zen Sie mich da­zu“, sag­te ich. „Ich ha­be einen Draht zu der po­li­ti­schen Grup­pe, der die Mör­der an­ge­hö­ren. Las­sen Sie mich als Ih­ren Be­auf­trag­ten zu ih­nen ge­hen und ih­nen ein bes­se­res An­ge­bot als Ja­me­thon un­ter­brei­ten. Sie kön­nen ih­nen die An­er­ken­nung durch die jet­zi­ge Re­gie­rung in Aus­sicht stel­len. Pad­ma und die Mit­glie­der der ge­gen­wär­ti­gen Re­gie­rung von San­ta Ma­ria müß­ten Ih­ren Vor­schlag auf­grei­fen, wenn Sie den Pla­ne­ten auf so ein­fa­che Wei­se von den Quä­kern säu­bern.“

Er sah mich voll­kom­men aus­drucks­los an.

„Und was soll­te mir das ein­brin­gen?“ frag­te er.

„Zeu­gen, die schwö­ren, sie sei­en da­für be­zahlt wor­den, Sie zu er­mor­den. Sie könn­ten so vie­le Zeu­gen ha­ben, wie Sie wol­len.“

„Kein In­ter­pla­ne­ta­res Un­ter­su­chungs­ge­richt wür­de der Aus­sa­ge von sol­chen Leu­ten glau­ben“, sag­te Ken­sie.

„Oh“, sag­te ich und muß­te un­will­kür­lich lä­cheln. „Aber man wür­de mir als Re­prä­sen­tan­ten der Nach­rich­ten­diens­te glau­ben, wenn ich je­des ein­zel­ne Wort ei­ner sol­chen Aus­sa­ge be­stä­tig­te.“

Er­neut herrsch­te Stil­le. Sein Ge­sicht war noch im­mer völ­lig aus­drucks­los.

„Ich ver­ste­he“, sag­te er dann.

Er schritt an mir vor­bei ins Wohn­zim­mer. Ich folg­te ihm. Er trat ans Vi­si­fon, be­tä­tig­te ei­ne Tas­te und sprach zu ei­nem dun­kel blei­ben­den Bild­schirm.

„Ja­nol“, sag­te er.

Er wand­te sich vom Schirm ab, durch­quer­te den Raum, öff­ne­te einen Schrank und be­gann, sei­ne Waf­fen­gur­te an­zu­le­gen. Sei­ne Be­we­gun­gen drück­ten Ent­schlos­sen­heit aus. Er sprach mich we­der an, noch blick­te er in mei­ne Rich­tung. Nach ei­ni­gen lan­gen Mi­nu­ten glitt die Ein­gangs­tür des Ge­bäu­des bei­sei­te, und Ja­nol kam her­ein.

„Sir?“ frag­te der Frei­lan­der-Of­fi­zier.

„Mr. Olyn bleibt bis auf wei­te­ren Be­fehl hier.“

„Ja­wohl, Sir“, sag­te Ja­nol.

Grae­me ging hin­aus.

Ich stand wie er­starrt und blick­te auf die Tür, durch die er hin­aus­ge­gan­gen war. Ich konn­te es nicht fas­sen, daß er die Kon­ven­tio­nen so­gar so grob ver­letz­te, in­dem er sich nicht nur über mei­nen Sta­tus hin­weg­setz­te, son­dern mich prak­tisch gar un­ter Ar­rest stell­te, da­mit ich mich nicht wei­ter in das ein­mi­schen konn­te, was nun ge­sch­ah.

Ich dreh­te mich zu Ja­nol um. Er sah mich mit ei­ner Art schie­fem Mit­ge­fühl in sei­nem lan­gen, brau­nen Ge­sicht an.

„Ist der Au­ßen­bür­ger hier im La­ger?“ frag­te ich ihn.

„Nein.“ Er trat an mich her­an. „Er ist zur exo­ti­schen Bot­schaft in Blau­vain zu­rück­ge­kehrt. Und jetzt sei­en Sie brav und setz­ten Sie sich. Se­hen Sie, wir kön­nen die nächs­ten Stun­den auch ganz an­ge­nehm ver­brin­gen.“

Wir stan­den uns von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über. Ich schlug ihm in die Ma­gen­gru­be.

Als ich noch Stu­dent am Col­le­ge ge­we­sen bin, ha­be ich ein we­nig ge­boxt. Ich er­wäh­ne dies nicht, um mich als ei­ne Art Mus­kel­mann dar­zu­stel­len, son­dern um zu er­klä­ren, warum ich ver­nünf­tig ge­nug war, es nicht mit sei­nem Kinn zu ver­su­chen. Grae­me hät­te den K. O.-Punkt wahr­schein­lich selbst mit ge­schlos­se­nen Au­gen ge­fun­den, aber ich bin kein Dor­sai. Der Be­reich un­ter dem Brust­bein ei­nes Man­nes ist re­la­tiv groß, weich und leicht zu tref­fen, und er bie­tet sich für Ama­teu­re ge­ra­de­zu an. Au­ßer­dem ver­stand ich et­was da­von, wie man zu­schla­gen muß­te.

Doch Ja­nol ver­lor nicht das Be­wußt­sein. Er sank zu Bo­den und blieb dort zu­sam­men­ge­krümmt lie­gen, die Au­gen nach wie vor of­fen. Aber er war nicht in der La­ge, so­fort wie­der auf­zu­ste­hen. Ich wand­te mich von ihm ab und ver­ließ das Ge­bäu­de rasch.

Im La­ger herrsch­te re­ge Ak­ti­vi­tät. Nie­mand hielt mich auf. Ich stieg wie­der in mei­nen Wa­gen, und fünf Mi­nu­ten spä­ter war ich aus dem La­ger her­aus und auf der Stra­ße nach Blau­vain.