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Ich ging an Bord des ers­ten Schif­fes, das zur Er­de flog. Ich be­saß nun Prio­ri­tät vor al­len an­de­ren – bis auf Pas­sa­gie­re mit di­plo­ma­ti­schem Sta­tus. Ich mach­te Ge­brauch von ihr, ver­dräng­te je­man­den mit ei­ner frü­he­ren Re­ser­vie­rung und fand mich er­neut al­lein in ei­nem Ers­te-Klas­se-Ab­teil wie­der – und das Raum­schiff, in dem ich mich be­fand, ging in die Pha­sen­ver­schie­bung, fiel wie­der in den Nor­mal­raum zu­rück, um sei­ne neue Po­si­ti­on zwi­schen den Ster­nen zu über­prü­fen, und sprang er­neut.

Je­ne iso­lier­te Ka­bi­ne war wie ein Asyl für mich, ei­ne Ere­mi­ten­höh­le, ein Ver­pup­pungs­ko­kon, in dem ich mich ein­schlie­ßen und neue Ge­stalt an­neh­men konn­te, be­vor ich in ei­ner an­de­ren Di­men­si­on er­neut in die Welt der Men­schen hin­austrat. Denn ich war nackt bis auf die Grund­fes­te mei­nes ele­men­tars­ten Ichs, und ich ent­deck­te nicht ei­ne ein­zi­ge Selbst­täu­schung, die üb­rig­ge­blie­ben war, um da­mit mei­ne Blö­ße zu be­de­cken.

Na­tür­lich hat­te Ma­thi­as schon früh­zei­tig den größ­ten Teil des Flei­sches aus Selbst­täu­schun­gen von mei­nen Kno­chen ge­schält. Aber hier und dort kleb­te noch ein Fet­zen – wie die trü­ben Er­in­ne­run­gen an die vom Re­gen aus­ge­wa­sche­nen Rui­nen des Par­the­non*, die ich als Jun­ge üb­li­cher­wei­se auf den Bild­schir­men be­trach­tet hat­te, wenn mir Ma­thi­as’ furcht­ba­re Dia­lek­tik einen wei­te­ren Ner­ven­strang oder Seh­ne fort­ge­ris­sen hat­te. Nur al­lein durch sei­ne Exis­tenz dort über dem dunklen, fens­ter­lo­sen Haus, war das Par­the­non{1} für mei­nen jun­gen Ver­stand wie ei­ne Wi­der­le­gung al­ler Ar­gu­men­te von Ma­thi­as ge­we­sen.

Einst hat­te es ein Ab­bild von Er­ha­ben­heit dar­ge­stellt – und des­halb muß­te er sich ir­ren, wie ich mich selbst zu trös­ten ver­such­te. Es war ein Bei­spiel für Grö­ße ge­we­sen, als es exis­tiert hat­te, und wenn die Men­schen der Er­de tat­säch­lich nicht mehr wert wa­ren als Ma­thi­as be­haup­te­te, hät­te die­ser Tem­pel nie ge­baut wer­den kön­nen. Aber das Par­the­non war ge­we­sen – und das war es, was ich nun be­griff. Denn letzt­end­lich wa­ren nur Rui­nen üb­rig­ge­blie­ben, und der düs­te­re De­fä­tis­mus von Ma­thi­as hat­te über­dau­ert. Nun end­lich kam ich der Sa­che auf den Grund – ich war ein Teil von Ma­thi­as Denk­ge­bäu­de. Und im Ge­gen­satz zu je­nen ver­än­der­ten und er­wach­se­ne­ren Kin­dern der jün­ge­ren Pla­ne­ten wa­ren die Träu­me von Ruhm und Ge­rech­tig­keit für die, die auf der Er­de ge­bo­ren wa­ren, ir­gend­wie und ir­gend­wann zu Rui­nen ge­wor­den – wie das Par­the­non, zer­fal­len mit an­de­ren kind­li­chen Il­lu­sio­nen, zer­fal­len und im Re­gen ver­ges­sen.

Was hat­te Li­sa noch ge­sagt? Wenn ich sie da­mals ver­stan­den hät­te, so dach­te ich nun, dann hät­te ich die­sen Au­gen­blick vor­aus­se­hen und mir die Pein er­spa­ren kön­nen zu hof­fen, Ei­leen kön­ne mir den Tod Da­ves ver­zie­hen ha­ben. Li­sa hat­te zwei Tü­ren er­wähnt – daß es nur noch zwei Tü­ren gä­be, durch die man Zu­gang zu mir ha­be, und daß sie die ei­ne da­von war. Jetzt be­griff ich, was die­se Tü­ren wa­ren. Es wa­ren Ein­gän­ge zu mei­nem Ich, durch die Lie­be mein In­ners­tes er­rei­chen konn­te.

Lie­be – die töd­li­che Krank­heit, die Män­nern die Kraft raubt. Nicht ein­fach kör­per­li­che Lie­be, son­dern die­ses zu Schwä­che füh­ren­de Ver­lan­gen nach Zu­nei­gung, nach Schön­heit, nach Hoff­nung auf Wun­der, die ge­sche­hen könn­ten. Nun er­in­ner­te ich mich, daß es ei­ne Sa­che gab, zu der ich nie in der La­ge ge­we­sen war. Ich war nie fä­hig ge­we­sen, Ma­thi­as zu ver­let­zen, ihm Schan­de zu be­rei­ten, ihm auch nur Schwie­rig­kei­ten zu ma­chen. Und wes­halb nicht? Weil er so kränk­lich war wie je­der ste­ri­li­sier­te Kör­per. Er lieb­te nicht nur nie­man­den, son­dern nichts. Und in­dem er auf die­se Wei­se den gan­zen Kos­mos ver­schenkt hat­te, hat­te er ihn als Ge­schenk zu­rück­er­hal­ten, denn das Uni­ver­sum be­steht eben­falls aus dem Nichts. Und so ruh­te er in die­ser per­fek­ten Sym­me­trie, in der das Nichts mit dem Nichts ver­schach­telt war, wie ein Fels, glück­lich und zu­frie­den.

Als mir das be­wußt wur­de, stell­te ich plötz­lich fest, daß ich mich wie­der be­trin­ken konn­te. Auf dem Weg hier­her war ich auf­grund mei­nes Schuld­be­wußt­seins und der Hoff­nung da­zu nicht in der La­ge ge­we­sen. Und auch des­halb nicht, weil die Fet­zen aus be­stech­li­chem und lie­bes­emp­fäng­li­chem Fleisch noch im­mer an mir haf­te­ten, an dem nack­ten Ske­lett von Ma­thi­as’ Phi­lo­so­phie in mei­nem In­nern. Doch nun …

Ich lach­te laut auf in dem lee­ren Ab­teil. Denn auf dem Weg nach Cas­si­da, als ich die Be­täu­bung des Al­ko­hols so drin­gend be­nö­tigt hat­te, war ich nicht fä­hig ge­we­sen, sie zu be­nut­zen. Und nun, da ich sie gar nicht mehr brauch­te, hät­te ich in ihr schwim­men kön­nen, wenn ich woll­te.

Selbst­ver­ständ­lich hat­te ich die Pflicht, für das An­se­hen mei­nes be­ruf­li­chen Stan­des Sor­ge zu tra­gen, und durf­te mich nicht in al­ler Öf­fent­lich­keit ge­hen las­sen. Doch es gab kei­nen Grund, der mich da­von zu­rück­hal­ten konn­te, mich hier in mei­nem Ab­teil ganz pri­vat vol­lau­fen zu las­sen, wenn ich den Wunsch da­nach ver­spür­te. Im Ge­gen­teil: Es gab so­gar al­len Grund, mich ge­ra­de jetzt zu be­trin­ken. Denn dies war ei­ne Ge­le­gen­heit zum Fei­ern: die Stun­de mei­ner Be­frei­ung von der Schwä­che, an der Kör­per und Geist al­ler nor­ma­len Men­schen zeit­le­bens lei­den.

Ich be­stell­te ei­ne Fla­sche samt Glas und Eis. Und im Spie­gel mei­ner Ka­bi­ne pros­te­te ich mir selbst zu, vom So­fa aus, mit der Fla­sche im Arm.

Slain­te, Tam Olyn back – auf dich, Tam Olyn, Sin­gle!“ rief ich mir zu, denn ich hat­te Scotch be­stellt, und in die­sem Au­gen­blick schäum­ten bild­haft ge­se­hen al­le schot­ti­schen und iri­schen Vor­fah­ren durch mei­ne Adern. Ich nahm einen or­dent­li­chen Schluck.

Der gu­te Whis­ky brann­te in mei­nem In­nern, und sein an­ge­nehm wär­me­n­des Feu­er brei­te­te sich durch mei­nen gan­zen Kör­per aus. Und nach ei­ner Wei­le, wäh­rend ich im­mer wei­ter trank, wi­chen die en­gen Wän­de mei­nes Ab­teils bis auf ei­ne ge­wis­se Ent­fer­nung zu­rück, und ich konn­te mich wie­der klar er­in­nern, wie ich un­ter Pad­mas hyp­no­ti­schem Ein­fluß auf dem Blitz ge­rit­ten war, an je­nem Tag in der En­zy­klo­pä­die.

Er­neut spür­te ich die Macht und die Wild­heit, die da­mals über mich ge­kom­men wa­ren, und zum ers­ten­mal wur­de mir be­wußt, wie es jetzt um mich stand, da mich kei­ne mensch­li­che Schwä­che mehr be­hin­der­te, die den Ge­brauch die­ses Blit­zes hät­te be­schrän­ken kön­nen. Zum ers­ten­mal sah ich Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten für ihn und die Macht des Zer­stö­rern. Mög­lich­kei­ten, ne­ben de­nen sich das, was Ma­thi­as ge­tan – oder auch, was ich bis­her al­les zu­stan­de ge­bracht hat­te – wie Kin­de­rei­en aus­mach­te.

Ich trank und träum­te von Din­gen, die mög­lich wa­ren. Und nach ei­ner Wei­le schlief ich ein oder schal­te­te ein­fach ab, was auch im­mer. Und ich träum­te ei­ne sym­bo­li­sche Vi­si­on.

Es war ein Traum, der sich oh­ne spür­ba­ren Über­gang an den Zu­stand des wa­chen Be­wußt­seins an­schloß. Plötz­lich war ich drü­ben … und drü­ben, das war ir­gend­wo am Hang ei­nes stei­ni­gen Hü­gels, zwi­schen den Ber­gen im Os­ten und dem Meer im Wes­ten, in ei­nem klei­nen Haus aus Stein, des­sen Fu­gen und Rit­zen mit Torf und Lehm ab­ge­dich­tet wa­ren. Ein klei­nes Haus mit nur ei­nem Raum, oh­ne Ka­min, aber mit ei­nem pri­mi­ti­ven Herd, an des­sen Sei­ten Mau­ern hoch­ge­zo­gen wa­ren und zu ei­ner Öff­nung im Dach führ­ten, durch die der Rauch ab­zie­hen konn­te. An der Wand ne­ben dem Herd, auf zwei höl­zer­nen Dü­beln, die in Fu­gen zwi­schen den Stei­nen hin­ein­ge­trie­ben wa­ren, hing mein ein­zi­ger, wert­vol­ler Be­sitz.

Es war die Fa­mi­li­en­waf­fe, ein wah­rer und ech­ter Zweihän­der{2}, das Claid­he­amh mōr, das „große Schwert“. Es war ge­ra­de und zwei­schnei­dig, über vier Fuß lang, und die brei­te Klin­ge ver­jüng­te sich nicht an der Spit­ze. Das Heft hat­te nur ei­ne ein­fa­che Griff-Stan­ge, de­ren Bü­gel nach un­ten ge­neigt wa­ren. Es war ein ech­tes, zweihän­di­ges Breit­schwert, und da es kein Fut­te­ral da­für gab, lag es sorg­fäl­tig in ein ein­ge­fet­te­tes Tuch gehüllt auf den Dü­beln.

Doch zur Zeit mei­nes Traums hat­te ich es her­un­ter­ge­nom­men und aus­ge­wi­ckelt, denn da war ein Mann, den ich in drei Ta­gen tref­fen wür­de, et­wa einen hal­b­en Ta­ges­marsch ent­fernt. Zwei Ta­ge lang war der Him­mel klar, und die Son­ne glänz­te hell, aber kalt. Ich ging zum Strand hin­un­ter und schärf­te bei­de Schnei­den des lan­gen Schwer­tes mit ei­nem grau­en Stein, den ich im Sand ent­deck­te und der von den Wel­len des Mee­res ge­glät­tet war. Am Mor­gen des drit­ten Ta­ges war es be­deckt, und mit dem Mor­gen­grau­en be­gann es zu nie­seln. So wi­ckel­te ich das Schwert in einen Teil des vier­e­ckig ge­mus­ter­ten, wol­le­nen Über­wurfs, in den ich mich gehüllt hat­te, und mach­te mich auf den Weg, um mei­ne Ver­ab­re­dung wahr­zu­neh­men.

Der Re­gen weh­te mir kalt und naß ins Ge­sicht, und die Böen wa­ren ei­sig, aber un­ter der di­cken, fast fet­ti­gen Wol­le des Über­wurfs blie­ben mein Schwert und ich tro­cken, und ei­ne hef­ti­ge, un­bän­di­ge Vor­freu­de stieg in mir em­por – ein wun­der­ba­res Ge­fühl, herr­li­cher als al­les, was ich bis zu die­sem Zeit­punkt je­mals emp­fun­den hat­te. Ich ge­noß es, so wie ein Wolf das hei­ße Blut in sei­nem Maul ge­nie­ßen muß­te, und es gab nichts, das sich da­mit ver­glei­chen ließ – denn end­lich rück­te die Stun­de mei­ner Ra­che nä­her.

Und dann er­wach­te ich. Ich stell­te fest, daß die Fla­sche bei­nah leer war, und ich spür­te die Schwe­re und Träg­heit ei­nes Rauschs. Aber das Glücks­ge­fühl mei­nes Traums war noch im­mer in mir. So dreh­te ich mich auf dem So­fa um und schlief wie­der ein.

Dies­mal träum­te ich nicht.

Als ich er­wach­te, hat­te ich nicht die Spur ei­nes Ka­ters. Mein Kopf war kühl und klar und frei. Ich konn­te mich er­in­nern, als hät­te ich es erst ge­ra­de eben ge­träumt: an die un­ge­stü­me Freu­de, die ich emp­fun­den hat­te, als ich mit dem Schwert in der Hand zu mei­nem Tref­fen im Re­gen un­ter­wegs ge­we­sen war. Und plötz­lich sah ich mei­nen Weg ganz deut­lich vor mir.

Ich hat­te die bei­den To­re ver­rie­gelt, durch die man noch Zu­gang zu mei­nem Ich ge­habt hat­te – das be­deu­te­te, ich hat­te mich der Lie­be ge­gen­über im­mun ge­macht. Und um die Lee­re wie­der aus­zu­fül­len, hat­te ich die­ses sü­ße und herr­li­che Ent­zücken der Ra­che ent­deckt. Bei­nah hät­te ich laut auf­ge­lacht, als ich dar­über nach­dach­te, denn ich er­in­ner­te mich an das, was mir der Grup­pen­füh­rer der Quä­ker ge­sagt hat­te, be­vor er mich mit den von ihm nie­der­ge­met­zel­ten To­ten al­lein ließ.

„Das Schick­sal, dem ich die­se Män­ner un­ter­wor­fen ha­be, kann we­der von dir noch von ir­gend­ei­nem an­de­ren Men­schen rück­gän­gig ge­macht wer­den.“

Oh, wie recht er hat­te. Die­se ganz be­stimm­te Tat, die er voll­bracht hat­te, konn­te ich nicht un­ge­sche­hen ma­chen. Doch ich hat­te die Macht und die Fä­hig­keit, et­was weit Wich­ti­ge­res als das aus­zu­radie­ren – und ich war der ein­zi­ge Mensch un­ter den Be­völ­ke­run­gen der vier­zehn Pla­ne­ten, der da­zu in der La­ge war. Ich konn­te das In­stru­men­ta­ri­um ver­nich­ten, das sol­che Ta­ten her­vor­brach­te. Ich war ein Rei­ter und Meis­ter des Blit­zes. Und mit ihm konn­te ich so­wohl die Kul­tur als auch die Men­schen bei­der Quä­ker­wel­ten zu­sam­men aus­lö­schen. Ich sah be­reits Licht­schim­mer der Me­tho­de, mit der ich das be­werk­stel­li­gen konn­te.

Als das Raum­schiff die Er­de er­reich­te, wa­ren die grund­le­gen­den Kon­tu­ren mei­nes Plans im we­sent­li­chen aus­ge­ar­bei­tet.