16
Ich ging an Bord des ersten Schiffes, das zur Erde flog. Ich besaß nun Priorität vor allen anderen – bis auf Passagiere mit diplomatischem Status. Ich machte Gebrauch von ihr, verdrängte jemanden mit einer früheren Reservierung und fand mich erneut allein in einem Erste-Klasse-Abteil wieder – und das Raumschiff, in dem ich mich befand, ging in die Phasenverschiebung, fiel wieder in den Normalraum zurück, um seine neue Position zwischen den Sternen zu überprüfen, und sprang erneut.
Jene isolierte Kabine war wie ein Asyl für mich, eine Eremitenhöhle, ein Verpuppungskokon, in dem ich mich einschließen und neue Gestalt annehmen konnte, bevor ich in einer anderen Dimension erneut in die Welt der Menschen hinaustrat. Denn ich war nackt bis auf die Grundfeste meines elementarsten Ichs, und ich entdeckte nicht eine einzige Selbsttäuschung, die übriggeblieben war, um damit meine Blöße zu bedecken.
Natürlich hatte Mathias schon frühzeitig den größten Teil des Fleisches aus Selbsttäuschungen von meinen Knochen geschält. Aber hier und dort klebte noch ein Fetzen – wie die trüben Erinnerungen an die vom Regen ausgewaschenen Ruinen des Parthenon*, die ich als Junge üblicherweise auf den Bildschirmen betrachtet hatte, wenn mir Mathias’ furchtbare Dialektik einen weiteren Nervenstrang oder Sehne fortgerissen hatte. Nur allein durch seine Existenz dort über dem dunklen, fensterlosen Haus, war das Parthenon{1} für meinen jungen Verstand wie eine Widerlegung aller Argumente von Mathias gewesen.
Einst hatte es ein Abbild von Erhabenheit dargestellt – und deshalb mußte er sich irren, wie ich mich selbst zu trösten versuchte. Es war ein Beispiel für Größe gewesen, als es existiert hatte, und wenn die Menschen der Erde tatsächlich nicht mehr wert waren als Mathias behauptete, hätte dieser Tempel nie gebaut werden können. Aber das Parthenon war gewesen – und das war es, was ich nun begriff. Denn letztendlich waren nur Ruinen übriggeblieben, und der düstere Defätismus von Mathias hatte überdauert. Nun endlich kam ich der Sache auf den Grund – ich war ein Teil von Mathias Denkgebäude. Und im Gegensatz zu jenen veränderten und erwachseneren Kindern der jüngeren Planeten waren die Träume von Ruhm und Gerechtigkeit für die, die auf der Erde geboren waren, irgendwie und irgendwann zu Ruinen geworden – wie das Parthenon, zerfallen mit anderen kindlichen Illusionen, zerfallen und im Regen vergessen.
Was hatte Lisa noch gesagt? Wenn ich sie damals verstanden hätte, so dachte ich nun, dann hätte ich diesen Augenblick voraussehen und mir die Pein ersparen können zu hoffen, Eileen könne mir den Tod Daves verziehen haben. Lisa hatte zwei Türen erwähnt – daß es nur noch zwei Türen gäbe, durch die man Zugang zu mir habe, und daß sie die eine davon war. Jetzt begriff ich, was diese Türen waren. Es waren Eingänge zu meinem Ich, durch die Liebe mein Innerstes erreichen konnte.
Liebe – die tödliche Krankheit, die Männern die Kraft raubt. Nicht einfach körperliche Liebe, sondern dieses zu Schwäche führende Verlangen nach Zuneigung, nach Schönheit, nach Hoffnung auf Wunder, die geschehen könnten. Nun erinnerte ich mich, daß es eine Sache gab, zu der ich nie in der Lage gewesen war. Ich war nie fähig gewesen, Mathias zu verletzen, ihm Schande zu bereiten, ihm auch nur Schwierigkeiten zu machen. Und weshalb nicht? Weil er so kränklich war wie jeder sterilisierte Körper. Er liebte nicht nur niemanden, sondern nichts. Und indem er auf diese Weise den ganzen Kosmos verschenkt hatte, hatte er ihn als Geschenk zurückerhalten, denn das Universum besteht ebenfalls aus dem Nichts. Und so ruhte er in dieser perfekten Symmetrie, in der das Nichts mit dem Nichts verschachtelt war, wie ein Fels, glücklich und zufrieden.
Als mir das bewußt wurde, stellte ich plötzlich fest, daß ich mich wieder betrinken konnte. Auf dem Weg hierher war ich aufgrund meines Schuldbewußtseins und der Hoffnung dazu nicht in der Lage gewesen. Und auch deshalb nicht, weil die Fetzen aus bestechlichem und liebesempfänglichem Fleisch noch immer an mir hafteten, an dem nackten Skelett von Mathias’ Philosophie in meinem Innern. Doch nun …
Ich lachte laut auf in dem leeren Abteil. Denn auf dem Weg nach Cassida, als ich die Betäubung des Alkohols so dringend benötigt hatte, war ich nicht fähig gewesen, sie zu benutzen. Und nun, da ich sie gar nicht mehr brauchte, hätte ich in ihr schwimmen können, wenn ich wollte.
Selbstverständlich hatte ich die Pflicht, für das Ansehen meines beruflichen Standes Sorge zu tragen, und durfte mich nicht in aller Öffentlichkeit gehen lassen. Doch es gab keinen Grund, der mich davon zurückhalten konnte, mich hier in meinem Abteil ganz privat vollaufen zu lassen, wenn ich den Wunsch danach verspürte. Im Gegenteil: Es gab sogar allen Grund, mich gerade jetzt zu betrinken. Denn dies war eine Gelegenheit zum Feiern: die Stunde meiner Befreiung von der Schwäche, an der Körper und Geist aller normalen Menschen zeitlebens leiden.
Ich bestellte eine Flasche samt Glas und Eis. Und im Spiegel meiner Kabine prostete ich mir selbst zu, vom Sofa aus, mit der Flasche im Arm.
„Slainte, Tam Olyn back – auf dich, Tam Olyn, Single!“ rief ich mir zu, denn ich hatte Scotch bestellt, und in diesem Augenblick schäumten bildhaft gesehen alle schottischen und irischen Vorfahren durch meine Adern. Ich nahm einen ordentlichen Schluck.
Der gute Whisky brannte in meinem Innern, und sein angenehm wärmendes Feuer breitete sich durch meinen ganzen Körper aus. Und nach einer Weile, während ich immer weiter trank, wichen die engen Wände meines Abteils bis auf eine gewisse Entfernung zurück, und ich konnte mich wieder klar erinnern, wie ich unter Padmas hypnotischem Einfluß auf dem Blitz geritten war, an jenem Tag in der Enzyklopädie.
Erneut spürte ich die Macht und die Wildheit, die damals über mich gekommen waren, und zum erstenmal wurde mir bewußt, wie es jetzt um mich stand, da mich keine menschliche Schwäche mehr behinderte, die den Gebrauch dieses Blitzes hätte beschränken können. Zum erstenmal sah ich Verwendungsmöglichkeiten für ihn und die Macht des Zerstörern. Möglichkeiten, neben denen sich das, was Mathias getan – oder auch, was ich bisher alles zustande gebracht hatte – wie Kindereien ausmachte.
Ich trank und träumte von Dingen, die möglich waren. Und nach einer Weile schlief ich ein oder schaltete einfach ab, was auch immer. Und ich träumte eine symbolische Vision.
Es war ein Traum, der sich ohne spürbaren Übergang an den Zustand des wachen Bewußtseins anschloß. Plötzlich war ich drüben … und drüben, das war irgendwo am Hang eines steinigen Hügels, zwischen den Bergen im Osten und dem Meer im Westen, in einem kleinen Haus aus Stein, dessen Fugen und Ritzen mit Torf und Lehm abgedichtet waren. Ein kleines Haus mit nur einem Raum, ohne Kamin, aber mit einem primitiven Herd, an dessen Seiten Mauern hochgezogen waren und zu einer Öffnung im Dach führten, durch die der Rauch abziehen konnte. An der Wand neben dem Herd, auf zwei hölzernen Dübeln, die in Fugen zwischen den Steinen hineingetrieben waren, hing mein einziger, wertvoller Besitz.
Es war die Familienwaffe, ein wahrer und echter Zweihänder{2}, das Claidheamh mōr, das „große Schwert“. Es war gerade und zweischneidig, über vier Fuß lang, und die breite Klinge verjüngte sich nicht an der Spitze. Das Heft hatte nur eine einfache Griff-Stange, deren Bügel nach unten geneigt waren. Es war ein echtes, zweihändiges Breitschwert, und da es kein Futteral dafür gab, lag es sorgfältig in ein eingefettetes Tuch gehüllt auf den Dübeln.
Doch zur Zeit meines Traums hatte ich es heruntergenommen und ausgewickelt, denn da war ein Mann, den ich in drei Tagen treffen würde, etwa einen halben Tagesmarsch entfernt. Zwei Tage lang war der Himmel klar, und die Sonne glänzte hell, aber kalt. Ich ging zum Strand hinunter und schärfte beide Schneiden des langen Schwertes mit einem grauen Stein, den ich im Sand entdeckte und der von den Wellen des Meeres geglättet war. Am Morgen des dritten Tages war es bedeckt, und mit dem Morgengrauen begann es zu nieseln. So wickelte ich das Schwert in einen Teil des viereckig gemusterten, wollenen Überwurfs, in den ich mich gehüllt hatte, und machte mich auf den Weg, um meine Verabredung wahrzunehmen.
Der Regen wehte mir kalt und naß ins Gesicht, und die Böen waren eisig, aber unter der dicken, fast fettigen Wolle des Überwurfs blieben mein Schwert und ich trocken, und eine heftige, unbändige Vorfreude stieg in mir empor – ein wunderbares Gefühl, herrlicher als alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt jemals empfunden hatte. Ich genoß es, so wie ein Wolf das heiße Blut in seinem Maul genießen mußte, und es gab nichts, das sich damit vergleichen ließ – denn endlich rückte die Stunde meiner Rache näher.
Und dann erwachte ich. Ich stellte fest, daß die Flasche beinah leer war, und ich spürte die Schwere und Trägheit eines Rauschs. Aber das Glücksgefühl meines Traums war noch immer in mir. So drehte ich mich auf dem Sofa um und schlief wieder ein.
Diesmal träumte ich nicht.
Als ich erwachte, hatte ich nicht die Spur eines Katers. Mein Kopf war kühl und klar und frei. Ich konnte mich erinnern, als hätte ich es erst gerade eben geträumt: an die ungestüme Freude, die ich empfunden hatte, als ich mit dem Schwert in der Hand zu meinem Treffen im Regen unterwegs gewesen war. Und plötzlich sah ich meinen Weg ganz deutlich vor mir.
Ich hatte die beiden Tore verriegelt, durch die man noch Zugang zu meinem Ich gehabt hatte – das bedeutete, ich hatte mich der Liebe gegenüber immun gemacht. Und um die Leere wieder auszufüllen, hatte ich dieses süße und herrliche Entzücken der Rache entdeckt. Beinah hätte ich laut aufgelacht, als ich darüber nachdachte, denn ich erinnerte mich an das, was mir der Gruppenführer der Quäker gesagt hatte, bevor er mich mit den von ihm niedergemetzelten Toten allein ließ.
„Das Schicksal, dem ich diese Männer unterworfen habe, kann weder von dir noch von irgendeinem anderen Menschen rückgängig gemacht werden.“
Oh, wie recht er hatte. Diese ganz bestimmte Tat, die er vollbracht hatte, konnte ich nicht ungeschehen machen. Doch ich hatte die Macht und die Fähigkeit, etwas weit Wichtigeres als das auszuradieren – und ich war der einzige Mensch unter den Bevölkerungen der vierzehn Planeten, der dazu in der Lage war. Ich konnte das Instrumentarium vernichten, das solche Taten hervorbrachte. Ich war ein Reiter und Meister des Blitzes. Und mit ihm konnte ich sowohl die Kultur als auch die Menschen beider Quäkerwelten zusammen auslöschen. Ich sah bereits Lichtschimmer der Methode, mit der ich das bewerkstelligen konnte.
Als das Raumschiff die Erde erreichte, waren die grundlegenden Konturen meines Plans im wesentlichen ausgearbeitet.