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Ich wur­de kurz nach Son­nen­auf­gang ge­fun­den, nicht von den Streit­kräf­ten der Quä­ker, son­dern von cas­si­da­ni­schen Kom­man­doein­hei­ten. Ken­sie Grae­me hat­te sich im Süd­ab­schnitt sei­ner Kampf­front zu­rück­ge­zo­gen, be­vor der Strah­len­de sei­nen wohl­durch­dach­ten Plan hat­te aus­füh­ren kön­nen, an die­ser Stel­le einen An­griff durch­zu­füh­ren, die dor­ti­gen cas­si­da­ni­schen Ver­tei­di­gungs­li­ni­en auf­zu­rei­ben und die Res­te in den Stra­ßen von Haupt­burg zu ver­nich­ten. Ken­sie aber hat­te dies vor­aus­ge­se­hen und sei­ne Ein­hei­ten vom süd­li­chen Front­ab­schnitt ab­ge­zo­gen. Die so frei­ge­setz­ten Ar­til­le­rie- und In­fan­te­rie­ein­hei­ten hat­te er in ei­nem wei­ten Schwen­ker her­um­ge­führt und da­mit die Li­ni­en des Nordab­schnitts ver­stärkt, wo Da­ve und ich uns auf­ge­hal­ten hat­ten.

Das Er­geb­nis war, daß sich sei­ne Front nun um einen zen­tra­len Punkt ge­dreht hat­te, bei dem es sich ziem­lich ge­nau um die Fahr­be­reit­schaft han­del­te, wo ich ihm zum ers­ten­mal be­geg­net war. Am fol­gen­den Mor­gen rück­ten die nun ver­stärk­ten Trup­pen des Nordab­schnitts vor, schwenk­ten in süd­li­cher Rich­tung her­um, un­ter­bra­chen die Nach­schub­li­ni­en der Quä­ker und stie­ßen in den Rücken je­ner Quä­ker-Ein­hei­ten, die über­zeugt ge­we­sen wa­ren, den größ­ten Teil der cas­si­da­ni­schen Streit­kräf­te ein­ge­schlos­sen und in der Stadt auf­ge­rie­ben zu ha­ben.

Die Stadt Haupt­burg, die den Fels hat­te dar­stel­len sol­len, der die cas­si­da­ni­schen Trup­pen zer­malm­te, bil­de­te statt des­sen den Fels, der die Streit­kräf­te der Quä­ker selbst zer­schmet­ter­te. Die schwarz­ge­klei­de­ten Krie­ger kämpf­ten mit der ih­nen ei­ge­nen Wild­heit und zeig­ten ih­re un­be­küm­mer­te Tap­fer­keit selbst dann noch, als die Fal­le zu­schnapp­te. Doch jetzt wur­den sie von Ken­sies Schall­ka­no­nen im Wes­ten der Stadt und sei­nen aus­ge­ruh­ten, ih­nen in den Rücken fal­len­den Trup­pen in die Zan­ge ge­nom­men. Schließ­lich ka­pi­tu­lier­te das Ober­kom­man­do der Quä­ker, um nicht noch wei­te­re sei­ner wert­vol­len, zwei­bei­ni­gen Kampfein­hei­ten ein­zu­bü­ßen, die sei­ne Sol­da­ten wa­ren – und der Bür­ger­krieg zwi­schen der Nord- und Süd­par­zel­le von Neu­er­de war zu En­de, ge­won­nen von den cas­si­da­ni­schen Streit­kräf­ten.

Aber das al­les war mir ziem­lich egal. Ich war ganz be­nom­men von den Me­di­ka­men­ten, als man mich zur Über­wei­sung in ein Kran­ken­haus nach Blau­vain zu­rück­brach­te. Die Wun­de in mei­nem Knie hat­te sich ver­schlim­mert, da sie zu lan­ge un­be­han­delt ge­blie­ben war. Ich ken­ne die Ein­zel­hei­ten nicht, aber mein Bein blieb steif, ob­wohl sie die Ver­let­zung hei­len konn­ten. Die Ärz­te teil­ten mir mit, das lie­ße sich nur mit ei­ner kom­pli­zier­ten Ope­ra­ti­on und der Ein­set­zung ei­nes ganz neu­en, voll­kom­men künst­li­chen Knies be­he­ben – und sie rie­ten mir da­von ab. Das na­tür­li­che Fleisch und Blut, so mein­ten sie, sei im­mer noch bes­ser als al­les an­de­re, was von Men­schen­hand kon­stru­iert wer­den konn­te, um es zu er­set­zen.

Was mich be­trifft, so in­ter­es­sier­te mich das nicht son­der­lich. Sie hat­ten den Grup­pen­füh­rer, der das Massa­ker ver­übt hat­te, ge­fan­gen­ge­nom­men und vor Ge­richt ge­stellt. Und er war – wie er selbst pro­phe­zeit hat­te – von ei­nem Exe­ku­ti­ons­kom­man­do hin­ge­rich­tet wor­den, ge­mäß den Be­stim­mun­gen des Söld­ner­ko­de­xes, Ge­fan­ge­ne mit Re­spekt zu be­han­deln. Aber selbst das ver­schaff­te mir kei­ne Be­frie­di­gung.

Denn – und er hat­te auch dies vor­her­ge­sagt – sei­ne Hin­rich­tung än­der­te nichts. Es stand nicht in mei­ner Macht oder der ir­gend­ei­nes an­de­ren Men­schen, die Ge­schich­te aus­zu­radie­ren, die er mit sei­ner Such­ge­schoß-Schleu­der auf das Pa­pier ge­schrie­ben hat­te, das Da­ve und die an­de­ren Ge­fan­ge­nen ge­we­sen wa­ren. Und da­mit hat­te er et­was in mir ver­än­dert.

Ich war wie ei­ne Uhr, die trotz ei­ner ge­bro­che­nen Fe­der im In­nern im­mer wei­ter­lief, die man aber ras­seln und klap­pern hö­ren konn­te, wenn man sie na­he dem Ohr schüt­tel­te. Ir­gend et­was in mir war zer­bro­chen. Und nicht ein­mal das Lob, das ich vom In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten-Bü­ro er­hielt – und die Ge­wäh­rung ei­ner Voll­mit­glied­schaft in der Gil­de –, konn­ten die­sen De­fekt re­pa­rie­ren. Nun aber, da ich Voll­mit­glied war, küm­mer­ten sich das Ver­mö­gen und die Macht der Gil­de um mich, und sie be­werk­stel­lig­te et­was, zu dem nur sehr we­ni­ge pri­va­te Or­ga­ni­sa­tio­nen in der La­ge ge­we­sen wä­ren: Sie schick­te mich zur Be­hand­lung nach Kul­tis, der grö­ße­ren der bei­den Exo­ti­schen Wel­ten, zu den He­xen­meis­tern des men­ta­len Hei­lens.

Auf Kul­tis an­ge­kom­men, lei­te­ten sie mich da­zu an, mich selbst zu hei­len – aber sie konn­ten mich nicht zu der Art und Wei­se zwin­gen, in der ich mich hei­len woll­te. Ers­tens, weil das nicht in ih­rer Macht stand (ob­wohl ich mir nicht si­cher bin, ob sie auch wirk­lich be­grif­fen, wie be­grenzt ih­re Mög­lich­kei­ten in mei­nem be­son­de­ren Fall wa­ren), und zwei­tens, weil ih­nen ein fun­da­men­ta­ler Be­stand­teil ih­rer Phi­lo­so­phie die Aus­übung von Zwang auf an­de­re Men­schen ver­bot, eben­so wie je­den Ver­such, den Wil­len ei­ner ein­zel­nen Per­son zu kon­trol­lie­ren. Sie konn­ten mich nur auf je­ne Stra­ße len­ken, von der sie wünsch­ten, daß ich sie be­trat.

Und es war ein sehr kräf­ti­ger Mo­tor, den sie sich aus­ge­sucht hat­ten, um mir die­sen Stoß in die rich­ti­ge Rich­tung zu ge­ben. Es war Li­sa Kent.

„… aber du bist kein Psych­ia­ter!“ brach­te ich er­staunt her­vor, als ich sie das ers­te­mal an je­nem Ort von Kul­tis er­blick­te, zu dem man mich ge­bracht hat­te: ei­nes die­ser in sich ge­schlos­se­nen und doch of­fe­nen Viel­zweck-Re­kon­va­les­zenz­zen­tren. Ich lag am Ran­de ei­nes Swim­ming­pools und gab vor, ein Son­nen­bad zu neh­men und mich zu ent­span­nen, als sie plötz­lich ne­ben mir auf­tauch­te. Und als Ant­wort auf mei­ne Fra­ge ent­geg­ne­te sie, Pad­ma ha­be vor­ge­schla­gen, ge­ra­de sie sol­le mir bei der Wie­der­her­stel­lung mei­nes emo­tio­na­len Gleich­ge­wichts hel­fen.

„Wo­her willst du wis­sen, was ich bin?“ gab sie barsch zu­rück und zeig­te da­bei ganz und gar nicht die ru­hi­ge Selbst­be­herr­schung, die einen ge­bo­re­nen Exo­ten aus­zeich­ne­te. „Es ist nun fünf Jah­re her, seit ich dir zum ers­ten­mal in der En­zy­klo­pä­die be­geg­net bin, und schon da­mals hat­te ich ein lang­jäh­ri­ges Stu­di­um hin­ter mir!“

Ich lag am Bo­den und zwin­ker­te dem über mich ge­beug­ten Ge­sicht ent­ge­gen. Und ganz lang­sam be­gann in mir wie­der et­was zum Le­ben zu er­wa­chen und zu ti­cken und sich er­neut zu re­gen, das lan­ge Zeit ge­schla­fen hat­te. Ich er­hob mich. Hier stand ich nun, je­mand, der in der La­ge ge­we­sen war, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den, um an­de­re Men­schen wie Ma­rio­net­ten tan­zen zu las­sen – und nun gab ich ei­ne der­art dum­me Be­mer­kung von mir.

„Dann bist du tat­säch­lich ein Psych­ia­ter?“ frag­te ich.

„Ja und nein“, gab sie ge­las­sen zu­rück. Plötz­lich lä­chel­te sie mich an. „Wie dem auch sei, du brauchst oh­ne­hin kei­ne psych­ia­tri­sche Hil­fe.“

In dem Au­gen­blick, als sie dies sag­te, wur­de mir die Tat­sa­che be­wußt, daß ge­nau das mei­ne ei­ge­ne An­sicht war, daß es die gan­ze Zeit über mei­ne An­sicht ge­we­sen war. Doch ein­gehüllt vom Elend mei­nes ge­dank­li­chen Uni­ver­sums hat­te ich die Gil­de ih­re ei­ge­nen Schlüs­se zie­hen las­sen. Plötz­lich be­gan­nen über­all in der Ma­schi­ne­rie mei­nes men­ta­len Wie­der­er­wach­sens klei­ne Re­lais zu ti­cken. Ver­bin­dun­gen wur­den her­ge­stellt, Ein­sich­ten glüh­ten wie­der auf.

Wenn sie be­reits so viel über mich wuß­te, wie­viel mehr kann­te sie dann noch? So­fort be­gan­nen Alarm­si­re­nen durch die gan­ze men­ta­le Zi­ta­del­le zu schril­len, die ich wäh­rend je­ner ver­gan­ge­nen fünf Jah­re er­rich­tet hat­te, und rasch wuch­sen Ab­wehr­mau­ern in die Hö­he.

„Viel­leicht hast du recht“, sag­te ich und war mit ei­nem­mal auf der Hut. Ich grins­te sie an. „Warum set­zen wir uns nicht und spre­chen dar­über?“

„Ja, warum nicht?“ ant­wor­te­te sie.

Und so nah­men wir Platz und un­ter­hiel­ten uns. Wir be­gan­nen mit be­lang­lo­sen Ge­sprächs­flos­keln, dem Aus­tausch höf­li­cher Be­mer­kun­gen, und ich ta­xier­te sie wäh­rend­des­sen. Sie warf ein ei­gen­ar­ti­ges Echo. An­ders kann ich es nicht be­schrei­ben. Al­les, was ich sag­te, je­de Ges­te oder Be­we­gung all das schi­en in ei­ner be­son­de­ren Be­deu­tung für mich zu er­klin­gen, ei­ner Be­deu­tung, die ich nicht ganz er­fas­sen konn­te.

„Warum“, er­kun­dig­te ich mich nach ei­ner Wei­le vor­sich­tig, „dach­te Pad­ma, du könn­test … ich mei­ne, warum mein­te er, ge­ra­de du soll­test hier­her­kom­men und nach mir se­hen?“

„Nicht ein­fach nur nach dir se­hen – dir hel­fen“, be­rich­tig­te sie mich. Sie trug kei­nes der Exo­ten­ge­wän­der, son­dern ein ge­wöhn­li­ches kur­z­es und wei­ßes Stra­ßen­ko­stüm. Der blaue Glanz ih­rer Au­gen dar­über war dunk­ler und in­ten­si­ver als je­mals zu­vor. Plötz­lich warf sie mir einen ra­schen Blick zu, so her­aus­for­dernd und scharf wie ein Speer. „Weil ich sei­ner Mei­nung nach ei­ne der bei­den Tü­ren bin, durch die man noch Zu­gang zu dir hat, Tam.“

Der durch­drin­gen­de Blick und die Wor­te er­schüt­ter­ten mich. Wenn nicht das ei­gen­tüm­li­che Echo an ihr ge­we­sen wä­re, hät­te ich viel­leicht den Feh­ler ge­macht an­zu­neh­men, sie ver­such­te mich zu ver­füh­ren. Aber es war et­was Be­deut­sa­me­res als das.

Ich hät­te sie auf der Stel­le fra­gen kön­nen, was sie mein­te – aber ich war ge­ra­de erst wie­der zu mir ge­kom­men und vor­sich­tig ge­wor­den. Ich wech­sel­te das The­ma – ich glau­be, ich for­der­te sie auf, ei­ne Run­de mit mir zu schwim­men oder et­was ähn­li­ches –, und ich kam erst ei­ni­ge Ta­ge spä­ter wie­der auf die­se The­ma­tik zu­rück.

Bis da­hin hat­te sich mir – da ich nun wach und auf der Hut war – ei­ne Mög­lich­keit ge­bo­ten, mich um­zu­se­hen und her­aus­zu­fin­den, wo­her die­ses Echo stamm­te und was die Be­ein­flus­sungs­me­tho­den der Exo­ten bei mir ver­ur­sach­ten. Sie ma­ni­pu­lier­ten mich auf sub­ti­le Wei­se, durch ei­ne ge­schick­te Ab­stim­mung ei­nes to­ta­len Drucks von Um­welt­ein­flüs­sen. Es war ein Druck, der mich nicht in die­se oder je­ne Rich­tung zu len­ken ver­such­te, der mich viel­mehr fort­wäh­rend da­zu zwang, mich am Hal­te­punkt mei­ner ei­ge­nen Exis­tenz fest­zu­klam­mern und mich selbst zu steu­ern. Kurz­um: Das Ge­bäu­de, in dem ich un­ter­ge­bracht war, das Wet­ter, das es in strah­len­des Licht tauch­te, die kah­len Wän­de und Mö­bel und Far­ben und For­men im In­nern … das al­les war so kon­stru­iert, daß es auf sub­ti­le Wei­se zu­sam­men­wirk­te, um mich zum Le­ben zu zwin­gen – nicht nur zum Le­ben, son­dern da­zu, ak­tiv zu le­ben, freu­dig und be­ja­hend. Es war nicht nur ein Zu­frie­den­heit in­iti­ie­ren­der Auf­ent­halts­ort – es war ein auf­re­gen­der Platz, ei­ne sti­mu­lie­ren­de Um­ge­bung, die mich völ­lig in An­spruch nahm.

Und Li­sa war ein funk­tio­nel­ler Be­stand­teil da­von.

Als ich mei­ne De­pres­sio­nen ab­streif­te, be­gann ich fol­gen­des fest­zu­stel­len: Nicht nur die Far­ben und For­men der Mö­bel und des Ge­bäu­de selbst än­der­ten sich mit je­dem Tag, son­dern auch Li­sas Wahl der Ge­sprächsthe­men, ihr Ton­fall, ihr La­chen und das al­les, um auch wei­ter­hin einen ma­xi­ma­len Druck auf mei­ne ei­ge­nen, sich ent­fal­ten­den und ver­än­dern­den Emp­fin­dun­gen aus­zuü­ben. Ich glau­be, nicht ein­mal Li­sa ver­stand, wie die ver­schie­de­nen Tei­le kom­bi­niert wer­den muß­ten, um die­sen Ge­stalt­ef­fekt her­vor­zu­ru­fen. Man hät­te ge­bür­ti­ger Exo­te da­zu sein müs­sen, um dies zu be­grei­fen. Aber sie ver­stand ih­re ei­ge­ne Rol­le dar­in – be­wußt oder un­be­wußt. Und sie spiel­te sie.

Es war mir gleich. Als ich mich selbst heil­te, ver­lieb­te ich mich in sie, ganz au­to­ma­tisch und un­aus­weich­lich.

Seit ich aus den en­gen Gren­zen des Hau­ses mei­nes On­kels aus­ge­bro­chen und mir über mei­ne ei­ge­nen Kräf­te von Kör­per und Geist klar­ge­wor­den war, hat­te ich nie Schwie­rig­kei­ten ge­habt, Frau­en für mich zu ge­win­nen. Das trifft ganz be­son­ders auf die hüb­schen un­ter ih­nen zu, die oft ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Ver­lan­gen nach Zu­nei­gung auf­wei­sen, das eben­so oft un­be­frie­digt bleibt. Aber bis auf Li­sa ha­ben all die­se Frau­en ih­re An­zie­hungs­kraft auf mich ver­lo­ren und sind, ob hübsch oder nicht, zu farb­lo­sen Schat­ten ge­wor­den. Es war, als fin­ge ich fort­wäh­rend Nach­ti­gal­len ein, die ich dann mit nach Hau­se nahm, nur um am nächs­ten Mor­gen fest­zu­stel­len, daß sie über Nacht zu ge­wöhn­li­chen Spat­zen ge­wor­den wa­ren und sich ihr me­lo­di­scher Ge­sang zu ei­nem mo­no­to­nen Zwit­schern re­du­ziert hat­te.

Dann war der Zeit­punkt ge­kom­men, an dem ich fest­stell­te, daß es mei­ne ei­ge­ne Schuld war: Ich war es, der sie in Nach­ti­gal­len ver­wan­delt hat­te. Ir­gend­ei­ne Cha­rak­terei­gen­schaft, die sie zu­fäl­lig auf­wie­sen, ir­gend­ei­ne Ei­gen­tüm­lich­keit an ih­nen hat­te mich wie mit ei­ner Ra­ke­te über die Wol­ken ge­tra­gen. Mei­ne Phan­ta­sie war da­von­ge­se­gelt, und mei­ne Zun­ge mit ihr: Nur mit Wor­ten hat­te ich uns bei­de hin­aus­ge­tra­gen und zu ei­nem Ort aus strah­len­dem Licht und wür­zi­ger Luft und grü­nem Gras und plät­schern­dem Was­ser ge­bracht. Und dort hat­te ich uns ein Schloß aus Licht und Luft und Ver­spre­chun­gen und glän­zen­der Pracht ge­baut.

Und im­mer wa­ren sie ganz be­geis­tert von die­sem Schloß. Glück­lich klet­ter­ten sie auf mei­ne Schwin­gen aus Phan­ta­sie, und ich war da­von über­zeugt, daß wir ge­mein­sam hin­aus­flo­gen. Spä­ter aber, am fol­gen­den Tag, wur­de mir die Tat­sa­che deut­lich, daß das Licht ver­blaßt und der Ge­sang ver­stummt wa­ren. Weil sie nicht wirk­lich an mein Schloß ge­glaubt hat­ten. Es war durch­aus in Ord­nung, von sol­chen Din­gen zu träu­men, aber nicht, sich vor­zu­stel­len, sie in ge­wöhn­li­chen Stein zu ver­wan­deln, in Holz und Glas und Zie­gel. Wenn mich die Wirk­lich­keit auf die­se Wei­se ein­hol­te, er­wies sich ein Schloß als Ver­rückt­heit, und ich schob die­se Vor­stel­lung zu­guns­ten ei­ner rea­le­ren Be­hau­sung bei­sei­te: ein Haus aus ge­gos­se­nem Be­ton viel­leicht, wie das Heim mei­nes On­kels Ma­thi­as. Mit prak­ti­schen Bild­schir­men an­stel­le von Fens­tern, mit ei­nem fla­chen, kos­ten­güns­ti­gen Dach statt her­aus­ra­gen­der Zin­nen, mit zum Schutz vor dem Wet­ter ver­glas­ten Ko­lon­na­den und nicht mit of­fe­nen Log­gi­en. Und des­halb trenn­ten wir uns.

Li­sa aber ver­ließ mich nicht wie all die an­de­ren, als ich mich schließ­lich in sie ver­lieb­te. Sie se­gel­te mit mir da­von, und sie ent­schweb­te auch auf ei­ge­ne Faust. Und dann er­hielt ich zum ers­ten­mal Ant­wort auf die Fra­ge, warum sie an­ders war, warum sie nicht wie­der zum Bo­den zu­rück­kehr­te wie die an­de­ren vor ihr.

Weil sie be­reits ei­ge­ne Schlös­ser ge­baut hat­te, lan­ge be­vor ich ihr be­geg­net war. Des­halb brauch­te sie mei­ne Hil­fe nicht, um ins Reich des Zau­bers zu schwe­ben – sie war be­reits mit ih­ren ei­ge­nen star­ken Schwin­gen hin­ein­ge­flo­gen. Wir bil­de­ten ein Paar un­ter dem Him­mel der Phan­ta­sie, auch wenn un­se­re Schlös­ser ver­schie­den wa­ren.

Es wa­ren die­se un­ter­schied­li­chen Schlös­ser, die mich in die Wirk­lich­keit zu­rück­brach­ten, die den exo­ti­schen Ko­kon schließ­lich zer­trüm­mer­ten. Denn als ich end­lich so­weit war, mit ihr schla­fen zu wol­len, stieß sie mich zu­rück.

„Nein, Tam“, sag­te sie und wehr­te mich ab. „Nicht jetzt.“

„Nicht jetzt“ – das hät­te „nicht ge­ra­de jetzt“ oder „war­te bis mor­gen“ be­deu­ten kön­nen. Doch ich wuß­te es plötz­lich bes­ser, als ich die Ver­än­de­rung be­merk­te, die sich in ih­ren Zü­gen ab­zeich­ne­te, die Art und Wei­se, in der ih­re Au­gen mei­nem Blick aus­wi­chen. Ir­gend et­was stand zwi­schen uns, ein mas­si­ves Tor, das sich lang­sam schloß. Und mein Ver­stand er­faß­te es so­fort.

„Die En­zy­klo­pä­die“, sag­te ich. „Du möch­test noch im­mer, daß ich zu­rück­keh­re und dort wei­ter­ar­bei­te.“ Ich starr­te sie an. „Nun gut. Frag mich noch ein­mal.“

Sie schüt­tel­te den Kopf.

„Nein“, sag­te sie mit ge­senk­ter Stim­me. „Be­vor ich dich auf der Par­ty von Do­nal Grae­me auf­stö­ber­te, sag­te mir Pad­ma, du wür­dest nie zu­rück­keh­ren. Ein­fach aus dem Grund, weil ich dich dar­um ge­be­ten hat­te. Ich ha­be ihm da­mals nicht ge­glaubt. Aber ich glau­be ihm jetzt.“ Sie wand­te mir wie­der ihr Ge­sicht zu und blick­te mir di­rekt in die Au­gen. „Wenn ich dich jetzt frag­te und bä­te, dir einen Au­gen­blick Zeit zu neh­men und nach­zu­den­ken, be­vor du ant­wor­test … du wür­dest er­neut nein sa­gen, selbst jetzt.“

Sie saß di­rekt in der Son­ne, am Ran­de des Schwimm­be­ckens, des­sen Was­ser wie flüs­si­ges Sil­ber glänz­te; hin­ter ihr wuchs ein Busch großer, gel­ber Ro­sen, und der Schim­mer der Blu­men er­goß sich über sie.

„Ha­be ich nicht recht, Tam?“ frag­te sie.

Ich öff­ne­te den Mund, und dann schloß ich ihn wie­der. Denn jetzt kam all das zu­rück, was ich wäh­rend mei­ner Ge­ne­sung hier ver­ges­sen hat­te. Es las­te­te so schwer auf mir wie die gra­ni­te­ne Hand ei­ner heid­nischen Gott­heit: all das, was zu­nächst Ma­thi­as und dann der Grup­pen­füh­rer der Quä­ker in mei­ne See­le ge­mei­ßelt hat­te.

Mit ei­nem Knall fiel die mas­si­ve Tür zwi­schen mir und Li­sa zu, und das Echo die­ses Knalls hall­te wi­der in den in­ners­ten Tie­fen mei­nes We­sens.

„Es stimmt“, gab ich dumpf zu. „Du hast recht. Ich wür­de nein sa­gen.“

Ich saß in­mit­ten der Trüm­mer un­se­res ge­mein­sa­men Traums und sah Li­sa an. Und ich er­in­ner­te mich an et­was.

„Als du das ers­te­mal hier­her­kamst“, sag­te ich lang­sam, aber scho­nungs­los, da sie nun bei­nah wie­der zu mei­nem Geg­ner ge­wor­den war, „hast du et­was über Pad­ma er­wähnt: Er ha­be ge­sagt, du seist ei­ne der bei­den Tü­ren, durch die man Zu­gang zu mir hät­te. Was ist mit der an­de­ren? Ich ha­be dich nicht da­nach ge­fragt, als du da­von sprachst.“

„Doch jetzt bist du ganz ver­ses­sen dar­auf, auch die an­de­re zu ver­rie­geln, nicht wahr, Tam?“ sag­te sie, und es klang ein we­nig bit­ter. „Nun gut … spre­chen wir über et­was an­de­res.“ Sie nahm ein von den Blu­men hin­ter ihr ab­ge­fal­le­nes Blü­ten­blatt auf und warf es auf das ru­hi­ge Was­ser des Pools hin­aus. Dort schwamm es wie ei­ne Art zer­brech­li­ches, gel­bes Schiff. „Hast du Kon­takt mit dei­ner Schwes­ter auf­ge­nom­men?“

Ih­re Wor­te sta­chen wie ei­ne stäh­ler­ne Lan­ze in mein In­ners­tes. Die gan­ze Sa­che von Ei­leen und Da­ve ström­te in mich zu­rück – daß Da­ve ge­stor­ben war, ob­wohl ich Ei­leen ver­spro­chen hat­te, auf ihn acht­zu­ge­ben. Als ich wie­der zu Sin­nen kam, stell­te ich fest, daß ich auf­recht stand, ob­wohl ich mich nicht dar­an er­in­nern konn­te, auf­ge­stan­den zu sein … und am gan­zen Leib war mir der kal­te Schweiß aus­ge­bro­chen.

„Ich konn­te nicht …“ setz­te ich zu ei­ner Ant­wort an, doch mei­ne Stim­me ver­sag­te mir den Dienst. In mei­ner zu­ge­schnür­ten Keh­le schnitt sie sich selbst die Luft ab, und im Be­wußt­sein mei­ner Feig­heit blick­te ich ins Ant­litz mei­ner ei­ge­nen See­le.

„Sie ha­ben sie be­nach­rich­tigt!“ rief ich und dreh­te mich wü­tend zu der Stel­le um, wo Li­sa noch im­mer saß und zu mir em­por­blick­te. „Die cas­si­da­ni­schen Be­hör­den wer­den ihr al­les mit­ge­teilt ha­ben! Was soll die­se Fra­ge? Glaubst du, sie weiß nicht, was Da­ve zu­ge­sto­ßen ist?“

Aber Li­sa schwieg. Sie saß nur stumm auf dem Bo­den und sah zu mir hoch. Dann be­griff ich, daß sie auch wei­ter­hin schwei­gen wür­de. Sie war ge­nau­so­we­nig ge­neigt, mir zu sa­gen, was ich tun soll­te, wie die Exo­ten, die sie schon von klein auf aus­ge­bil­det hat­ten.

Aber das brauch­te sie auch gar nicht. In mei­ner See­le war er­neut der Teu­fel er­wacht. Und la­chend stand er am ge­gen­über­lie­gen­den Ufer ei­nes Flus­ses aus glü­hen­den Koh­len und for­der­te mich auf, her­über­zu­kom­men und es mit ihm auf­zu­neh­men. Und we­der ir­gend­ein Mensch noch der Teu­fel hat mich je­mals um­sonst her­aus­ge­for­dert.

Ich wand­te mich von Li­sa ab und ging.