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Mein ers­ter Schritt auf die­sem Weg war ei­ne ra­sche Rück­kehr nach Neu­er­de, wo der Äl­tes­te Strah­len­de sei­ne Trup­pen von Ken­sie Grae­mes Streit­kräf­ten, die sie ge­fan­gen­ge­nom­men hat­ten, frei­ge­kauft und so­fort ver­stärkt hat­te. Die­se ver­stärk­ten Ein­hei­ten hat­ten ihr La­ger au­ßer­halb von Mo­re­ton, der Haupt­stadt der Nord­par­zel­le, auf­ge­schla­gen, als ei­ne Be­sat­zungs­ar­mee, die die An­sprü­che der Quä­ker­wel­ten auf die Zah­lung des Schuld­be­tra­ges ver­deut­lich­te, der ih­nen auf­grund der An­mie­tung von Streit­kräf­ten durch die nun nicht mehr exis­tie­ren­de Re­bel­len­re­gie­rung zu­stand.

Doch be­vor ich di­rekt nach Neu­er­de flie­gen konn­te, muß­te ich mich zu­nächst um ei­ne Sa­che küm­mern: Ich muß­te mir von hö­he­rer Stel­le ab­seg­nen las­sen, was ich zu tun be­ab­sich­tig­te. Denn ist man erst ein­mal Voll­mit­glied der Be­richt­er­stat­ter­gil­de, dann gibt es kei­ne hö­her­ran­gi­ge Au­to­ri­tät über ei­nem – bis auf die fünf­zehn Mit­glie­der, die den Gil­de­rat bil­den. Die­ser Rat über­wacht die Ein­hal­tung un­se­res Be­kennt­nis­ses zur Ob­jek­ti­vi­tät, das der Maß­stab un­se­rer Ar­beit ist, und er be­stimmt die Gil­de­po­li­tik, der sich al­le Mit­glie­der zu fü­gen ha­ben.

Ich traf ei­ne Ver­ab­re­dung mit Piers Leaf, dem Vor­sit­zen­den die­ses Ra­tes. Wir ka­men an ei­nem strah­len­den April­mor­gen in St. Louis zu­sam­men – je­ner Stadt, die un­mit­tel­bar an die Letz­te En­zy­klo­pä­die grenzt. An ei­nem schmuck­lo­sen und doch ele­gan­ten Ei­chen­tisch in sei­nem Bü­ro auf der obers­ten Eta­ge des Gil­de­hau­ses sa­ßen wir uns schließ­lich ge­gen­über.

„Für je­man­den, der so jung ist wie Sie, Tam, ha­ben Sie es in­ner­halb kur­z­er Zeit ziem­lich weit ge­bracht“, sag­te er, nach­dem er für uns bei­de Kaf­fee be­stellt und auch er­hal­ten hat­te. Er war ein ru­hi­ger und be­herrsch­ter, nicht son­der­lich großer Mann in den spä­ten Fünf­zi­gern, der das Sol­sys­tem über­haupt nie und die Er­de nur noch sel­ten ver­ließ, da er auf­grund sei­ner Ei­gen­schaft als Vor­sit­zen­der im­mer im Licht der Öf­fent­lich­keit stand. „Sa­gen Sie mir nicht, Sie sind noch im­mer nicht zu­frie­den. Was ha­ben Sie jetzt auf dem Her­zen?“

„Ich möch­te einen Sitz im Rat“, gab ich zu­rück.

Er hob die Kaf­fee­tas­se an sei­ne Lip­pen, als ich sprach. Er führ­te die Be­we­gung oh­ne zu zö­gern zu En­de. Aber der ra­sche Blick, den er mir über den Rand der Tas­se zu­warf, war so durch­drin­gend wie der ei­nes Fal­ken. Doch er ant­wor­te­te nur:

„Tat­säch­lich? Warum?“

„Das wer­de ich Ih­nen sa­gen“, ent­geg­ne­te ich. „Viel­leicht ist Ih­nen auf­ge­fal­len, daß ich of­fen­bar den Bo­gen raus ha­be, im­mer dort zur Stel­le zu sein, wo et­was pas­siert.“

Er setz­te die Tas­se ganz ge­nau im Zen­trum der Un­ter­tas­se ab.

„Das ist auch der Grund, Tam“, sag­te er ge­las­sen, „warum Sie den Um­hang jetzt auf Dau­er tra­gen. Von un­se­ren Mit­glie­dern er­war­ten wir be­stimm­te Din­ge, wis­sen Sie.“

„Ja“, sag­te ich. „Aber ich glau­be, bei mir liegt die Sa­che et­was ab­seits des Üb­li­chen … oh“, füg­te ich hin­zu, als sich sei­ne Au­gen­brau­en plötz­lich ho­ben, „… ich will nicht be­haup­ten, ich sei ei­ne Art Hell­se­her. Ich glau­be nur, ich ha­be zu­fäl­lig das Ta­lent für einen tiefe­ren Ein­blick in das Ent­wick­lungs­po­ten­ti­al von Si­tua­tio­nen, als das bei an­de­ren Mit­glie­dern der Fall ist.“

Sei­ne Au­gen­brau­en ka­men wie­der her­un­ter. Er run­zel­te ein we­nig die Stirn.

„Ich weiß“, sag­te ich, „das hört sich ziem­lich prah­le­risch an. Aber neh­men wir ein­fach mal an, mei­ne Be­haup­tung trifft zu. Wä­re ein sol­ches Ta­lent nicht von au­ßer­or­dent­li­chem Nut­zen für den Rat und sei­ne po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen für die Gil­de?“

Er sah mich scharf an.

„Viel­leicht“, sag­te er. „Wenn es zu­trifft … und wenn es im­mer funk­tio­niert … und wenn ei­ni­ge an­de­re Vor­aus­set­zun­gen ge­ge­ben sind.“

„Aber wenn ich Sie in Hin­sicht auf all die­se ‚Wenns’ über­zeu­gen könn­te, wür­den Sie mich dann un­ter­stüt­zen, wenn das nächs­te­mal ein Sitz im Rat frei wird?“

Er lach­te.

„Mög­li­cher­wei­se“, sag­te er. „Aber wie wol­len Sie mir Ihr Ta­lent be­wei­sen?“

„Ich wer­de ei­ne Vor­her­sa­ge ma­chen“, sag­te ich. „Ei­ne Vor­her­sa­ge, die – wenn sie sich be­wahr­hei­tet – ei­ne grund­le­gen­de po­li­ti­sche Ent­schei­dung des Ra­tes er­for­dern wird.“

„In Ord­nung“, sag­te er. Er lä­chel­te noch im­mer. „Dann pro­phe­zei­en Sie.“

„Die Exo­ten“, sag­te ich, „sind da­bei, die Quä­ker aus­zu­lö­schen.“

Das Lä­cheln ver­schwand. Einen Au­gen­blick lang starr­te er mich nur an.

„Was mei­nen Sie da­mit?“ frag­te er scharf. „Die Exo­ten kön­nen es nicht dar­auf ab­ge­se­hen ha­ben, ir­gend je­man­den aus­zu­lö­schen. Es wi­der­spricht nicht nur al­len ih­ren for­mu­lier­ten Glau­bens­grund­sät­zen … nie­mand kann zwei kom­plet­te Pla­ne­ten vol­ler Men­schen aus­lö­schen und ei­ne gan­ze Le­bens­wei­se noch da­zu. Was mei­nen Sie al­so mit ‚aus­lö­schen’?“

„Ge­nau das, an das auch Sie den­ken wür­den“, ant­wor­te­te ich. „Zer­schmet­tern Sie die Kul­tur der Quä­ker als funk­tio­nel­le Theo­kra­tie, zer­bre­chen Sie das fi­nan­zi­el­le Rück­grat bei­der Wel­ten … und üb­rig blei­ben nur zwei öde Pla­ne­ten vol­ler ver­hun­gern­der Men­schen, die ent­we­der ih­re Le­bens­wei­se än­dern oder zu an­de­ren Wel­ten emi­grie­ren müs­sen.“

Er starr­te mich an. Ei­ne gan­ze Zeit­lang gab kei­ner von uns einen Ton von sich.

„Wie“, frag­te er schließ­lich, „kom­men Sie auf die­se ab­sur­de Idee?“

„Es ist ei­ne Ah­nung“, sag­te ich. „Mein Ein­blick in den Ver­lauf von Din­gen. Plus die Tat­sa­che, daß es ein Trup­pen-Kom­man­deur von Dor­sai war, Ken­sie Grae­me, der im letz­ten Au­gen­blick an die cas­si­da­ni­schen Streit­kräf­te aus­ge­lie­hen wur­de und die dor­ti­ge Streit­macht der Quä­ker be­sieg­te.“

„Nun“, sag­te Piers, „das ist ei­ne Sa­che, die in je­dem Krieg pas­sie­ren kann, über­all, in je­der mög­li­chen Schlacht.“

„Ganz so ist es nicht“, wi­der­sprach ich. „Ken­sies Ent­schei­dung, zum Nordab­schnitt der Quä­ker­front her­um­zu­schwen­ken und ih­re Trup­pen im Rücken an­zu­grei­fen, wä­re ganz und gar nicht von so­viel Er­folg ge­krönt ge­we­sen, wenn der Äl­tes­te Strah­len­de nicht einen Tag zu­vor das Kom­man­do über­nom­men und sei­nen Quä­kern be­foh­len hät­te, am Süd­ab­schnitt von Ken­sies Stel­lun­gen an­zu­grei­fen. Wir ha­ben es hier mit zwei gleich­zei­tig zu­sam­men­tref­fen­den Er­eig­nis­sen zu tun. Ein Kom­man­deur der Exo­ten er­scheint auf der Bild­flä­che und ent­schließt sich in ge­nau dem Au­gen­blick zum rich­ti­gen Vor­stoß, als die Streit­kräf­te der Quä­ker ge­nau die Ak­ti­on un­ter­neh­men, die sie ver­wund­bar macht.“

Piers wand­te sich ab und streck­te sei­ne Hand nach der Tas­te des Vi­si­fons aus.

„Ma­chen Sie sich nicht die Mü­he, das zu über­prü­fen“, sag­te ich. „Das ha­be ich be­reits ge­tan. Das Ober­kom­man­do der cas­si­da­ni­schen Streit­kräf­te folg­te ei­ner Ein­ge­bung des Au­gen­blicks, als es die Ent­schei­dung traf, sich Ken­sie von den Exo­ten aus­zu­lei­hen. Und Ken­sies Spä­her hat­ten kei­ne Mög­lich­keit, et­was im vor­aus von dem An­griff in Er­fah­rung zu brin­gen, den der Strah­len­de be­foh­len hat­te.“

„Dann han­delt es sich um einen Zu­fall.“ Piers warf mir einen fins­te­ren Blick zu. „Oder das tak­ti­sche Ta­lent der Dor­sai, über das sie zwei­fel­los ver­fü­gen, wie wir al­le wis­sen.“

„Glau­ben Sie nicht, daß der Ge­ni­us der Dor­sai ein we­nig über­schätzt wird?“ sag­te ich. „Und an einen Zu­fall glau­be ich nicht. Da­für trifft es zu ge­nau zu­sam­men.“

„Was dann?“ frag­te Piers. „Wie er­klä­ren Sie es sich?“

„Mei­ne Ah­nung … mein Ein­blick … ver­mu­tet, daß die Exo­ten über ei­ne Mög­lich­keit ver­fü­gen, mit der sie vor­her­sa­gen kön­nen, was die Quä­ker als nächs­tes un­ter­neh­men wer­den. Sie spra­chen vom mi­li­tä­ri­schen Ta­lent der Dor­sai – wie steht’s mit dem psy­cho­lo­gi­schen Ta­lent der Exo­ten?“

„Ja, aber …“ Piers brach ab und wirk­te plötz­lich sehr nach­denk­lich. „Die gan­ze Sa­che ist zu phan­tas­tisch.“ Er sah mich er­neut an. „Was sol­len wir Ih­rer Mei­nung nach in die­ser An­ge­le­gen­heit un­ter­neh­men?“

„Las­sen Sie mich um die Sa­che küm­mern“, sag­te ich. „Wenn ich recht ha­be, dann wer­den in drei Jah­ren Trup­pen der Exo­ten ge­gen die der Quä­ker kämp­fen. Nicht in Ge­stalt von Miet­lin­gen in ei­nem Krieg auf ir­gend­ei­nem an­de­ren Pla­ne­ten. Es wird ein di­rek­tes Kräf­te­mes­sen zwi­schen Trup­pen der Exo­ten und Quä­ker sein. Und wenn mei­ne Pro­phe­zei­ung auf die­se Wei­se be­stä­tigt wird, dann un­ter­stüt­zen Sie mich da­bei, das nächs­te Rats­mit­glied zu er­set­zen, das stirbt oder sich in den Ru­he­stand zu­rück­zieht.“

Er­neut saß der klei­ne und ru­hi­ge Mann ein­fach nur da und starr­te mich ei­ne Wei­le wort­los an.

„Tam“, sag­te er schließ­lich. „Ich glau­be kein Wort da­von. Aber von mir aus stel­len Sie so vie­le Nach­for­schun­gen an wie Sie wol­len. Ich wer­de den Rat bit­ten, Ihr Vor­ha­ben zu un­ter­stüt­zen – soll­te die­se Fra­ge auf den Tisch kom­men. Und wenn sich ir­gend et­was auf die Wei­se ent­wi­ckelt, wie Sie ge­sagt ha­ben, dann kom­men Sie wie­der, und wir un­ter­hal­ten uns er­neut dar­über.“

„Das wer­de ich“, sag­te ich und lä­chel­te ihm zu, als ich mich er­hob.

Er schüt­tel­te den Kopf, schwieg aber und blieb sit­zen.

„Ich neh­me an, wir wer­den uns bald wie­der­se­hen“, sag­te ich. Und ging hin­aus.

Ich hat­te ihm ei­ne win­zi­ge Klet­te an­ge­hef­tet, die sei­ne Ge­dan­ken reiz­te und sei­ne Über­le­gun­gen in die von mir ge­wünsch­te Rich­tung lenk­te. Doch Piers Leaf hat­te das Pech, hoch­in­tel­li­gent zu sein und einen krea­ti­ven Ver­stand zu be­sit­zen, denn sonst wä­re er nicht der Vor­sit­zen­de des Gil­de­ra­tes. Es war die Art von Ver­stand, die sich wei­ger­te, ei­ne Fra­ge bei­sei­te zu schie­ben, bis sie nicht auf die­se oder je­ne Wei­se be­ant­wor­tet wor­den war. Wenn er mei­ne Be­haup­tung nicht wi­der­le­gen konn­te, dann wür­de er wahr­schein­lich Hin­wei­se zu fin­den be­gin­nen, die sie er­här­te­ten – selbst dort, wo an­de­re sol­che Be­wei­se über­haupt nicht er­ken­nen konn­ten.

Und die­se ganz be­stimm­te Klet­te wür­de fast drei Jah­re lang an Piers Leaf haf­ten und hat­te so­mit Zeit ge­nug, zu ei­nem fes­ten Be­stand­teil der Struk­tur sei­nes Denk­ge­bäu­des zu wer­den. Ich hat­te nichts da­ge­gen, so lan­ge zu war­ten. In der Zwi­schen­zeit konn­te ich mich um an­de­re Din­ge küm­mern.

Ich muß­te ei­ni­ge Wo­chen auf der Er­de ver­brin­gen, um hier ei­ni­ge mei­ner per­sön­li­chen Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten wie­der zu ord­nen. Aber als das er­le­digt war, buch­te ich er­neut einen Flug nach Neu­er­de.

Die Quä­ker hat­ten, wie be­reits er­wähnt, die Trup­pen frei­ge­kauft, die sie als Ge­fan­ge­ne an die cas­si­da­ni­schen Streit­kräf­te un­ter Ken­sie Grae­me ver­lo­ren hat­ten. Sie wa­ren so­fort wie­der­be­waff­net und ver­stärkt und au­ßer­halb der Haupt­stadt der Nord­par­zel­le, Mo­re­ton, sta­tio­niert wor­den: als ei­ne Be­sat­zungs­trup­pe, die den ihr zu­ste­hen­den in­ter­stel­la­ren Schuld­be­trag ver­lang­te.

Die ihr ge­schul­de­te Sum­me ging na­tür­lich auf das Kon­to der nun be­sieg­ten und nicht mehr exis­tie­ren­den Re­bel­len­re­gie­rung der Nord­par­zel­le, die die­se Streit­kräf­te ge­mie­tet hat­te. Und ob­wohl so et­was recht­lich nicht ganz ab­ge­si­chert war, so war es doch kei­ne un­ge­wöhn­li­che Pra­xis zwi­schen den Ster­nen, ei­ne gan­ze Welt haft­bar zu ma­chen für je­de Zah­lungs­ver­pflich­tung, die von ir­gend­ei­nem ih­rer Be­woh­ner ein­ge­gan­gen wor­den war.

Der Grund war na­tür­lich der, daß die gän­gi­ge Wäh­rung zwi­schen den Pla­ne­ten aus den Diens­ten ein­zel­ner mensch­li­cher Zah­lungs­ein­hei­ten be­stand – ob es sich da­bei nun um So­zi­al­ar­bei­ter oder Sol­da­ten han­del­te. Ei­ne Schuld, die ei­ne be­stimm­te Welt bei ei­ner an­de­ren für die In­an­spruch­nah­me sol­cher Diens­te ein­ge­gan­gen war, muß­te von der Schuld­ner­welt als Gan­zes be­gli­chen und konn­te nicht von ei­nem Wech­sel der Re­gie­rung ge­tilgt wer­den. Wä­re dies ei­ne ge­eig­ne­te Mög­lich­keit ge­we­sen, Zah­lungs­ver­pflich­tun­gen aus dem Weg zu ge­hen, dann käme es dau­ernd zu Re­gie­rungs­wech­seln.

Prak­tisch ge­se­hen war es ei­ne Der-Sie­ger-zahlt-al­les-An­ge­le­gen­heit, wenn ge­gen­sätz­li­che In­ter­es­sen­grup­pen auf ei­ner ein­zel­nen Welt Hil­fe von Au­ßen­welt mie­te­ten. Um fi­nan­zi­el­le Ver­lus­te wie­der­gutz­u­ma­chen, kommt es da­her zu ei­ner Art Um­kehr ei­nes Zi­vil­pro­zes­ses, in dem der Ver­lie­rer da­zu ver­ur­teilt wird, die Ge­richts­kos­ten des Sie­gers zu tra­gen. Of­fi­zi­ell war fol­gen­des ge­sche­hen: Die Re­gie­rung der Quä­ker, die nicht für die der Re­bel­len­re­gie­rung ver­mie­te­ten Sol­da­ten be­zahlt wor­den war, hat­te Neu­er­de als Welt den Krieg er­klärt. Und die Be­la­ge­rung wür­de so lan­ge an­dau­ern, bis Neu­er­de als Welt die großen Schul­den be­zahlt hat­te, die ei­ni­ge ih­rer Ein­woh­ner ge­macht hat­ten.

In Wirk­lich­keit war es zu kei­nen Feind­se­lig­kei­ten ge­kom­men.

Und nach ei­ner an­ge­mes­se­nen Zeit­span­ne des Feil­schens wür­de die Be­zah­lung von je­nen Re­gie­run­gen Neu­er­des er­fol­gen, die am di­rek­tes­ten in die­se Sa­che ver­wi­ckelt wa­ren. In die­sem Fall al­so haupt­säch­lich von der Re­gie­rung der Süd­par­zel­le, da sie der Ge­win­ner war. In­zwi­schen aber wa­ren Trup­pen der Quä­ker als Be­sat­zungs­macht auf dem Bo­den von Neu­er­de prä­sent. Und ich hat­te mir vor­ge­nom­men, ei­ne Rei­he von ak­tu­el­len Ar­ti­keln über die­se Si­tua­ti­on zu schrei­ben, als ich dort an­kam, rund acht Mo­na­te nach mei­nem Ab­flug.

Dies­mal wur­de ich oh­ne Schwie­rig­kei­ten zu ih­rem Trup­pen-Kom­man­deur vor­ge­las­sen. Als ich zwi­schen den Quar­tie­ren aus Plas­tik­bla­sen um­her­wan­der­te, die sie auf ei­ner frei­en Flä­che er­rich­tet hat­ten, fiel mir auf, daß die Quä­ker-Trup­pen ganz of­fen­sicht­lich un­ter dem Be­fehl stan­den, Nicht­quä­ker so we­nig wie mög­lich zu pro­vo­zie­ren. Von kei­nem der Sol­da­ten ver­nahm ich einen Hei­li­gen Fluch – vom Ein­gang­stor des La­gers bis hin und ein­schließ­lich des Bü­ros des Trup­pen-Kom­man­deurs selbst. Aber ob­gleich er mich nicht duz­te, son­dern siez­te, war er nicht ge­ra­de er­freut über mei­nen Be­such.

„Trup­pen-Kom­man­deur Was­ser“, stell­te er sich vor. „Set­zen Sie sich, Be­richt­er­stat­ter Olyn. Ich ha­be von Ih­nen ge­hört.“

Er war ein Mann in den spä­ten Vier­zi­gern oder frü­hen Fünf­zi­gern, mit kurz­ge­schnit­te­nem und fei­nem, grau­en Haar. Er war von so qua­dra­ti­scher Ge­stalt wie die un­te­re Hälf­te ei­ner quer­ge­teil­ten Tür, und er hat­te ein der­bes, kan­ti­ges Ge­sicht, das oh­ne je­de Schwie­rig­keit grim­mig und fins­ter aus­se­hen konn­te. Es sah nun fins­ter aus, denn es schei­ter­te mit sei­nem Be­mü­hen, Zu­vor­kom­men­heit aus­zu­drücken – und ich kann­te auch den Grund der Un­ru­he, die sei­nen Ge­sichts­aus­druck zu ei­nem Re­bel­len ge­gen sei­nen Wil­len wer­den ließ.

„Da­mit ha­be ich ge­rech­net“, sag­te ich, und es klang grim­mig ge­nug auf mei­ne ei­ge­ne Art und Wei­se. „Des­halb will ich einen Punkt von An­fang an klar­stel­len, in­dem ich Sie an die Un­par­tei­lich­keit der In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­diens­te er­in­ne­re.“

Er hat­te wie­der Platz ge­nom­men.

„Dar­über wis­sen wir Be­scheid“, sag­te er, „und ich will Ih­nen auch kei­ne Be­fan­gen­heit uns ge­gen­über un­ter­stel­len, Be­richt­er­stat­ter. Wir be­dau­ern den Tod Ih­res Schwa­gers und Ih­re ei­ge­ne Ver­wun­dung. Aber ich möch­te mei­ner Ver­wun­de­rung dar­über Aus­druck ge­ben, daß die Nach­rich­ten­diens­te von al­len Gil­de­mit­glie­dern aus­ge­rech­net Sie hier­her schick­ten, um ei­ne Ar­ti­kel­se­rie über un­se­re Be­sat­zungs­trup­pe zu schrei­ben, die hier auf dem Bo­den von Neu­er­de …“

„Las­sen Sie mich ei­nes voll­kom­men klar­stel­len!“ un­ter­brach ich ihn. „Ich ha­be die­sen Auf­trag aus ei­ge­nem An­trieb über­nom­men, Kom­man­deur. Ich ha­be dar­um ge­be­ten, daß er mir zu­ge­teilt wur­de!“

Jetzt war sein Ge­sicht so ver­knif­fen wie das ei­ner Bull­dog­ge, und von der freund­li­chen Mas­ke war nur noch we­nig üb­rig­ge­blie­ben. Über den Tisch hin­weg starr­te ich ihm ähn­lich fins­ter in die Au­gen.

„Of­fen­bar be­grei­fen Sie nicht, Kom­man­deur.“ Ich ver­such­te, die­se Wor­te in ei­nem Ton­fall so hart wie Gra­nit her­vor­zu­brin­gen. Und der Klang mei­ner Stim­me war – zu­min­dest für mei­ne ei­ge­nen Oh­ren – zu­frie­den­stel­lend. „Mei­ne El­tern star­ben, als ich noch ein Kind war. Ich wur­de von ei­nem On­kel auf­ge­zo­gen, und es war im­mer mein größ­ter Wunsch, Be­richt­er­stat­ter zu wer­den. Für mich sind die Nach­rich­ten­diens­te wich­ti­ger als je­de an­de­re von Men­schen ge­schaf­fe­ne In­sti­tu­ti­on auf ir­gend­ei­ner der vier­zehn zi­vi­li­sier­ten Wel­ten. Ich tra­ge das Be­kennt­nis der Gil­de­mit­glie­der in mei­nem Her­zen, Kom­man­deur. Und der Haupt­be­stand­teil die­ses Be­kennt­nis­ses ist Un­par­tei­lich­keit – das Un­ter­drücken und Aus­lö­schen al­ler per­sön­li­chen Emp­fin­dun­gen, wo sie im Wi­der­streit zu un­se­rer Ar­beit als Be­richt­er­stat­ter ste­hen oder wo sie die­se Tä­tig­keit auch nur ge­ring­fü­gig be­ein­flus­sen könn­ten.“

Er sah mich wei­ter­hin fins­ter von der an­de­ren Sei­te des Ti­sches an. Und ich hat­te den Ein­druck, all­mäh­lich kroch ein Hauch von Un­si­cher­heit in sein wie ge­mei­ßelt wir­ken­des Ge­sicht.

„Mr. Olyn“, sagt er schließ­lich, und die neu­tra­le­re An­re­de war wie ei­ne ver­suchs­wei­se Ab­schwä­chung der for­mel­len Schär­fe, mit der wir un­ser Ge­spräch be­gon­nen hat­ten. „Wol­len Sie mir da­mit na­he­le­gen, daß Sie hier­her­ge­kom­men sind und die­se Ar­ti­kel als Be­weis da­für schrei­ben wol­len, daß Sie uns ge­gen­über nicht vor­ein­ge­nom­men sind?“

„We­der Ih­nen noch ir­gend­wel­chen an­de­ren Men­schen oder Din­gen ge­gen­über“, sag­te ich. „So wie es dem Be­kennt­nis ei­nes Be­richt­er­stat­ters ent­spricht. Die­se Se­rie wird ei­ne öf­fent­li­che Be­stä­ti­gung un­se­res Prin­zips dar­stel­len und so­mit al­len zur Eh­re ge­rei­chen, die den Um­hang tra­gen.“

Ich ver­mu­te, er miß­trau­te mir selbst noch an die­ser Stel­le. Sein ge­sun­der Men­schen­ver­stand lag im Wi­der­streit mit dem, was ich ge­sagt hat­te. Und das Bild der Selbst­lo­sig­keit, das ich ihm von mir ge­malt hat­te, muß für ihn zu grell und bunt ge­we­sen sein, da er wuß­te, daß ich kein Quä­ker bin.

Aber an­de­rer­seits be­nutz­te ich sei­ne ei­ge­ne Spra­che. Das her­be Ver­gnü­gen der Selbst­auf­op­fe­rung, die stoi­sche Ver­stüm­me­lung mei­ner ei­ge­nen per­sön­li­chen Emp­fin­dun­gen in der Wahr­neh­mung mei­ner Pflicht … das klang auf­rich­tig für sei­ne Glau­bens­grund­sät­ze, die ihn sein gan­zes Le­ben lang be­glei­tet hat­ten.

„Ich ver­ste­he“, sag­te er schließ­lich. Er stand auf und streck­te mir über den Tisch hin­weg die Hand ent­ge­gen, als ich mich eben­falls er­hob. „Nun, Be­richt­er­stat­ter, ich kann auch jetzt noch nicht be­haup­ten, daß wir uns freu­en, Sie hier zu se­hen. Aber in­ner­halb ver­nünf­ti­ger Gren­zen wer­den wir so weit wie mög­lich mit Ih­nen zu­sam­men­ar­bei­ten. Ob­gleich un­ser An­se­hen bei der Be­völ­ke­rung der vier­zehn Wel­ten ganz be­stimmt ge­schmä­lert wird von ei­ner Ar­ti­kel­se­rie, die sich mit der Tat­sa­che be­faßt, daß wir un­er­wünsch­te Be­su­cher auf ei­nem frem­den Pla­ne­ten sind.“

„Ich glau­be, das wird dies­mal nicht der Fall sein“, sag­te ich knapp, als wir uns die Hän­de schüt­tel­ten. Er ließ mei­ne Hand los und sah mich mit plötz­lich wie­der­auf­le­ben­dem Miß­trau­en an.

„Was ich zu schrei­ben be­ab­sich­ti­ge, ist ei­ne Se­rie von Leit­ar­ti­keln“, er­klär­te ich. „Sie wird den Ti­tel tra­gen Die Ur­sa­che der Be­set­zung von Neu­er­de durch Quä­ker-Trup­pen, und sie wird sich voll­kom­men dar­auf be­schrän­ken, die Be­weg­grün­de und Stand­punk­te von Ih­nen und Ih­ren Män­nern in der Be­sat­zungs­trup­pe zu schil­dern.“

Er starr­te mich an.

„Gu­ten Tag“, ver­ab­schie­de­te ich mich.

Als ich hin­aus­ging, hör­te ich sein halb ge­mur­mel­tes „Gu­ten Tag“ hin­ter mir. Ich wuß­te, daß ich ihn voll­kom­men im un­kla­ren dar­über ver­ließ, ob er nun auf ei­nem Pul­ver­faß saß oder nicht.

Doch sei­ne Skep­sis be­gann sich – ganz wie ich er­war­tet hat­te – zu le­gen, als der ers­te Ar­ti­kel der Se­rie in den Ver­öf­fent­li­chun­gen des In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten-Bü­ros er­schi­en. Es gibt einen Un­ter­schied zwi­schen den Ar­ti­keln ei­ner ge­wöhn­li­chen Re­por­ta­ge und ei­nem Leit­ar­ti­kel. In ei­nem Leit­ar­ti­kel kann man für den Teu­fel selbst ei­ne Lan­ze bre­chen. Und so­lan­ge man sich nicht per­sön­lich da­bei en­ga­giert, kann man sei­nen Ruf wah­ren, vor­ur­teils­frei zu sein.

Ich brach für die Sa­che der Quä­ker ei­ne Lan­ze, in ih­ren ei­ge­nen Be­grif­fen und Aus­drucks­for­men. Es war das ers­te­mal seit Jah­ren, daß in den In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten oh­ne her­ab­set­zen­de Kri­tik über die Sol­da­ten der Quä­ker ge­schrie­ben wur­de. Und na­tür­lich be­deu­te­te für die Quä­ker je­de her­ab­set­zen­de Kri­tik ei­ne Vor­ein­ge­nom­men­heit ih­nen ge­gen­über. Denn in ih­rer ei­ge­nen Le­bens­wei­se kann­ten sie kei­ne Kom­pro­mis­se, und des­halb ak­zep­tier­ten sie auch kei­ne bei Au­ßen­ste­hen­den. Als die Hälf­te der Ar­ti­kel mei­ner Se­rie er­schie­nen war, hat­te mich Kom­man­deur Was­sel und sei­ne Be­sat­zungs­trup­pen so in­nig ins Herz ge­schlos­sen, wie es ih­nen bei ei­nem Nicht-Quä­ker mög­lich war.

Na­tür­lich brach­te die Se­rie die Be­woh­ner von Neu­er­de ganz aus dem Häus­chen, und sie ver­lang­ten, daß ihr Stand­punkt in Hin­sicht auf die Be­set­zung eben­falls dar­ge­stellt wur­de. Und die Gil­de ver­sah einen sehr gu­ten Be­richt­er­stat­ter na­mens Mo­ha Ska­no­s­ky mit ge­nau die­sem Auf­trag.

Aber ich hat­te als ers­ter Ein­fluß auf die öf­fent­li­che Mei­nung ge­nom­men. Und die Ar­ti­kel hat­ten ei­ne so star­ke Wir­kung, daß sie bei­na­he auch mich, ih­ren Au­to­ren, über­zeug­ten. Wor­te ha­ben ei­ne ma­gi­sche Aus­strah­lungs­kraft, wenn sie nie­der­ge­schrie­ben wer­den. Und als ich die Se­rie be­en­det hat­te, er­war­te­te ich bei­na­he, in mir selbst so et­was wie Nach­sicht und Sym­pa­thie für die­se Män­ner zu fin­den, die so un­nach­gie­big an ih­rem spar­ta­ni­schen Glau­ben fest­hiel­ten.

Doch an den stei­ner­nen Wän­den mei­ner See­le hing noch im­mer das un­ge­schlif­fe­ne und ein­ge­wi­ckel­te Claid­he­amh mōr, das „große Schwert“, und das wür­de ei­ner sol­chen Schwä­che nicht nach­ge­ben.