10
Ich hatte von unserem Luftfahrzeug aus genug von diesem Teil des Geländes gesehen, um einigermaßen sicher zu sein, daß, was immer die Quäker oder die Cassidaner auch vorhatten, ihre Truppenbewegungen nicht im freien Gelände stattfinden würden. Also hielten wir uns an die Bäume und drangen von einer Mulde zur anderen vor.
Das bedeutete natürlich, daß wir nicht gerade auf unser Ziel losmarschieren konnten, das uns der Gruppenführer angedeutet hatte, sondern im Zickzackkurs, wie es unsere Deckung zuließ. Zu Fuß war dies ein langsamer und mühsamer Weg.
Gegen Mittag setzte ich mich etwas enttäuscht mit Dave hin, um den Inhalt unseres Lunchpakets zu verzehren. Bis zu dieser Stunde hatten wir keinen Menschen mehr erblickt – die letzten, auf die wir gestoßen waren, waren die Männer der cassidanischen Patrouille gewesen –, nichts gehört und nichts entdeckt. Wir waren von unserem demolierten Fahrzeug aus nur etwa drei Kilometer gegangen, waren aber wegen der bewaldeten Stellen etwa fünf Kilometer südwärts von unserem Kurs abgewichen.
„Vielleicht sind sie abgezogen – ich meine die Quäker“, bemerkte Dave.
Das sollte ein Scherz sein, wie ich feststellen konnte, als ich von meinem belegten Brot aufblickte und in sein grinsendes Gesicht schaute. Irgendwie brachte ich es fertig, sein Grinsen zu erwidern, weil ich das Gefühl hatte, daß ich ihm zumindest dies schuldig war. In Wirklichkeit gab er einen ausgezeichneten Assistenten ab, der den Mund hielt und es tunlichst vermied, irgendwelche Vorschläge aus Unkenntnis der Lage zu machen.
„Nein“, sagte ich, „da ist etwas im Busch – und ich war ein Narr, daß ich mich dazu verleiten ließ, mich von unserem Fahrzeug zu trennen. Es ist einfach nicht möglich, größere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Die Quäker haben sich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen zurückgezogen, zumindest in diesem Frontabschnitt. Wahrscheinlich wollten sie die Cassidaner hinter sich herlocken, schätze ich. Aber warum haben wir keine schwarzen Uniformen beim Gegenangriff zu Gesicht bekommen …“
„Horch!“ sagte Dave.
Er hatte den Kopf herumgedreht und die Hand gehoben, um mir Schweigen zu gebieten. Ich brach ab und horchte. In einiger Entfernung war da ein Laut, ein merkwürdiger Laut, der sich anhörte, als würde eine energische Hausfrau eine Decke ausklopfen.
„Es knallt!“ sagte ich, indem ich mich hochrappelte und den Rest unseres Picknicks einfach liegenließ. „Bei Gott, die führen etwas im Schilde! Schauen wir mal nach.“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und horchte in die Richtung, aus der die Laute gekommen waren. „Das war etwa hundert Meter weiter, da drüben rechts …“
Aber ich kam nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden. Dave und ich waren plötzlich von Donner und Blitz umgeben. Ich fand mich auf dem Moos liegend, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Dave lag auf dem Bauch und streckte alle viere von sich. Kaum ein paar Meter weiter war die Erde aufgewühlt, und die Bäume standen da, von oben bis unten gespalten, als wären sie infolge eines Innendrucks explodiert, das weiße Holz in ihrem Innern aufgerissen und zersplittert.
„Dave!“ Ich packte ihn und drehte ihn um. Er atmete, und während ich ihn noch beobachtete, schlug er die Augen auf. Seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Nase blutete. Wie er so blutend vor mir lag, spürte ich etwas Feuchtes an meiner Oberlippe, einen salzigen Geschmack im Mund. Ich tastete danach und merkte, daß auch aus meiner Nase Blut tropfte.
Mit der einen Hand wischte ich das Blut ab, während ich mit der anderen Dave auf die Beine half.
„Sperrfeuer!“ sagte ich. „Los, Dave! Wir müssen hier weg.“ Zum erstenmal wurde mir bewußt, was Eileen sagen würde, sollte es mir nicht gelingen, ihren Mann heil und unversehrt zurückzubringen. Ich war mir des Schutzes sicher, den mein geschulter Geist und meine spitze Zunge Dave zwischen den Kampflinien bieten konnte. Es ist aber kaum möglich, gegen eine Kanone anzugehen, die ein Gebiet von fünf bis fünfzig Kilometer bestreicht.
Schließlich brachte er es fertig, auf die Beine zu kommen. Er war der Einschlagstelle näher gewesen als ich, doch wirkt sich ein solches Geschoß glücklicherweise glockenförmig aus, wobei die Zone wie eine mit der Öffnung nach unten gestülpte Glocke aussieht, so daß wir uns beide am Rande dieses Gebietes befanden, in dem das plötzliche Ungleichgewicht zwischen Innen- und Außendruck stattfand. Nur war er etwas mehr benommen als ich. Wir schleppten uns weiter in jene Richtung, in der nach meinem Richtungsanzeiger die Linien der Cassidaner liegen mochten.
Schließlich hielten wir atemlos an und setzten uns für einen Augenblick hin, um zu verschnaufen. Immer noch konnten wir das Pumpern der Geschütze dicht hinter unserem Rücken vernehmen.
„… also schön“, sagte ich zu Dave. „Sie werden das Sperrfeuer einstellen und ihre Truppen entsenden, bevor sie mit ihren Waffen weiter vordringen. Gegen Truppen können wir etwas unternehmen, doch gegen Kanonen und Panzer haben wir keine Chance.
Da können wir auch gleich hier sitzen bleiben, uns still verhalten und dann die Front abgrasen, um auf die Cassidaner oder auf die erste Welle der Quäker zu stoßen – je nachdem, wem wir zuerst in die Arme laufen.“
Er schaute mich an, und zunächst konnte ich seinen Blick nicht deuten. Dann aber mußte ich zu meiner Verwunderung feststellen, daß so etwas wie Bewunderung in seinem Blick lag.
„Du hast mir soeben das Leben gerettet“, sagte er.
„Ich habe dein …“ Ich brach ab. „Schau, Dave, ich bin der letzte, der nicht alles versucht, wenn Not am Mann ist. Diese Explosion hat dich einfach kurz aus den Pantinen gekippt.“
„Aber du hast genau gewußt, was in einem solchen Fall zu tun ist“, meinte er. „Und du hast dabei nicht nur an dich gedacht. Du hast auf mich gewartet, bis ich wieder einigermaßen auf den Beinen stehen konnte, und hast mir aus dem Schlamassel geholfen.“
Ich schüttelte den Kopf und beließ es dabei. Wenn er mich des Versuchs beschuldigt hätte, meine eigene Haut zu retten, so hätte ich mir die Mühe gemacht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Da er sich aber nun für den anderen Weg entschieden hatte, ließ ich ihm seinen Willen. Wenn er mich als selbstlosen Helden sehen wollte, dann bitte sehr, warum auch nicht?
„Mach dich fertig“, sagte ich. „Gehen wir.“
Wir rappelten uns hoch, standen etwas unsicher auf den Beinen – denn wir hatten zweifellos etwas abgekriegt – und marschierten dann südwärts in einem Winkel, um einem möglichen Widerstand der Cassidaner auszuweichen, sollten wir uns wirklich so nahe an die Vorposten herangepirscht haben, wie es der Patrouillenführer angedeutet hatte.
Nach einer Weile war das Trommelfeuer nicht mehr zu unserer Rechten, sondern direkt vor uns zu hören, bis es schließlich in der Ferne erstarb. Ich war ins Schwitzen geraten und hoffte inständig, daß wir auf die Cassidaner stoßen würden, bevor uns die Infanterie der Quäker überrannte. Die Geschichte mit der Explosion hatte mir gezeigt, welche Rolle der Zufall bei Tod und Verwundung auf dem Schlachtfeld spielt. Ich hätte Dave am liebsten sicher in irgendeinem Unterstand gewußt, damit ich die Möglichkeit hatte, mit einem der Männer in schwarzer Uniform zu sprechen, bevor die Schießerei losging.
Für mich bestand kaum eine Gefahr. Meine rot-weiße Berichterstatteruniform wies mich als Zivilisten aus, sofern ich gesehen werden konnte. Dave dagegen trug immer noch die feldgraue Uniform der Cassidaner, wenn auch ohne irgendwelche Rangabzeichen und mit der weißen Armbinde des Nichtkämpfers. Ich kreuzte abergläubisch die Finger und wünschte uns Glück.
Der Zauber wirkte, aber nicht in der Form, daß wir einen cassidanischen Unterstand erreicht hätten. Ein schmaler Waldstreifen, der sich an einem Hügelrücken hinanzog, führte uns zum Grat hinauf, und eine gelbrote Stichflamme, die in der Dämmerung unter den Bäumen einige Meter vor uns aufloderte, bot uns plötzlich Einhalt. Ich stieß Dave buchstäblich zu Boden, indem ich ihm die Faust in den Rücken bohrte, blieb stehen und winkte mit beiden Armen.
„Nachrichtendienst!“ rief ich. „Ich bin von den Interstellaren Nachrichtendiensten! Ich bin Zivilist!“
„Ich weiß, daß Sie ein verdammter Berichterstatter sind“, erwiderte eine ängstliche, vorsichtige Stimme. „Kommen Sie beide her, und seien Sie leise!“
Ich reichte Dave die Hand, half ihm auf die Beine und stolperte, immer noch halbblind von dem Feuerstrahl, in Richtung der Stimme. Im Gehen begann ich wieder klarer zu sehen, und zwanzig Schritte weiter fand ich mich hinter dem meterdicken Stamm einer gewaltigen Birke wieder, Auge in Auge mit dem cassidanischen Gruppenführer, der mich schon einmal vor den Quäker-Linien gewarnt hatte.
„Schon wieder Sie!“ sagten wir beide fast gleichzeitig. Doch dann änderte sich die Lage, indem er mir mit leiser, leidenschaftlicher und fester Stimme vorhielt, was er von solchen Zivilisten hielt, die sich zwischen den Fronten in einem Kampfgebiet verfransten.
Ich aber hörte kaum hin und versuchte, meine fünf Sinne zusammenzuklauben. Zorn ist Luxus – und der Gruppenführer mochte zwar ein guter Soldat sein, hatte aber anscheinend diese elementare Weisheit noch nicht gelernt.
„Es geht darum“, sagte er grimmig, „daß Sie mir überantwortet sind. Was soll ich jetzt mit Ihnen anfangen?“
„Nichts weiter“, erwiderte ich. „Wir sind auf eigene Gefahr hier, um zu beobachten. Und das wollen wir auch durchführen. Sagen Sie uns, wo wir uns am besten eingraben können, und das wäre dann auch alles, was Sie für uns tun müssen.“
„Worauf Sie Gift nehmen können!“ sagte er böse, doch mir kam es eher so vor, als spuckte er den letzten Rest seines Zorns aus. „Na schön. Dort drüben, hinter den Männern, die sich hinter diesen beiden Bäumen verschanzt haben. Und bleiben Sie in Ihrem Loch, sobald Sie eins haben!“
„In Ordnung“, sagte ich. „Doch bevor wir aufbrechen, beantworten Sie mir noch eine einzige Frage: Was haben Sie eigentlich auf diesem Hügel zu suchen?“
Er blitzte mich an, als wäre meine Frage eine Zumutung. Doch die innere Erregung, die immer noch in ihm arbeitete, förderte dennoch eine Antwort zutage.
„Den Hügel halten, was denn sonst?“ meinte er und sah aus, als wollte er ausspucken, um den Geschmack dieser Worte loszuwerden.
„Den Hügel halten? Mit einer Patrouille?“ Ich starrte ihn an. „Sie können doch unmöglich mit einer Handvoll Leuten diese Stellung halten, wenn die Quäker anrücken!“ Ich wartete, aber er sagte nichts. „Oder was meinen Sie?“
„Natürlich nicht“, erwiderte er, und diesmal spuckte er wirklich aus. „Aber wir müssen es versuchen. Es wäre besser, wenn die Schwarzhelme Ihre Kleidung sehen könnten, sobald sie den Hügel heraufkommen.“ Er wandte sich dem Mann zu, der das Meldegerät bediente. „Rufen Sie das Hauptquartier an“, hörte ich ihn sagen. „Sagen Sie ihnen, wir hätten ein paar Leute von den Nachrichtendiensten bei uns.“
Ich notierte mir Namen und Einheit sowie die Namen der Mitglieder seiner Patrouille. Dann führte ich Dave zu der Stelle, die uns der Gruppenführer gezeigt hatte, und wir begannen uns einzugraben wie die Soldaten um uns herum. Außerdem breitete ich meinen Umhang vor unserem Fuchsbau aus, wie mir der Gruppenführer geraten hatte. Vom Hochmut bis zum Wunsch zu überleben ist es nur ein Schritt.
Von unserer Stellung aus konnten wir über den steilen Abhang des bewaldeten Hügels auf die Linien der Quäker hinunterschauen. Der Hügel war mit Bäumen bewachsen, die auch den nächsten Hügel bedeckten. Doch weiter unten war ein alter Erdrutsch, der wie eine Miniaturklippe aus der Landschaft ragte und das gleichmäßige Laubdach der Bäume unterbrach, so daß wir zwischen den Baumstämmen, die aus dem oberen Rand des Erdrutsches emporragten, bis zum unteren Rand blicken konnten und freie Sicht auf das Panorama von bewaldeten Hängen und offenem Feld bis zum fernen grünen Horizont hatten, hinter dem sich vermutlich jene Kanone verbarg, die Dave und mich in die Flucht gejagt hatte.
Dies war das erstemal, daß ich eine gute Übersicht über die Lage hatte, seitdem ich unser Fahrzeug auf Grund gesetzt hatte, und ich war eifrig bemüht, das Gelände durch mein Fernglas zu studieren. Dabei entdeckte ich, daß sich zwischen den Baumstämmen im Tal, das die beiden Hügel voneinander trennte, etwas rührte. Ich konnte zwar nichts Bestimmtes feststellen, doch gleichzeitig merkte ich, daß die Soldaten, die in ihren Stellungen direkt vor uns lagen, ebenfalls etwas gemerkt haben mußten, aufgescheucht wahrscheinlich durch einen ihrer Kameraden, der das Infrarot-Suchgerät bediente. Wahrscheinlich zeigte der Bildschirm des Geräts die Wärmespuren von Menschen an, vermischt mit jener Wärmestrahlung, die die Pflanzen und der Boden aussandten.
Die Quäker hatten uns entdeckt. Wenige Sekunden später bestand darüber kein Zweifel mehr, denn ich konnte selbst durch mein Fernglas schwarze Flecken erkennen, sobald ihre Soldaten sich ihren Weg bergauf zu unserer Front zu bahnen begannen und die Waffen der Cassidaner zu stottern ansetzten, um den Angriff abzuwehren.
„Runter!“ sagte ich zu David.
Er hatte versucht, sich aufzurichten, um Ausschau zu halten, weil er der Meinung war, wenn ich es tat, dürfte er es auch. Natürlich lag mein Umhang vor beiden Löchern ausgebreitet, aber ich hatte auch die rot-weiße Kokarde an mein Barett gesteckt, und außerdem glaubte ich eher an meine Fähigkeiten zu überleben als an die seinen. Jeder Mensch hat solche Momente, wo er sich unverwundbar vorkommt, und so erging es mir in jenem Augenblick dort im Fuchsbau angesichts der angreifenden Quäker-Truppen. Ferner nahm ich an, daß der Angriff der Quäker und ihr Vordringen nur von kurzer Dauer sein würden.
Meine Erwartungen sollten sich erfüllen.