I.

Es war ein düsterer Morgen. Im Laufe des Tages verzog sich der Nebel nur teilweise, alles blieb grau in grau. Dazu blies ein eisiger Wind, der Budka bei seinem Rundgang ziemlich zu schaffen machte. Kein Wunder, schließlich stagnierte die Quecksilbersäule des Thermometers bei der Nullgradgrenze. Ein Tag, der für ihn auch deshalb beschwerlich war, weil er von der überlangen Silvesternacht einen Kater hatte. Seine Gliedmaßen fühlten sich noch steifer an, als sie es ohnehin schon aufgrund der Kälte waren. Da half nur rasches Gehen, fast Laufen, zwischen den einzelnen Kunden, die er zu beliefern hatte. Konnte man zu diesen Unglücklichen, die er besuchte, eigentlich Kunden sagen? Er wusste es nicht. Es blieben für ihn eher Stationen, wo er sich kurz aufwärmen konnte, bevor er wieder hinaus in die winterliche Kälte trat. Wer aber waren diejenigen wirklich, die ihm seinen Stoff abnahmen? In Wahrheit, so dachte er, war sein Erscheinen eine Art Zwangsbeglückung. Die meisten von ihnen mussten auf jeden Heller schauen, den sie ausgaben. Zusätzlich mussten sie Brennmaterial sparen und konnten nur wenige Stunden am Tag ihre jämmerlichen Öfen beheizen. Ja, das Leben war verdammt teuer geworden in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Und während die Reichen immer reicher wurden und immer prunkvollere Gebäude rund um die Innenstadt beziehungsweise immer weitere Mietskasernen am Rande der Stadt bauen ließen, kämpfte ein großer Teil der Wiener Bevölkerung ums nackte Überleben. An diese unerfreuliche Tatsache wurde er erinnert, als er in der Kalvarienberggasse in eine Demonstration der Schneidermeister geriet. Eine Gruppe von gut 300 Menschen lärmte und brüllte vor dem Gebäude der Herrenkonfektionsfabrik Lischauer. Einige Sicherheitswachleute standen dabei und schauten unbeteiligt zu. Man sah ihnen an, dass sie sich lieber in der warmen Stube eines Kommissariats aufgehalten hätten, als hier draußen im eisigen Wind. Was für ein Jahr würde 1911 werden, wenn es schon am Neujahrstag mit einem Streik und einer Demonstration begann?

 

Trotzdem setzte er ein bemüht freundliches Lächeln auf, stets darauf bedacht, dass es kein Grinsen war, wenn er an die Tür einer seiner Stationen klopfte oder im Falle eines etwas besseren Hauses an der Tür klingelte. Er wünschte ein gutes Neues Jahr, fragte höflich nach dem allgemeinen Befinden, obwohl ihm das völlig egal war und verkaufte dann eines der Machwerke, die er mit sich führte. Es handelte sich um Kolportageromane, die in wöchentlichen Fortsetzungen erschienen. Das simple Handlungsmuster dieser Schundromane war immer so gestrickt, dass am Ende eines Heftes– unmittelbar vor den Worten ›Fortsetzung folgt‹– die Spannung enorm war. So wurden die Leser und Leserinnen zum Kauf des nächsten Heftes animiert. Manche waren süchtig danach. Woche für Woche warteten sie voll Sehnsucht und Spannung auf das Erscheinen des Kolporteurs, damit er ihnen neuen Lesestoff lieferte, der sie zum Träumen oder auch zum Vergessen ihrer eigenen kümmerlichen Existenz anregte. Es waren Titel wie ›Die Königstochter im Irrenhaus‹, ›Um der Liebe willen verstoßen und geächtet‹, ›Fetzer, der größte deutsche Räuberhauptmann des 19. Jahrhunderts‹, ›Der Henker von Berlin‹ oder ›Kätchen Schneider‹. Letzterer war ein Dienstmädchenroman, der von eben jenen gekauft und mit Begeisterung gelesen wurde. Ein Umstand, den er nicht verstand. Er selbst würde nie einen Roman über seinesgleichen lesen. Über Gauner, Räuber, Diebe, Strizzis und Totschläger. Die Kreise, in denen er verkehrte, interessierten ihn nicht. Elend und Verbrechen begleiteten ihn von Kindesbeinen an. Sie waren ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte. Heute weniger denn je. Denn wenn man, so wie Budka, mehrmals im Zuchthaus gesessen hatte, bot einem das Leben nur mehr sehr eingeschränkte Möglichkeiten. »Es ist eh völlig Blunzen1, ob’s d’ ehrlich bleibst oder nicht, ein armer Hund bleibt ein armer Hund…«, murmelte er, als er eine ebenerdig gelegene, nach Moder riechende Zimmer-Küche-Wohnung betrat. Hier hauste ein zaundürrer Schneidermeister mit Frau und drei Kindern. Die eineinhalb Räume dienten als Wohnung und Werkstatt zugleich. Infolge des Streiks arbeitete der Schneider heute ausnahmsweise nicht. Er saß stumpfsinnig vor sich hinstarrend am Küchentisch, zwei seiner Kinder plärrten in dem unwirtlich kalten Zimmer. Die Aussicht, mittels des Schundromans der tristen Wirklichkeit für ein paar Stunden entfliehen zu können, hellte des Schneidermeisters Miene auf. Seiner mürrisch dreinschauenden Frau nahm er 14 Heller ab. So viel kostete die siebzigste Fortsetzung des Romans ›Fetzer, der größte deutsche Räuberhauptmann des 19. Jahrhunderts‹. Mit stark tschechischem Akzent sagte er:

»Sehr schene Roman. Sehr schen… Da mit die Fetzer lernt ich Deitsch.«

 

Das Ende seines Rundgangs führte Budka in die besseren Wohngegenden diesseits des Gürtels. Hier waren Beamtenwitwen, gelangweilte Hausfrauen, Gouvernanten, Köchinnen und Dienstmädchen seine Kundinnen. Die männlichen Bewohner konnten sich in der Regel den Besuch eines Kaffeehauses leisten. Dort lagen Zeitungen und Zeitschriften auf, die reichlich Lesestoff boten oder man traf Freunde und Bekannte, mit denen man diskutieren und politisieren konnte. Kurz: Wer ins Kaffeehaus ging, stand selbst mitten im Leben. Die Lektüre eines Kolportageromans erübrigte sich somit.

Er lief Stiegenhäuser hinauf und hinunter, trotz des kalten Wetters stand ihm der Schweiß auf der Stirne. Ungeduldig sah er der letzten Station seiner Tour entgegen. Nicht, dass ihn Frau Schmidt, die ihn dort erwartete, sonderlich interessiert hätte. Sie war eine fette, viel zu stark parfümierte Hofratswitwe mit mehrfachem Doppelkinn und Froschaugen. Bis auf einmal, als eine elegante, etwas jüngere Frau bei ihr zu Besuch war, lag sie immer faul auf einem Kanapee im Salon, döste vor sich hin und stopfte mit ihren kleinen dicken Fingern Konfekt in sich hinein. Diese letzte Kundin wohnte in einer herrschaftlichen Wohnung in der Zeismannsbrunngasse. Das Dienstmädchen ließ ihn ein und führte ihn in den Salon der Wohnung, wo die Dame des Hauses mit dünnem Lächeln seine Neujahrswünsche und die neueste Folge des französischen Räuberromans ›Cartouche‹ entgegennahm. Mit einer müden Handbewegung gab sie ihm 14 Heller, das Dienstmädchen geleitete ihn wieder zur Wohnungstür. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er tief durch. Mit vor Aufregung wackeligen Beinen ging er ein halbes Stockwerk hinunter. Dort befand sich ein großes Fenster mit einem ziemlich tiefen Fensterbrett, auf dem Blumentöpfe mit prächtigen, alten Kakteen standen. Bösartige, stachelige Gfraßter2, die nur darauf lauerten, jeden, der ihnen zu nahe kam, zu stechen. Vorsichtig, ganz vorsichtig hob er die Untertasse des rechten, äußeren Blumentopfes. Und da blitzte es: ein weißes Kuvert. Gierig griff er mit der anderen Hand danach, fischte es hervor und streifte dabei einen fünf Zentimeter langen Stachel. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei, ließ das Kuvert fallen und lutschte an der verletzten Stelle. Es schien ihm, als ob der Kaktus hämisch grinste. Zornig zückte er sein Messer, um das stachelige Monstrum zu zerstückeln. Im letzten Augenblick beherrschte er sich. Nur nicht auffallen! An seinem Handrücken lutschend, hob er das Kuvert auf.

»Da schau her…«, murmelte er, als er nicht nur die Anzahlungsrate von zwei 50-Kronen-Scheinen fand, sondern auch ein Stück Papier, das bei den Geldscheinen lag. Er hielt es zum Licht und las:

Friederike Nemec muss ebenfalls sterben. Sie arbeitet im Verschleißmagazin des Ersten Wiener Consum-Vereins in Wien V, Pilgramgasse 16.

Leise pfiff er durch die Zähne und steckte den Mordauftrag mit Namen und Adresse des Opfers ein. Er kratzte sich am Kopf, kramte aus seiner Hosentasche einen Bleistiftstumpf hervor und kritzelte auf das Kuvert:

Wird gemacht. Fir dopeltes Honnorar.

Diese Antwort schob er unter den Blumentopf. Er machte es so vorsichtig, dass kein Stachel ihn verletzen konnte. Dafür erntete er vom Kaktus einen griesgrämigen Blick.