XXI.

Langsam, ganz langsam landete er aus dem Reich der Träume im Hier und Jetzt. Sonnenstrahlen kitzelten sein Gesicht und mit verschlafenen Augen blinzelte er in das ihn umflutende Tageslicht. Oprschalek befand sich in Bozenas Dienstbotenkammerl, in dem er seit nunmehr zwei Monaten wohnte. Solange befand er sich nun schon in György Friedmanns Diensten. Das Arbeitsverhältnis war nicht ganz friktionsfrei, da Friedmann hin und wieder den Herrn Direktor hervorkehrte. Das konnte Oprschalek überhaupt nicht ausstehen. Meistens schluckte er seinen Grant hinunter. Einmal jedoch hatte er auch Friedmanns linke Hand zur Strafe gequetscht– diesmal nicht mit der Schreibtischlade, sondern mit der Bürotür. Ein anderes Mal hatte er ihn beim Koitus mit einem höchstens 12jährigen Mädchen auf der Chaiselongue des Direktorenzimmers überrascht. Da Friedmann ihn angebrüllt hatte, was er sich erlaube, hier einfach hereinzuplatzen, waren Oprschalek die Nerven durchgegangen und er hatte ihn mehrmals ins Gemächt getreten. Seit damals war Friedmann um einen höflichen Ton bemüht. Oprschalek musste grinsen, als er sich an den vor ihm zusammengekrümmt daliegenden und wimmernden Herrn Direktor erinnerte. ›So sollte man mit allen Direktoren dieser Welt verfahren‹, dachte er sich, als er aufstand und sich anzog. Nachdem er das Klo am Gang frequentiert, sich im Lavoir im Zimmer das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und sich danach sorgfältig rasiert hatte, nahm er zur Feier des Tages ein frisches Hemd. Bozena war wirklich ein Schatz! Sie wusch, nähte und bügelte seine Wäsche und sorgte sich generell rührend um ihn. Gerade als er fertig angezogen war, wurde die Tür vorsichtig geöffnet und Bozena lugte herein.

»Hast gut g’schlafen?«

Statt eine Antwort zu geben, nahm er sie in die Arme und küsste sie. Sanft löste sie sich aus der Umarmung und sagte:

»So gut g’schlafen hast? Na, dann wünsch’ ich einen schönen Tag! Muss weiter tun… Muss Zimmer kontrollieren. Ob d’ Mädeln ordentlich sauber g’macht haben.«

Er sah ihr nach und atmete tief durch. Durch das offene Zimmerfenster strömte wunderbar milde Sommerluft in seine Lungen und er fühlte etwas, was er schon lange Zeit nicht mehr gespürt hatte: Glück und Zufriedenheit. Entspannt pfeifend stieg er die Treppen hinunter und dachte sich: ›Man muss die Leut’ nur ordentlich karniffln94 und in die Goschen hauen, dann bringt man was weiter im Leben…‹. In der Portierloge saß Bela Kis und döste vor sich hin. Oprschalek rief im Vorbeigehen:

»Bela, mein Alter! Verschlaf’ den schönen Tag nicht!«

Der Portier blinzelte müde und antwortete:

»No? Samma gut aufgelegt heute?«

Er trat kurz zur Seite, denn Mayrleeb schleppte schwitzend zwei Koffer bei der Hoteltüre herein. Oprschalek klopfte ihm auf die Schulter und fragte:

»Na, wie geht’s?«

»Net so gut wie dir. Ich muss ja barabern95…«, grantelte Mayrleeb und schleppte fluchend die Koffer die Stiegen hinauf. Oprschalek ließ sich die gute Laune nicht verderben. Er wandte sich an Kis und sagte grinsend:

»Ich geh’ ums Eck ins Café frühstücken. Wenn ein depperter Kiberer** nach mir fragen sollte, erzähl’ ihm wieder so ein G’schichterl. Wie das mit dem Herrn aus Budapest. Das war gut…«

Kis grinste nun ebenfalls und murmelte:

»Die Kiberer sind olle deppert…«

Im Kaffeehaus bestellte er sich zwei Eier im Glas sowie zwei Butterbrote und einen großen Mokka. Die Brote kamen dick mit Butter bestrichen und in appetitliche Happen geschnitten. Er genoss das weiche Eigelb, das sich samtig auf Gaumen und Zunge anfühlte. Einen reizvollen Kontrast bildete der bitterherbe Geschmack des großen Mokkas, dem er nur eine kleine Prise Zucker zugefügt hatte. Zucker setzte er beim Kaffee wie ein teures Gewürz ein: in kleinen, feinen Dosen. Denn er wollte nicht, dass der Zucker die zarten Bitterstoffe des Kaffeearomas überdeckte. Wiederum atmete er voll Glück und Zufriedenheit durch. Er griff sich die heutige Zeitung und blätterte darin ohne sonderliches Interesse. Dann schaute er eine Weile beim Fenster hinaus und beobachtete die Haufenwolken, die am Himmel aufzogen und schlussendlich die Sonne mit ihren blauschwarzen Wölbungen verhüllten. Als die ersten schweren Regentropfen auf das dampfend heiße Pflaster platschten, sah er eine vertraute Gestalt über den Radetzkyplatz in Richtung Hoteleingang laufen. Wenig später eilte Franz Schottek dann vom Hotel ins Kaffeehaus. Oprschalek begrüßte ihn grinsend:

»Na, samma ein bisserl nass geworden?«

Schottek ließ sich seufzend auf einen Bugholzsessel fallen:

»Derzeit komm’ i dauernd vom Regen in die Traufe.«

»Was hast denn? Was is’ passiert?«

»Sie haben mich rausgeschmissen… bei der Nordbahn. Seit gestern bin i nimma Lohnschreiber, sondern arbeitslos…«

Oprschalek runzelte die Stirne. Also wirklich, warum belästigte ihn der Kerl mit seinen Problemen? Wo das doch so ein wunderbarer Tag war! Arbeitslos? Da konnte er nur lachen…

»Such dir halt eine neue Arbeit. Wirst schon eine finden, als Lohnschreiber…«

Der Kellner kam und fragte Schottek, was er bestellen wolle. Dieser wand sich vor Verlegenheit und bestellte schließlich einen kleinen Braunen. Oprschalek, der das beobachtet hatte, hatte kurz die Versuchung gespürt, Schottek auf ein Frühstück einzuladen. Doch dann dachte er sich: ›Der Tachinierer soll sich’s gefälligst selber zahlen…‹. Es folgte ein bleiernes Schweigen. Oprschalek blätterte in der Zeitung, während ein Stakkato von dicken Regentropfen an die Fensterscheiben trommelte. Nach den ersten paar Schlucken Kaffee kehrten die Lebensgeister in Schottek zurück und er fuhr fort zu lamentieren:

»Du weißt doch… Ich hab mir bei der Nordbahn ein paar Unregelmäßigkeiten geleistet. Deswegen haben’s mir gestern den G’stiß96 gegeben. Und in die Entlassungspapiere haben s’ hineing’schrieben, dass ich unzuverlässig bin. Damit is alles aus! Damit find i nie mehr eine Arbeit. Jetzt kann i mi’ nur mehr aufhängen oder in die Donau stürzen…«

Die letzten Worte hatte auch jener Gast gehört, der gerade im Café Hungaria vor dem Gewitter draußen Zuflucht gesucht hatte. Jovial lächelnd, trat er auf Oprschalek und Schottek zu und sagte:

»Was hör’ ich da? Wer will sich in die Donau stürzen?«

Oprschalek sah von der Zeitung auf und war erleichtert:

»Servus, Budka! Komm, setz dich her zu uns. Schön, ein lachendes Gesicht zu sehen. Weil der Schottek is heut mit den Nerven ganz parterre. Der is’ in einer hundsmiserablen Verfassung. Vielleicht kannst du ihm helfen…«

Budka setzte sich, rief den Kellner, bestellte einen Tee mit Rum und fragte:

»Also, Schottek erzähl… was is’ los?«

»Sie ham mich ausseg’haut bei der Nordbahn. I bin hack’nstad97

Oprschalek sah, dass Budka kurz nachdachte und dann sagte:

»Das is’ a Pech. Aber wennst willst, setz ich mich für dich ein, dass du eine Arbeit als Kolporteur von Schundromanen bekommst. Schau mich an, ich verdien’ mir unter anderem damit mein Geld…«

»So gut kann man da verdienen…?«

»Das ist eine Basis. Wennst dir noch die eine oder andere zusätzliche Hack’n98 suchst, kannst davon leben.«

›Wenn der Budka nur von seinen Schundromanen leben müsst’, könnt’ er sich nicht das Logieren in einem Hotel leisten. Der verdient sein Geld ganz woanders. Würd’ mich interessieren, wo und wie…‹, sinnierte Oprschalek.

»Die bei der Nordbahn sind solche Gfraßter. Am liebsten tät ich den ganzen Holzlagerplatz anzünden!«

›Da schau her…‹, dachte sich Oprschalek, ›der Schottek ist auf den Geschmack gekommen…‹ Noch mehr verblüffte ihn aber die Reaktion von Budka. Der rückte plötzlich dicht zu Schottek hin, legte ihm einen Arm um die Schulter und sagte leise:

»Das ist durchaus machbar… Aber schrei’ bitte nicht so laut im Lokal herum. Willst noch was trinken, komm, ich lad’ dich ein!«

Freudestrahlend bestellte Schottek eine Melange und unterhielt sich mit Budka über das Gelände und die örtlichen Gegebenheiten des Nordbahn Holzlagerplatzes. Oprschalek war das zu fad. Er beschloss, ein Mittagsschläfchen zu machen. Er zahlte, verabschiedete sich von den beiden und lief eiligen Schrittes durch den Regen ins Hotel. Dort sah er Bela Kis finster dreinschauend hinter dem Portierspult sitzen.

»Na, Bela, altes Haus… Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Schau doch ein bisserl freundlicher…«

Kis sagte keinen Ton, sondern starrte ihn blöde an. Plötzlich erkannte Oprschalek die Angst in Kis’ Augen. Nackte Angst. Instinktiv wollte Oprschalek das Hotel wieder verlassen. Doch wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich die hünenhafte Figur des Inspectors Nechyba vor ihm. Der Kiberer aus seinem Gretzel99, der schon am Karmelitermarkt hinter ihm her gewesen war! Er drehte sich um und sah, dass hinter Kis plötzlich der kleine, dürre Polizist von neulich stand. Er hielt eine Pistole in der Hand, die er auf Oprschalek richtete. Er hörte Nechybas Stimme:

»Schluss mit den Tanz100 und den Spassettl’n! Oprschalek, jetzt bist Meier.101«

Oprschalek wandte sich den Stiegen zu, doch dort stand ein baumlanger Polizeiagent und von hinten aus dem Direktionsbüro trat ein weiterer heraus. Hinter ihm konnte Oprschalek das vor Angst käseweiße Gesicht des Herrn Direktor Friedmann erkennen. Hektisch drehte er sich nun nach allen Seiten um, um einen Fluchtweg zu finden. Doch da spürte er den eisernen Griff von Nechybas Hand, der ihn beim Schlaffitchen102 packte. Oprschalek wollte den Inspector in den Unterleib treten, erwischte ihn jedoch nicht so richtig. Nechyba lockerte seinen Griff und gleich darauf krachte seine Faust in Oprschaleks Gesicht. Dem wurden die Knie weich und er stürzte zu Boden.

»Schnappt ihn!«, hörte er den Inspector brummen und fühlte, wie ihn vier Hände packten und hochzogen. Dann schlug der kleine, dürre Kiberer ihm die Faust in den Magen. Oprschalek rang nach Luft, während die zwei großen Polizeiagenten ihn eisern festhielten. Er hörte Nechyba zu Kis sagen:

»Du bist der depperte Portier, der uns ang’schmiert103 hat, gell? Du kommst auch mit! Dir werden wir schon beibringen, der Polizei die Wahrheit zu sagen. Pospischil, schnapp ihn.«

Oprschalek sah, wie der kleine Kiberer auf Kis zutrat und ihm eine saftige Ohrfeige gab. Der Portier taumelte, griff aber wieselflink nach einem Sessel, warf ihn dem Polizisten entgegen und verschwand. Oprschalek spürte, wie sich die Griffe, die ihn hielten, lockerten. Einer der beiden langen Agenten lief Kis nach. Nechyba brüllte:

»Macht’s ihn Meier! Verdammt noch einmal, macht’s ihn Meier!«

In diesem Augenblick trat Oprschalek dem Polizeiagenten, der ihn festhielt, gegen das Schienbein. Ein Schrei. Der Griff lockerte sich. Oprschalek schlug ihm ins Gesicht. Der Polizist taumelte. Oprschalek rannte. An Friedman vorbei in dessen Büro hinein. Hin zum offenen Fenster! Sprung in den Hinterhof. Hinaus bei der Hoftür. Durch den Gang. Ins Café Hungaria. Durch das Café. Verblüffte Gesichter. Raus aus der Tür und weg.