V/2.
Gut ausgeschlafen war er heute Morgen aufgewacht. Nach einer erfrischenden Gesichts- und Oberkörperwäsche rief er das Dienstmädel, das ihm neue Unterwäsche brachte: blütenweiß gewaschen und frisch gebügelt. So wie er es liebte und worauf er viele Jahrzehnte seines Lebens hatte verzichten müssen. Aber das Blatt hatte sich gewendet! Nun war er der, der anschaffte. Gut gelaunt, marschierte er über den Spittelberg zur Mariahilfer Straße und stieg dann über die Fillgrader Stiege, eine innerstädtische Treppenanlage im modernen sezessionistischen Stil, hinab ins Wiental. Im Café Dobner vis-à-vis des Naschmarktes genoss er ein Frühstück mit zwei Eiern im Glas und einem dicken Butterbrot, das in appetitliche Schnitten zerteilt war. Mit Bedacht streute er auf jede dieser Schnitten eine winzige Prise Salz. Dazu schlürfte er nun schon seine zweite Melange. Und da er nichts Besseres zu tun hatte, griff er zur ›Neuen Zeitung‹, deren Titelblatt ein Portrait Kaiser Franz Josefs sowie eine Szene aus der Wiener Neustädter Militärakademie zierten.
»Jessas, heut ist ja der 18.! Der Kaiser hat Geburtstag…«, murmelte Budka und überflog mit Widerwillen den zur Illustration passenden Leitartikel. Die folgenden Absätze stachen ihm besonders ins Auge:
Die Empfindungen, die der achtzehnte August in uns Oesterreichern weckt, können sich nicht verändern, sondern nur immer mehr vertiefen, je öfter wir diesen Tag schon erlebt haben.
Unser Kaiser hat die große geschichtliche Aufgabe, welcher er sein ganzes Leben hingegeben hat, noch zu vollenden und so sein Werk zu krönen. Er ist dazu berufen, die schweren und langwierigen Kämpfe, welche die Emporentwicklung des alten Oesterreich zum modernen Staatswesen begleiteten und hemmten, zum Abschluß zu bringen und den Völkern, die an diese Kämpfe ihre besten und edelsten Kräfte verschwendet haben, die beglückende Aussicht auf eine lange Epoche inneren Friedens, schöpferischer Arbeit und reicher Kulturblüte zu eröffnen.
Aber nicht nur für Oesterreich allein, auch für ganz Europa ist unser Kaiser eine Persönlichkeit von tief- und weitreichender Bedeutung. Friede ist in ihm und Friede geht von ihm aus…
»In Ewigkeit, Amen…«, brummte Budka und ärgerte sich. Je älter der Kaiser wurde, desto sakraler fielen die Lobhudeleien zu seinen diversen Jubiläen aus. »Jetzt fehlt nur noch, dass sie ihn irgendwann einmal selig sprechen…«, grummelte er und sein Blick fiel auf den zweiten Artikel, der sich auf der Titelseite der ›Neuen Zeitung‹ befand und dessen Überschrift ›Der Schacher ums Fleisch‹ lautete:
Die Vertreter der österreichischen Regierung sind resultatlos aus Budapest zurückgekehrt. Die Herren, welche die magyarische Regierung vertreten, sind wirklich von dem Irrtum beseelt, dass sie glauben, wegen der Einfuhrbewilligung von 800 Tonnen argentinischen Fleisches wird Oesterreich sich vollkommen ausplündern lassen.
Ungarn fordert einen ganzen Rattenschwanz von Entschädigungen für die Zustimmung, dass das gefrorene Fleisch »nicht seuchenfrei« sei.
»Entschuldigen Sie, ist da noch ein Platz frei?«
Budka sah von der Zeitung auf, wunderte sich, warum der elegant gekleidete Herr sich gerade zu ihm an den Kaffeehaustisch setzen wollte, grunzte ein nicht sehr begeistert klingendes »Bitteschön…« und widmete sich weiter der Lektüre:
Erstens wollten die Magyaren die Zustimmung zu dem Annaberger Anschlusse an die Kaschau-Oderberger Bahn, zweitens massenhaft tarifarische Konzessionen, drittens eine Vereinbarung über die Behandlung magyarischer Schiffahrtsunternehmungen in Oesterreich und viertens allgemeine wirtschaftliche Zugeständnisse erreichen.
Wir haben schon wiederholt betont: Das berüchtigte Beck’sche Geheimabkommen betrifft nur Vorsichtsmaßnahmen gegenüber einer Verseuchung des österreichisch-ungarischen Viehes. Da eine Seuchengefahr bei der Einfuhr gefrorenen Fleisches nicht vorliegt, hat Ungarn gar keinen Rechtstitel, ein Veto einzulegen. Es war daher von Seite der früheren Regierung ein taktischer Fehler, dass man sich bezüglich der Einfuhrbewilligung gefrorenen Fleisches überhaupt in Verhandlungen mit Budapest eingelassen hat. Wenn nun die magyarischen Zwischenhändler erklären, dass sie eine Einfuhr der 800 in Triest gelagerten Tonnen geschlachteten Fleisches ohne Erledigung aller magyarischen Forderungen nicht bewilligen können, so ist das nicht nur vom rechtlichen Standpunkte total unbegründbar, vom staatspolitischen aber stellt diese Sucht, Zugeständnisse zu erpressen, einen beispiellosen Skandal dar…
Kopfschüttelnd ließ Budka die Zeitung sinken und dachte sich: ›Da schreiben s’ einerseits von einer langen Periode inneren Friedens und dann streiten die Ungarn und die Österreicher wegen ein paar hundert Tonnen gefrorenen Fleischs auf Mord und Brand. Das ist alles so verlogen…‹ Kopfschüttelnd nahm er einen großen Schluck Kaffee und legte angewidert die Zeitung weg.
»Und was schreibt das christlichsoziale Hausmeisterblatt?«, fragte der feine Herr plötzlich. Budka sah sich den Kerl das erste Mal genau an und war irritiert. Irgendwie kamen ihm Stimme und Diktion bekannt vor. Aber das gesamte Erscheinungsbild passte so gar nicht… Sein Gegenüber genoss Budkas Verwirrung. Er lächelte maliziös, nahm die Brille mit Goldrand ab und strich sich genussvoll über den vollen, graumelierten Bart. Und da erkannte ihn Budka. Er lehnte sich zurück, grinste und sagte leise:
»Mein Gott, Frantisek… Dass du dich im Laufe des heurigen Jahres sehr verändert hast, is’ mir schon früher aufg’fallen. Dass du aber jetzt in so einer feinen Schal’n umadum rennst und auf Professor tust, das haut mich aus die Böck125.«
Oprschalek beugte sich zu ihm vor und sagte ebenfalls leise:
»Ich hab a lausige Zeit hinter mir. Aber des is, Gott sei Dank, vorbei. Jetzt führ ich das Leben eines wohlsituierten Privatiers. Und mit dem Vollbart und der Brille hast nicht einmal du mich erkannt. Das war für mich a ganz wichtiger Versuchsballon. Wenn meine Verkleidung bei dir nix gefruchtet hätt’, müsst’ ich in Zukunft mehr aufpassen. Aber so…«
Oprschalek lachte.
»Fast hättest mich nicht einmal an deinen Tisch setzen lassen… Herrgott, das war köstlich. Weißt, wie ich mich zusammenreißen hab’ müssen, dass i net losgebrüllt hab’ vor Lachen?«
Budka lachte nun auch. Sie bestellten jeder eine Melange und Oprschalek schilderte Budka, was er seit seiner Flucht aus dem Hotel Hungaria erlebt hatte. Und während Oprschalek erzählte, fraß Budka der Neid. Ja, er selbst hatte es auch recht gut getroffen. Er konnte sich nicht beklagen. Aber das unverschämte Glück, das der Oprschalek gehabt hatte, als er in dem Firmentresor 20.000 Kronen gestückelt in 100-Kronen-Scheinen gefunden hatte, schwanzte126 Budka. Und plötzlich kroch die massive Antipathie, die er schon vor dessen Flucht für ihn empfunden hatte, wieder hoch. Dieser Kerl hatte wirklich ein unverschämtes Massel! Sogar der Verhaftung, die aufgrund des Zunds, den er dem Redakteur Goldblatt gegeben hatte, in die Wege geleitet worden war, hatte er sich entziehen können. Budka war erleichtert, als Oprschaleks Sermon endlich versiegte. Schweigend saßen sie sich eine Zeit lang gegenüber. Plötzlich beugte sich Oprschalek vor, berührte vertraulich Budkas Arm und sagte:
»Weißt was? Ich lad’ dich zum Essen ein. Und zwar in die ›3 Hacken‹. Dort hat schon der Nestroy verkehrt. Das ist mein Stammbeisl. Weil, ich wohn’ ja jetzt im 1. Bezirk.«
Budka hätte dem unverschämten Strolch am liebsten mitten im Kaffeehaus eine in die Goschen gehaut. Zurück hielt ihn unter anderem der Gedanke, dass er Oprschalek beim Mittagessen ordentlich schädigen werde. Jawohl! Er würde sich nur die teuersten Speisen bestellen und beim Wein darauf bestehen, dass zur Feier des Tages nur edle Bouteillenweine bestellt werden sollten. Ja, so würde er es machen! Und auch der Schnaps soll in Strömen fließen. Dann würde der Angeber eine geschmalzene Rechnung serviert bekommen. Diese Aussichten stimmten ihn froh. Und da Oprschalek derzeit offensichtlich im Geld schwamm, sagte er zu ihm:
»Geh, Frantisek, sei so gut. Übernimm doch auch die Rechnung da im Dobner.«
Nachdem Oprschalek gezahlt und die beiden Männer das Café verlassen hatten, fiel Budka eine großgewachsene, kräftige, dunkelhaarige Frau auf der Naschmarktseite der Wienzeile auf. Sie starrte zu ihnen herüber. Nach ihrer langen, weißen Schürze und den beiden vollen Einkaufskörben zu schließen, musste die Frau Köchin sein. Diese Beobachtung führte Budka zu der Überlegung, dass Oprschalek vielleicht doch von anderen erkannt werden könnte. Dann wäre es für ihn selbst äußerst gefährlich, sich in Gesellschaft eines gesuchten Schwerverbrechers zu befinden. Damit war Oprschalek nicht nur ein Ärgernis für ihn, sondern eine potenzielle Bedrohung. Der Kerl wusste viel zu viel über Budka. Und wer weiß, ob er nicht doch verhaftet werden und dann auch über seinen Freund Budka auspacken würde?
Beim gemeinsamen Mittagessen in den ›3 Hacken‹ verspeiste Budka als Vorspeise Forellenkaviar auf Toast, dann Dukatenschnitzerl vom Kalbslungenbraten sowie eine Riesenportion Salzburger Nockerln als Nachspeise. Dazu tranken er und Oprschalek drei Bouteillen erstklassigen Gumpoldskirchner. Nun waren sie bei den Schnäpsen angelangt. Hier hielten sie sich, aufgrund der Völlerei, der sie sich hingegeben hatten, an Becherovka. Ein böhmischer Kräuterbitter, der bei Völlegefühl wahre Wunder zu wirken vermochte. Budka war träge und faul. Aber Oprschalek hatte noch nicht genug. Er schwafelte von früheren Zeiten und von ihren gemeinsamen Besäufnissen im Esterhazykeller. Als er Budka vorschlug, jetzt dorthin zu gehen und weiter zu saufen, hatte dieser eine Idee.
Es war schon nach Mitternacht, als Budka den stockbesoffenen Oprschalek die steilen Treppen des Esterhazykellers hinaufschleppte. Er ging mit dem auf ihn gestützten und nur mehr leise vor sich hinlallenden Schneidergesellen über den weiten Platz am Hof zur Wipplinger Straße. Dort wandte sich das schwankende Duo Richtung Börse. Auf der neuen, im modernen sezessionistischen Stil errichteten Hohen Brücke sah sich Budka um, ob sie sich auch alleine auf der Straße befänden. Da dies der Fall war, lehnte er den schwankenden Oprschalek an das halbhohe Brückengeländer. Dann sah er sich nochmals um und holte aus. Ein Faustschlag traf Oprschaleks Brust. Der schnappte nach Luft, die Augen weit aufgerissen. Er schwankte, ruderte wild mit den Armen, kämpfte ums Gleichgewicht, kippte nach hinten. Ein dumpfer Aufschlag folgte. Budka war nun stocknüchtern. Er ging ans Ende der Brücke und eilte die Stiegen hinunter in den Tiefen Graben. Einsam lag Oprschaleks Körper auf der Straße. Budka trat neben ihn und beobachtete, wie sich eine Blutlache vom Kopf her unter Oprschalek ausbreitete. Er ging in die Knie und zog mit spitzen Fingern Oprschaleks Portemonnaie hervor. Dabei achtete er peinlich darauf, sich die Hände nicht blutig zu machen. Ein Fiaker kam müde angetrottet. Budka sprang auf und rief dem Kutscher zu:
»Ein Lebensmüder. Der is von der Bruck’n runterg’sprungen. Schnell! Holen S’ Hilfe! Schnell!«
Der Fiakerfahrer schnalzte mit der Peitsche und fuhr flott weg. Budka aber steckte das Portemonnaie ein und spazierte seelenruhig davon. Nicht ohne dabei leise eine Melodie zu pfeifen.