IV.
»Hundswetter, miserables!«, fluchte Nechyba, als er aus dem Laden der Lotte Landerl heraustrat und sich auf den Weg zur Arbeit machte. Wie jeden Morgen, so hatte er auch heute bei der Greislerin sein Gabelfrühstück erstanden. Auf Gehsteig und Straße lag Schneematsch, der das Gehen beschwerlich machte. Außerdem herrschte dichtes Schneetreiben. Der eisige Wind ließ dicke Schneeflocken auf seinen Mantel, seine Melone und sein Gesicht mit dem mächtigen, aufgezwirbelten Schnurrbart klatschen. Am Ring kaufte er sich eine Zeitung und stieg in eine Tramway ein. Im Polizeigebäude angekommen, genoss er das wohlige, staubig-warme Klima seines Büros. Pospischil, der kurze Zeit später eintraf, erhielt von ihm eine Reihe Anweisungen, die den Dienst der anderen Polizeiagenten betrafen. Solchermaßen sorgte Nechyba dafür, dass er bis zu seinem Gabelfrühstück ungestört Zeitung lesen konnte. Nachdem er den Leitartikel über den neuen Finanzminister Dr. Robert Meyer gelesen hatte, fiel ihm ein anderer, kürzerer auf:
Auch in der vergangenen Woche mussten wieder zwei Schwerkranke von Spital zu Spital wandern, bis sie endlich Aufnahme fanden. Einer von ihnen, schwer lungenkrank, wurde von seinem Wohnungsgeber auf das Polizeikommissariat gebracht. Hier wurde dem Mann aufgetragen, den Kranken wieder in seine Wohnung zu bringen. Der Quartiergeber fürchtete sich aber aus Angst vor Ansteckung davor, den Patienten wieder mit nach Hause zu nehmen und ließ den Handwagen mit dem Kranken einfach im Hausflur des Kommissariats stehen. Und siehe da, jetzt war plötzlich ein Bett frei und der Mann konnte ins Spital aufgenommen werden. Man muß sich wirklich fragen, warum das nicht gleich geschehen ist, da doch offenkundig im Spital Platz war. Es hat wahrlich den Anschein, als ob die Behörden immer erst in eine Zwangslage gebracht werden müssen, ehe sie das tun, was zu tun sie ohnedies verpflichtet wären.
Nechyba ärgerte sich über seine Kollegen. Obwohl er selbst auch nicht unbedingt darauf aus war, mehr Arbeit als notwendig zu verrichten, so verstand er das unmenschliche Verhalten dieser Polizisten nicht. Wenn ein Mensch in Not oder schwer krank war, war es für ihn eine Selbstverständlichkeit zu helfen. Auch wenn das einen zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutete. Verärgert blätterte er weiter und stockte, denn eine Anzeige stach ihm ins Auge:
Auch aufs BROT SCHMIEREN lässt sich das NEUE GESCHMEIDIGE CERES-Speise-Fett und hilft so, im Haushalt viel Geld zu sparen, denn es ist nicht nur das beste, sondern auch das billigste Speisefett.
Es schüttelte ihn vor Ekel. Statt Butter Speisefett aufs Brot! Ekelhaft! Gleichzeitig war ihm aber auch bewusst, dass es wahrscheinlich zigtausende Familien gab, die sich nichts anderes leisten konnten. Bei den wahnsinnigen Preissteigerungen des letzten Jahres war der Genuss von erstklassigen Lebensmitteln allmählich ein Luxus geworden. Nechyba seufzte tief. Als er weiterblätterte, klopfte es. Unwillig brummte er »Ja, bitte!«. Es trat der Adjutant des Zentralinspectors, ein kleiner, rundlicher Polizeiagent, ein.
»Grüss’ Sie, Nechyba. Wie hamma’s denn?«
»Grüss’ Sie! Na, wie soll ma’s haben? Gute Zeiten schauen anders aus. Aber das wissen Sie ja eh auch selbst, Zischek.«
Der seufzte, kratzte sich den kahlen Schädel und sagte:
»So ist es. So ist es… Nechyba, haben S’ einen Augenblick Zeit? Der Zentralinspector möchte Sie sprechen.«
»Ah so? In welcher Angelegenheit?«
»Fragen S’ mich nicht, Nechyba. Fragen S’ mich nicht… Aber es wird schon nix Unangenehmes sein. Schließlich hat er mir aufgetragen, dass ich Sie zuerst verständigen und dass ich dann zwei Krügeln Bier unten vom Beisl holen soll. Er wird wahrscheinlich mit Ihnen plaudern wollen, der Herr Zentralinspector.«
Nechyba grinste. Na also! Endlich nahm dieser alles in allem eher unerfreuliche Vormittag eine angenehme Wendung. Den Zentralinspector Roman Fuchs kannte er nämlich schon seit zwei Jahrzehnten. Damals hatten sie gemeinsam in einem Kommissariat als einfache Sicherheitswachebeamte Dienst getan. Während Nechyba es nur zum Inspector geschafft hatte, war der gleichaltrige Roman Fuchs mittlerweile zum Zentralinspector avanciert. Eine Stelle, um die ihn Nechyba nicht beneidete. Im Gegenteil, er versuchte seinem Kollegen und nunmehrigen Vorgesetzten zu helfen, wo er konnte. Außerdem schickte er Pospischil immer um Bier, wenn Fuchs zu ihm ins Büro kam– was hin und wieder passierte. Das gemeinsame Biertrinken weckte Erinnerungen an die Zeiten, als sie sich nach dem Dienst oft auf ein paar Biere zusammengesetzt hatten. Entsprechend freundlich war die Begrüßung, als er das Zimmer des Zentralinspectors betrat.
»Servus, Nechyba. Endlich sieht man dich wieder einmal. Komm, nimm bitte Platz!«
Nechyba setzte sich und begann mit Fuchs über dies und das zu plaudern. Beiläufig erzählte er ihm auch von dem Lungenkranken. Fuchs schüttelte den Kopf und murmelte:
»Ärgerlich, sehr ärgerlich. Nechyba, lass’ mir bitte den Artikel zukommen. Der Sache werde ich nachgehen. Weil, so geht das nicht.«
Zischek brachte die Biere, die beiden Inspectoren prosteten einander zu und tranken einen kräftigen Schluck. Als Nechyba sich den Schaum aus dem Schnurrbart wischte, sagte Fuchs beiläufig:
»Der Grund, warum ich dich hab holen lassen, ist der Brand mit der Leiche am Getreidemark, wo du zufällig vor Ort warst. Ich hab deinen Bericht gelesen und betrau’ dich jetzt offiziell mit den Ermittlungen. Weil du wohnst ja dort ums Eck. Du kennst die Leute, du hast Kontakte. Das ist sicher das G’scheiteste, wenn du das übernimmst.«
Mit einem Schlag war Nechyba dieser Montagvormittag endgültig zuwider. Kaum, dass er sich etwas entspannt und auf das baldige Mittagessen gefreut hatte, wurde ihm ein Mordfall samt Brandstiftung aufgehalst. Ein schöner Wochenanfang sah anders aus.