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»Das Unglück beim Demonstrationszuge und in der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauses würde sich kaum zugetragen haben, wenn der große Fehler nicht begangen worden wäre, die alle Stände bedrückende Teuerung in Klassen einzuschachteln und die allgemeine Not zur Parteipolitik zu missbrauchen.«

 

»Neue Freie Presse Nr. 16927«

Freitag, 6. Oktober 1911

 

 

Leo Goldblatt war draußen in Meidling und Hietzing unterwegs gewesen, um das Unwesen einer sich dort herumtreibenden Platte147 zu recherchieren. Die Plattenbrüder hatten einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als sie unlängst in einem Hietzinger Kaffeehaus eine versammelte Gesellschaft von Offizieren, Einjährig-Freiwilligen und Unteroffizieren nötigten, ihren unmäßigen Konsum an Kognak zu bezahlen. Wären die Uniformierten der Aufforderung nicht nachgekommen, wären sie zusammengeschlagen worden. Goldblatt witterte eine interessante Geschichte und war deshalb in die Vororte hinausgefahren. Er hatte tatsächlich einen der Rädelsführer dieser Bande aufgespürt und zu einem ausführlichen Gespräch überreden können. Stolz hatte ihm der Strolch erzählt, dass er erst unlängst wegen Totschlags auf der Anklagebank gesessen hatte. Da die vom Gericht geladenen Zeugen und Geschworenen erfolgreich von Mitgliedern der Platte eingeschüchtert worden waren, wurde er freigesprochen. Mit schiefem Grinsen prahlte der Kerl: ›Wenn di mi verurteilt hätt’n, wären s’, nachdem i die Strafe verbüßt hätt’, in den Genuss meiner Liebesbeweise gekommen…‹. Goldblatt war erschüttert. So weit war es in diesem Staat gekommen! Da konnten Nechyba und die gesamte Sicherheitswache noch so erfolgreich im Kampf gegen das Verbrechen sein. Es half nichts, wenn die Justiz auf beiden Augen blind war und solche Strolche laufen ließ. Und weil er gerade an Nechyba dachte, stieg Goldblatt bei der Stadtbahnstation Kettenbrückengasse aus. Es hatte ihn die Sehnsucht nach den alten Zeiten gepackt. Er ging ein Stück die linke Wienzeile stadteinwärts, bog dann in die Engelgasse148 ein und war alsbald beim Café Sperl. ›Das letzte Mal, dass ich da war, ist auch schon wieder einige Monate her…‹, sinnierte Goldblatt und trat in das Kaffeehaus ein, wo er sich nach wie vor wie zuhause fühlte. Adolf Kratochwilla, der Cafetier des Sperl, begrüßte ihn herzlich. Und der alte Marqueur fragte, als Goldblatt Platz genommen hatte:

»So wie immer, Herr Redakteur?«

Goldblatt nickte grinsend und bekam umgehend seinen ›Goldblatt‹ serviert. Er schlürfte das Getränk und ließ seinen Blick im Sperl umherschweifen. Nichts hatte sich verändert: Einige Tische waren von Offizieren der nahen Kriegsschule besetzt, am Künstlertisch saßen die Herren vom Hagenbund und ums Eck spielte man Billard. Goldblatt schloss die Augen und lauschte dem Klicken der Billardkugeln, dem Stimmengewirr der Gäste, dem Rascheln der umgeblätterten Zeitungsseiten sowie dem leisen Klappern und Klirren der Kaffeeschalen und Wassergläser, die aus der Küche voll heraus- und irgendwann dann wieder leer hineingetragen wurden. All das war unglaublich beruhigend und einschläfernd. Er träumte von dem Plattenbruder, der ihn in ein Eck drängte und zynisch fragte, ob er ihm einen Liebesbeweis zuteil werden lassen sollte. Goldblatt stammelte: ›Nein! Bitte, bitte nicht…‹. Doch es half nichts. Der Plattenbruder ließ die Klinge eines Springmessers klickend einschnappen und führte sie langsam, ganz langsam auf Goldblatts Gesicht zu. Schmerzhaft spürte er den kalten, scharfen Stahl in die Haut seiner Wange eindringen…

»Nein! Das ist aber jetzt nicht wahr!«

Eine vertraute Stimme riss Goldblatt aus seinem Nickerchen und holte ihn in die Realität zurück. Goldblatt blinzelte verschlafen und sah die gewaltige Silhouette Nechybas, der sich mit einem Seufzer der Zufriedenheit ihm gegenüber auf die Polsterbank fallen ließ. Goldblatt lächelte und sagte:

»Was schaun S’ denn so, Nechyba? Es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie mich bei einem Nickerchen im Kaffeehaus erwischen…«

Nechyba bestellte sich ebenfalls einen ›Goldblatt‹, musterte den Redakteur und bemerkte mit ironischem Unterton:

»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht im Kaffeehaus geirrt haben?«

»Reden S’ keinen Blödsinn, Nechyba! Heut bin ich halt ins Sperl und nicht ins Landtmann gegangen. Variatio delectat149

Goldblatt erzählte dem Inspector von seinen Recherchen bezüglich der Plattenbrüder. Als Nechyba hörte, dass die Justiz einen der Anführer unlängst hatte laufen lassen, statt ihn einzusperren, schüttelte er nur den Kopf. Dann deutete er auf das Titelblatt der ›Neuen Zeitung‹, auf der eine gezeichnete Darstellung des Attentats auf den Justizminister prangte. Dazu gab es folgende Überschrift: ›Schreckensszenen im österr. Parlament. Fünf Revolverschüsse. Attentat auf den Justizminister Dr. Ritter v. Hochenburger.‹ Unter dem Bild stand dick und fett im Telegrammstil zu lesen: ›Eine Demonstration tschechischer Schulkinder.– Raufszenen in der Säulenhalle des Parlaments.– Abgeordnete prügeln und würgen sich.– Der Teufel mit dem Revolver.– Ein Zwischenfall bei der Rede Dr. Adlers.– Panik im Sitzungssaale.– Verhaftung des Attentäters.‹

»Ich sag Ihnen, Goldblatt, wenn das so weitergeht, wird unser ganzer Staat in Chaos und Anarchie versinken. Ich war heute bei der Vernehmung des Attentäters, eines gewissen Nikolaus Njegus, dabei. Man hat mich hinzugezogen, weil der Mann behauptet hat, dass er im Frühjahr auch schon einmal kurz in Wien gewesen ist. Auch damals hatte er sich revolutionär betätigt und den Bauhof eines kapitalistischen Ausbeuters in Floridsdorf in Brand gesteckt. Gemeinsam mit einem gewissen Frantisek Oprschalek…«

»Was, mit dem Oprschalek? Sehn S’, da war ich doch nicht so daneben mit meinem Feuerteufel!«

Nechyba lächelte:

»Da haben Sie tatsächlich das richtige G’spür g’habt. Ich überprüfe jetzt alle größeren Brände des heurigen Jahres. Wer weiß, vielleicht hat der Oprschalek dort oder da auch noch seine Finger im Spiel g’habt.«

»Apropos G’spür… Sie stehen mir mit Ihrer Intuition in nichts nach, Nechyba.

Wie haben Sie das eigentlich am vorvorletzten Sonntag zuwege gebracht, nicht bei dem Riesenpolizeiaufgebot während der Teuerungskundgebung dabei zu sein?«

Nechyba lächelte neuerlich. Er bestellte zwei französische Cognacs. Als diese gebracht wurden, stieß er mit Goldblatt an. Dann sagte er ernst:

»Mein Glück war, dass ich zwei Tage vor dem 17. September beim Dr. Pamer war und der mich belobigt hat. Da hab’ ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihn gebeten, am 17. September keinen Dienst versehen zu müssen. Als Grund hab ich meine Aurelia vorgeschoben, weil sie ja nur am Sonntag frei hat. Das hat der Pamer akzeptiert, und so war ich Gott sei Dank bei diesem ganzen Schlamassl nicht dabei.«

Goldblatt kratzte sich den kahlen Schädel, nahm einen Schluck Cognac und sagte:

»Dafür haben Sie dann am Montag Dienst gehabt, und da hat man Sie gleich raus nach Ottakring zu dem Frauenmord geschickt.«

»Richtig. Da haben s’ mich rausgeschickt. Und dort hab ich ja die grauenhaft abgeschlachtete Steffi Moravec gefunden150. Bei dieser Ermittlung tappe ich völlig im Dunkeln. Ich hab’ in den letzten Wochen gemeinsam mit dem Kommissariat Ottakring Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um auch nur einen Hauch von einer Spur zu finden. Aber da gibt’s nichts. Absolut nichts. Die Bestie, die das getan hat, hat sich offenbar in Luft aufgelöst…«

Wiederum kratzte sich Goldblatt am Schädel, nahm den letzten Schluck Cognac und sagte dann vorsichtig:

»Vielleicht halten Sie mich für verrückt, Nechyba. Aber ich hab’ da so eine Theorie bezüglich der ermordeten Moravec…«

»Schießen S’ los Goldblatt! Spannen S’ mich nicht auf die Folter…«

»Als ich über diesen Mord berichtet hab, sind mir sehr viele Dinge, wie zum Beispiel die ausgeweideten Innereien, bekannt vorgekommen. Ich hab jetzt zwei Wochen lang darüber nachgegrübelt. Bis mir eines Nachts plötzlich die Erleuchtung gekommen ist. Dieses Tatmuster gab es schon einmal: Prostituierte, die bestialisch aufgeschlitzt und verstümmelt worden sind. In England vor 20 Jahren…«

Nechyba wurde blass und murmelte:

»Um Gottes willen! Sie haben recht. Jack the Ripper ist genauso vorgegangen…«

Goldblatt hob abwehrend die Arme und fügte hinzu:

»Das ist nur ein Bauchgefühl. Reine Intuition. Beweisen kann man das wahrscheinlich nie. Aber um noch einmal auf den 17. September, den Blutsonntag, zurückzukommen: Warum haben Sie partout an diesem Tag nicht Dienst haben wollen? Sie machen doch auch sonst hin und wieder Sonntagsdienste…«

Goldblatt beobachtete, wie Nechyba einen Schluck vom Cognac nahm und ihn lange im Mund kreisen ließ. Erst als die ölige Flüssigkeit seinen Schlund hinabgeglitten war, antwortete er:

»Ich hab’ vom ersten Augenblick an, als ich von der Kundgebung gehört hab’, Sorge gehabt, dass da was passiert. Dass den Demonstranten der Geduldsfaden reißt und dass sie rabiat werden. Schaun Sie sich den Oprschalek, den Schottek und den Njegusch an! Alles bis vor Kurzem brave Leute, die sich irgendwie durchs Leben gewurstelt haben. Bis sie zu einem Punkt gelangt sind, an dem sie vor lauter Verzweiflung nicht mehr weitergewusst haben. Der erste ist Brandstifter und Gewalttäter geworden, der zweite Brandstifter und der dritte Attentäter. Aber nicht, weil sie von Grund auf verdorbene Menschen waren, sondern weil s’ verzweifelt waren. Weil die Zeit, in der wir leben, einfach zum Verzweifeln ist…«

 

 

E N D E