XI.

Gähnende Leere empfing sie, als sie ihre Lieblingsfleischhauerei in der Gumpendorfer Straße betrat. An den Wänden hingen keine zerteilten Stücke von Rind, Kalb und Schwein, sondern nur einige Dauerwürste sowie etwas Selchfleisch. Aurelia Nechyba wollte bereits auf dem Absatz kehrtmachen, als Vinzenz Mostbichler aus den hinteren Räumen hervorkam und rief:

»Küss die Hand, habe die Ehre! Frau Litzels… äh, Frau Nechyba! Womit kann ich dienen? Ein Kranzerl Dürre37 für ein saftiges Erdäpfelgulasch oder ein Selchripperl? Das passt vorzüglich zu einem Erbsenpüree! Ein geräuchertes Rindszüngerl hätte ich auch noch da. Und frisch g’schlagene Kaninchen von meinem Herrn Schwager. Und von meiner Erbtante am Land hab ich gestern ganz frische Henderln bekommen…«

Aurelia wurde hellhörig. Frische Henderln vom Land? Das war eine Idee! Eigentlich wollte sie sich erkundigen, ob es noch etwas von dem argentinischen Rindfleisch gäbe, das vor ein paar Wochen in Wien eingetroffen war. Aber ein saftiges Hendl hatte auch schon längere Zeit nicht auf dem Speisezettel gestanden. Wenn es nun aufgrund der Versorgungskrise kein Rindfleisch gab, musste man eben ausweichen. Sie runzelte die Stirn und sagte in strengem Ton:

»Und? Darf ich diese Viecher einmal sehen? Weil alte, ozahde38 Hendeln nehm’ ich auf keinen Fall. Das muss schon erstklassige, frische Ware sein.«

»Aber gern doch! Liebe Frau Nechyba, da schaun S’… Sind das net Prachtviecher? Und schon gerupft… Sie brauchen S’ nur mehr in den Ofen schieben…«

Aurelia Nechyba schüttelte unwillig den Kopf. Denn sie erinnerte sich plötzlich an ein Rezept, das sie vor vielen, vielen Jahren das letzte Mal zubereitet hatte: Ein Hühner Poupeton von Reis. Damals hatte sie noch als Hilfsköchin im Haushalt von Erzherzog Ludwig Viktor gearbeitet. Sie inspizierte die beiden Hühner, die wirklich recht jung und zart waren.

»In Ordnung! Packen S’ mir s’ ein.«

»Und? Werden S’ die zarten, jungen Viecherln braten?«

»Aber geh! Wenn ich dem Hofrat Schmerda ein simples Brathenderl serviere, fragt er mich, ob ich krank bin. Nein, der Herr Hofrat will immer was ganz Ausgefallenes. Deshalb werd ich ihm ein Hühner-Poupeton von Reis machen.«

»A was?«

»Das ist ein Hühnerfrikassee mit Champignons in einer Reishülle, die dann noch überbacken wird.«

»Na geh! So was! Sachen gibt’s…«

»Übrigens, Herr Mostbichler, wissen Sie, dass Ihr ehemaliger Geselle, der Anastasius Schöberl, jetzt Filme macht. Wissen S’ eh, die laufenden Bilder, die s’ in den Kinematographen zeigen…«

Das ohnehin rötliche Gesicht Mostbichlers nahm plötzlich eine dunkelrote Farbe an. Der anbiedernde Tonfall war weg und er raunzte seine Kundin grantig an:

»Hören S’ ma auf mit dem Schöberl. Diese Kanaille39 hat mich mit meiner Frau betrogen. Am liebsten hätt’ ich ihn damals derschlag’n! Gleich da auf dem Hackstock!«

Voll Wut ließ er das Hackbeil auf den Holzblock niedersausen. Verbissen starrte er vor sich hin. Aurelia Nechyba biss sich auf die Lippen, ›Ui! Das war ein Fauxpas!‹, dachte sie und murmelte entschuldigend:

»Aber geh, das ist doch schon so lange her…«.

Ohne sie anzusehen, nannte ihr Mostbichler den Preis für die Hühner. Sie zahlte und verließ schleunigst das Geschäft. Draußen atmete sie tief durch: ›Was manche Menschen für Zwiderwurzn40 sind…‹

In der Schmerda’schen Wohnung angekommen, wurde Aurelia selbst zur Zwiderwurzn. Denn sie überraschte das Dienstmädel, wie es mit hochgelagerten Beinen neben dem Herd saß und einen Kolportage-Roman las. Sie riss dem Mädchen das Heftl aus der Hand und schlug es ihm mehrmals um die Ohren.

»Was liest denn da für einen Dreck? ›Um der Liebe willen verstoßen und geächtet‹… So ein Blödsinn!«

Voll Zorn holte sie abermals aus und schlug wieder links und rechts zu.

»Wennst wenigstens meine Kochbücher lesen würdest… Oder das Haushaltsbuch, damit du was lernst. Aber nein! So einen Stuss liest!«

Und damit öffnete die Köchin die Tür des Herdes und warf das Heft in die Glut. Gerti schrie auf. Aurelia drehte sich um und gab dem Dienstmädel als Zugabe noch eine schallende Ohrfeige.

»Das Feuer im Herd hast fast ausgehen lassen! Wie soll ich da für Mittag ein Essen kochen? Leg sofort Holz nach! Aber sei vorsichtig, mach mir ja nicht die Glut kaputt!«

Gerti rannen Tränen über die dicken Wangen ihres Bauerngesichts. Dort, wo Aurelias Ohrfeige getroffen hatte, war die Haut stark gerötet. Mit zitternden Händen öffnete sie die Herdtür und begann vorsichtig Holz nachzulegen. Die Köchin, die sich nun wieder beruhigt hatte, bedauerte ihren Ausbruch, als sie mit gekonnten Griffen die beiden Hühner tranchierte. Das dicke, laut schluchzende Häufchen Elend, das nun vor dem Herd kniete und zuerst kleine Holzspäne nachlegte, und, nachdem diese Feuer gefangen hatten, dickere Holzscheite darüber schlichtete, tat der Köchin leid. Deshalb sagte sie, als Gerti mit dem Nachschlichten fertig war, mit ruhiger Stimme:

»Gut hast das g’macht, Gerti. Nimm jetzt die Champignons und eine Bürste und putz sie unterm Wasserstrahl. Die sauberen legst du dann auf ein Tuch zum Trocknen. Davor stellst aber noch 40 Deka Reis zum Kochen auf. Nimm den klebrigen, italienischen Reis.«

Das Dienstmädchen errötete ob des unerwarteten Lobs, zog lautstark den Rotz auf und wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen ab. Inzwischen nahm sich die Köchin des Wurzelwerks an. Mit flinken Handgriffen putzte sie die Karotten und gelben Rüben, die Petersilienwurzeln und den Sellerie. Dem Dienstmädchen trug sie auf, einen Topf mit Wasser auf die nun wieder heiß werdende Herdplatte zu stellen. Sie selbst wusch das geputzte Gemüse. Dann salzte sie die appetitlich zerlegten Hühnerfleischstücke. Gemeinsam mit den beiden Hühnerlebern stellte sie alles bis zur Weiterverarbeitung in die Speisekammer. In das kochende Wasser gab sie das geputzte Wurzelwerk sowie die Herzen und Mägen der beiden Hühner. Als sie die gebürsteten Champignons kontrollierte, klopfte es an der Küchentür. Aurelia Nechyba, die dieses schüchterne Klopfen kannte, rief:

»Komm ruhig rein, Alphonse! Du störst nicht.«

Alphonse Schmerda betrat die Küche, grüßte die Köchin höflich und nickte dem Dienstmädchen freundlich zu. Dann setzte er sich auf den Stuhl, der im hintersten Kücheneck stand und auf dem vor vielen Jahren Joseph Maria Nechyba zu sitzen pflegte. Seit damals nannte Aurelia den wackeligen Sessel ›Besucherloge‹.

»Was bekommen wir denn heute Gutes zum Essen, Frau Aurelia?«

»Ein Hühner-Poupeton von Reis.«

»Poupeton? Poupeton von Reis? Das haben Sie aber schon sehr lange nicht mehr gemacht. Übrigens: Bei Brillat-Savarin habe ich unlängst von einem Poupeton gelesen…«

Aurelia schmunzelte:

»Du liest die ›Physiologie des Geschmacks‹? Hast du dir das von deinem Herrn Papa ausgeborgt?«

»Ich hab’s mir einfach aus seinem Bücherschrank genommen. Weil, wenn ich ihn darum gebeten hätte, hätte er mir geantwortet, dass ich meine Nase lieber in juristische Bücher und in meine Skripten stecken soll…«

»Womit er ja nicht unrecht hat…«

Alphonses Miene verdüsterte sich. Er machte ein Schnoferl41 und raunzte:

»Aber, Frau Aurelia! Sie wissen doch, dass ich für die ganze Juristerei nix übrig habe. Das studier’ ich doch nur, weil der Papa es wünscht…«

»Und? Was macht deine große Liebe? Die Schauspielerei?«

Alphonse begann zu strahlen und auf dem wackeligen Sessel so temperamentvoll hin und her zu rutschen, dass dieser bedenklich krachte.

»Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Aber Sie müssen mir versprechen, es niemandem, wirklich niemandem zu sagen…«

»Alphonse… Du weißt doch, dass ich nix weitererzähl’.«

Er wandte sich an Gerti und forderte sie auf:

»Und du, du musst mir schwören, dass du den Mund hältst!«

Gerti bekam rote Ohren, hob zwei Finger in die Höhe und murmelte feierlich:

»Ich schwör’s, Herr Alphonse, ich schwör’s…«

Alphonse Schmerda beugte sich vor und sagte mit leuchtenden Augen:

»Gestern Abend hab ich meine erste Statistenrolle im Theater an der Wien ergattert. Bei der übernächsten Premiere bin ich schon dabei!«

Aurelia Nechyba, die gerade die Vorspeise, eine Kohlrübensuppe, zubereitete, hielt erstaunt in ihrer Arbeit inne:

»Aber hat dir das denn dein Herr Papa erlaubt?«

Alphonse Schmerdas Begeisterung war augenblicklich verschwunden. Mit düsterer Miene antwortete er:

»Der Herr Papa, der Herr Papa… Natürlich weiß der nix davon. Und er darf es auch nicht erfahren…«

Die Köchin wischte sich die Hände an der Schürze ab, trat zu dem jungen Mann hin und streichelte ihm mütterlich übers Haar:

»Weiß es wenigstens deine Frau Mama?«

»Geh! Die hat doch dauernd Kopfschmerzen und melancholische Zustände. Wenn ich ihr das erzähl’, wird sie vollkommen trübsinnig. Übrigens: Ich war vorher bei ihr. Sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass die Gerti bei Gelegenheit in ihr Zimmer kommen und dort aufräumen soll. Sie wird heute im Bett bleiben. Ihr ist nicht wohl…«

Aurelia seufzte und schickte Gerti ins Zimmer der Gnädigen Frau. Als sie mit Alphonse allein war, fragte sie ihn:

»Hast du keine Angst, dass dich Bekannte oder Verwandte im Theater sehen? Wenn die das deinem Vater erzählen, schlägt er dich tot…«

Und während sie in einer Kasserolle Butter zerließ, die Hühnerstücke samt den Lebern aus der Speisekammer holte, sie dazugab, kurz anröstete und dann mit etwas Gemüsesuppe aufgoss, haderte Alphonse mit seinem Schicksal, das ihm so einen Vater beschert hatte. Die Köchin gab nun die Champignons in die Kasserolle dazu und ließ alles zusammen weich dünsten. Danach fischte sie Fleisch und Pilze heraus und stellte beides warm. Den Saft aber entfettete sie und machte mit diesem Fett und mit einem Esslöffel Mehl eine Einbrenn42. Die goss sie unter ständigem Rühren mit dem Saft auf und würzte mit Pfeffer, Muskatnuss und Zitronensaft. Danach legierte sie die Sauce noch mit zwei Eidottern und gab das Hühnerfleisch und die Champignons dazu. Aus dem mittlerweile fertig gekochten Reis formte sie auf einer feuerfesten Platte einen circa 2 cm dicken und 6 cm hohen Reisring. In dessen Mitte füllte sie nun die Sauce mit den Hühnerstücken und den Champignons. Diese Fülle wurde mit einer circa 1 cm dicken Reisschicht bedeckt. Den Reis glättete sie mit einer in zerschlagenes Ei getauchten, flachen Messerklinge, sodass die Reishülle eine schöne Tortenform bekam. Diesen Poupeton bestreute sie nun mit einem Parmesan-Brösel-Gemisch und schob ihn in das heiße Backrohr, um die Oberfläche knusprig zu backen. Als sie noch einige Holzscheite nachlegte, trat Alphonse neben sie und starrte in die Flammen.

»Am liebsten würde ich das Haus hier mitsamt meinem Vater anzünden und lichterloh abbrennen! Verkohlen soll er, der Alte…«

»Aber, Alphonse! So was sagt man nicht. Du machst mir direkt Angst…«

Alphonses Gesichtszüge entspannten sich und er lächelte wieder:

»Keine Angst, allein schon wegen Ihnen tu ich es nicht. Aber verstehen kann ich es schon, wenn ein Mensch wie der Oprschalek seine Wohnung und seine Alte anzündet…«

»Wie kommst denn auf den Oprschalek?«

»Den kenn ich vom Naschmarkt, seit vielen Jahren. Der hat mir als Bub damals mein erstes Bier spendiert. Der ist an sich ein leiwandes Haus43. Neulich hab ich ihn im Café Dobner gesehen. Dort hat er sich nach irgendwem erkundigt und ist dann gleich wieder weg. Da ich neugierig war, bin ich ihm gefolgt. Er ist hinüber in den 3. Bezirk gegangen, auf den Radetzkyplatz. Dort gibt es ein Hotel Hungaria. Zuerst ist er kurz da hinein und danach ist er in ein Weinhaus gegenüber vom Hotel gegangen. Dort hat er sich dann mit jemandem getroffen. Ich hab’ mir überlegt, ob ich das der Polizei melden soll. Aber da ich ja mit der Polizei im Allgemeinen und mit Ihrem Herrn Gemahl im Besonderen schlechte Erfahrungen gemacht hab’, hab’ ich es dann bleiben lassen…«