IV/2.

Es blies ein ziemlich heftiger Wind am Morgen des 18. August 1911. Aurelia Nechyba wandelte beschwingten Schrittes über den Naschmarkt. Heute hatte der Kaiser Geburtstag. Unglaubliche 81 Jahre zählte der Monarch. Aurelia fühlte sich aufgrund ihrer seinerzeitigen Anstellung als Köchin im Haushalt des Bruders seiner Majestät dem Kaiserhaus immer noch sehr verbunden. Deshalb hatte sie sich heute eine frische Bluse und die fein gebügelte Schürze angezogen.

»Frau Aurelia, was ist denn passiert? Sie haben sich ja heut’ besonders herausgeputzt?«

Diese Anrede ließ die Köchin aus ihren Gedanken aufschrecken. Das derbe, rundliche Gesicht der Freihof-Mizzi, einer Fratschlerin, die sie schon lange kannte und die für ihr loses Mundwerk bekannt war, grinste sie an.

»Heut hat unser Kaiser Geburtstag…«, verkündete Aurelia und das Gesicht der Freihof-Mizzi verzog sich zu einer unwilligen Grimasse.

»Gehen S’, hörn S’ ma auf mit den hohen Herren! Die pfeifen sich doch um unsereiner überhaupt nix. Wir sind net amoi Dreck für die. Wir sind gar nix. Schaun S’ die Fleischkrise an. 800 Tonnen erstklassiges, gefrorenes argentinisches Rindfleisch lagert in Triest. Und warum ist das net schon längst bei uns in Wien? Weil das die hohen Herren in der ungarischen Regierung blockieren. Und weil sie für ihre Zustimmung jede Menge Freiheiten erpressen wollen. Jawohl, erpressen! Und was macht der Kaiser? Nix! Der sitzt in Bad Ischl, genießt die Sommerfrische, geht jeden Tag jagen und isst frisches Wild, das er selbst g’schossen hat. Mein Lieber, so gut sollt es unsereins gehen. Der Kaiser? Ha! Der braucht kein argentinisches Rindfleisch!«

»Also, jetzt hören S’ aber auf! Tun S’ unsern Kaiser ja net verunglimpfen. Das ist Majestätsbeleidigung, so wie Sie daherreden!« Aurelia Nechybas Stimme bebte vor Zorn. Einige Passantinnen, die den Ausführungen der Fratschlerin zuvor gelauscht hatten, nickten beifällig. Aurelia herrschte die Standlerin an:

»Mein Mann ist Polizist. Wenn ich dem das erzähl’, was Sie gerade g’sagt haben, verhaftet er Sie vom Fleck weg!«

Nun machte die Fratschlerin einen Buckel und begann zu jeiern124:

»Geh, warum denn? I hab ja nix ’tan… I bin ja nur a klanes Würschtl. Und i hab’s ja net so g’meint. Hoch lebe unser Kaiser! Hoch! Dreimal hoch!«

Die umstehenden Köchinnen, Dienstmädel, Bauern, Herumtreiber sowie gnädigen Frauen stimmten in die Hochrufe ein. Aurelia gab sich einen Ruck und ging weiter. Das nunmehr unterwürfige Verhalten der Fratschlerin war ihr noch mehr zuwider als deren obrigkeitsfeindliches Gerede zuvor. Mit hoch erhobenem Haupt und stolz darauf, die Ehre des Kaisers verteidigt zu haben, schritt die Köchin durch das Gedränge. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Ein sehr gut gekleideter Herr in einem hellen Anzug mit Sommerhut und einer runden, in Gold gefassten Brille fixierte sie. Er hatte einen üppigen, grauen Vollbart und stand beim Knödelmann, wo er sich gerade einen dampfend heißen Semmelknödel kaufte. Mit prüfendem Blick fixierte er die Köchin. Da Aurelia nicht gewohnt war, von fremden Herren angestarrt zu werden, senkte sie den Kopf und eilte an dem Mann vorbei. ›Wenn das mein Nechyba mitbekommen würde, täte er ihn augenblicklich zur Rede stellen‹, dachte sie sich und war stolz auf ihren stattlichen und kräftigen Mann. Ihr Weg führte sie zu dem gemauerten Fischstand, der sich am Ende des Marktes bei der Friedrichstraße befand. Dort war sie keine Unbekannte, denn im Zuge der Fleischkrise bereitete sie nun sehr oft Fischgerichte zu. Und die Fische dafür bekam sie hier in erstklassiger Qualität und zu vernünftigen Preisen.

»Ah, meine Lieblingsköchin…«, streute ihr der Fischhändler Rosen. »Was darf es denn heute sein? Wir hätten einen frischen Schill oder auch einen ganz wunderbaren Angler. Für ein gutes Fischbeuschlsupperl könnt’ ich Ihnen Gräten, Flossen, Köpfe und diverses anderes Kleinzeug von den Fischen zu einem besonders guten Preis geben. Und was wir heute noch haben, sind Karpfen aus dem Waldviertel. Ganz frisch und net so groß wie sonst. Darum schmecken s’ auch äußerst delikat. Nicht so sumpfig und ledrig wie die großen. Also die Karpfen kann ich Ihnen wärmstens empfehlen…«

Aurelia ließ sich die Karpfen zeigen, die wirklich noch jung und schlank waren und wunderbar frisch aussahen. Ursprünglich wollte sie ja einen ›Fogosch au gratin‹ machen, aber der Fischhändler hatte sie nun auf eine andere Idee gebracht: Heute Mittag würde es im Hause Schmerda ›Schwarzfisch‹ geben. Ein Rezept, das sie nun schon längere Zeit nicht mehr zubereitet hatte, da ihr die Qualität der Karpfen nicht wirklich zugesagt hatte. Auf dem Rückweg kaufte sie am Naschmarkt Wurzelwerk, Zwiebeln, Zitronen, Orangen, Nüsse, Mandeln und Dörrzwetschken. Plötzlich sah sie vis-à-vis auf der anderen Seite der Linken Wienzeile den eleganten Herrn von vorhin. Diesmal kam er, sein Spazierstöckchen schwingend, aus dem Café Dobner heraus. In seiner Begleitung befand sich ein ebenfalls gut gekleideter, bulliger Mann, der ein ausgesprochen verlebtes Gesicht hatte und heftig auf Ersteren einredete. Aurelia erschrak über den brutalen Ausdruck der Gesichtszüge dieses Mannes. Und plötzlich hatte sie ein Déjà-vu-Erlebnis: Genau dort vor dem Café Dobner hatte sie öfters den Mann der ermordeten Hausmeisterin Oprschalek herumlaufen sehen. Dieselbe Haltung, derselbe Gang. Und wenn sie sich jetzt den vollen, grauen Bart und die distinguiert wirkende Brille wegdachte, dann war das der Oprschalek, der einfach nur in einer feinen Schal’n steckte. Das durfte doch nicht wahr sein! Ihr Mann, der Nechyba, jagte diesen Verbrecher nun schon über ein halbes Jahr lang, und der spazierte am helllichten Tag elegant gekleidet und bester Laune unbehelligt in der Stadt herum. Voll bepackt, blickte sie den beiden nach. Nein, Nachlaufen hatte keinen Sinn. Außerdem musste sie schleunigst mit dem Kochen beginnen, denn die Zubereitung des Schwarzfisches brauchte einige Zeit. Auf den Weg in die Schmerda’sche Wohnung überlegte sie fieberhaft, wie sie den Nechyba möglichst rasch von ihrer Entdeckung verständigen könnte. Und als sie so geistesabwesend vor sich hin ging, rannte sie in den Planetenverkäufer Stanislaus Gotthelf, der gemütlich über den Markt schlenderte. Kreischend flatterte sein Papagei in die Luft und Aurelia rief:

»Entschuldigen vielmals!«

Gotthelf antwortete gut gelaunt:

»Hoppala! Wohin so schnell des Weges?«

Er zog eine geschälte Haselnuss aus der Rocktasche und lockte damit die Papageiendame auf seine Schulter zurück. »Ist schon gut, Hermi…Kannst dich wieder beruhigen.«

Zu Aurelia gewandt, meinte er charmant:

»Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein, liebe Frau Nechyba?«

»Haben S’ vielleicht zufällig einen Bleistift und ein Zetterl?«, erwiderte die Köchin, die eine Idee hatte. Als der Planetenverkäufer nickte und beides aus seinem Bauchladen herauskramte, rief Aurelia den Dienstmann, der an der Ecke eines gemauerten Standes gerade gemütlich ein Zigaretterl rauchte, zu sich. Mit energischer Handschrift schrieb sie, auf Gotthelfs Bauchladen gestützt, folgende Botschaft:

Nechyba!

Ich habe den Oprschalek vorm Café Dobner gesehen. Heller, eleganter Anzug, Hut, goldgefasste Brille, grauer Vollbart. Ging Richtung Innenstadt.

Aurelia

Sie faltete das Zetterl zusammen und gab es dem Dienstmann mit dem Auftrag, es so schnell wie möglich dem Inspector Nechyba ins k.k. Polizeiagenteninstitut im Polizeigebäude an der Elisabethpromenade zu bringen. Dort würde er auch bezahlt werden. Der Dienstmann nickte und machte sich auf den Weg. Und Aurelia ließ sich, entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, von Gotthelfs Papagei ein Horoskopzetterl aus dessen Bauchladen ziehen. Sie zahlte ihm zehn Heller dafür, bedankte sich für die Hilfe, schnappte ihre Einkäufe und eilte in die Schmerda’sche Wohnung. Die dicke Gerti hatte zum Glück schon das Feuer im Herd gemacht, sodass Aurelia umgehend eine Kasserolle aufstellen konnte, in der sie Zucker karamellisierte. Gerti wusch und putzte inzwischen das Wurzelwerk. Dieses schnitt die Köchin mit geübten Griffen blättrig und gab es gemeinsam mit einer fein geschnittenen Zwiebel in die Kasserolle. Sie würzte mit schwarzem Pfeffer, Neugewürz sowie einer Prise Muskat und löschte, als das Gemüse angeröstet war, mit einem Schuss Essig ab. Dann goss sie mit je einem Seitl Schwarzbier und Rotwein auf. Nun gab sie geriebene Zitronen- und Orangenschale, eine Handvoll Dörrzwetschken und Rosinen, etwas geriebenen Lebkuchen, in kleine Würfel gehackte Äpfel, die Köpfe der Karpfen sowie deren sorgfältig geputzte Eingeweide dazu und fügte Wasser sowie Salz hinzu. All das musste zwei Stunden kochen. Danach würde sie die Fischreste abseihen, alles andere passieren und mit fein geschnittenen Dörrzwetschken, Nüssen, Mandeln und Rosinen verfeinern. Diese köstliche, schwarze Sauce würde sie dann über die gesottenen Karpfen gießen und zusammen mit Salzerdäpfeln servieren. Als Aurelia auch Vorspeise und Nachspeise zubereitet hatte, setzte sie sich einen Augenblick hin, um zu verschnaufen. Da fiel ihr das Horoskopzetterl ein, das sie dem Gotthelf aus Dankbarkeit für seine Hilfe abgekauft hatte. Sie kramte es aus ihrer Schürzentasche und entfaltete es. Als sie den Text las, runzelte sie die Stirne und musste ganz heftig an Nechyba denken: Die Sterne stehen günstig. Bei gutem Wind kann Ihnen ein dicker Fisch ins Netz gehen.