XIII.

Fröhlich pfeifend wie ein Lausbub verließ sie am Abend des 11. März das Verschleißmagazin des Ersten Wiener Consum-Vereins in der Pilgramgasse. Hinter sich hörte sie das Knattern des blechernen Rollbalkens, den der Leiter des Verkaufslokals herunterließ und absperrte. Beschwingten Schrittes ging Fritzi Nemec Richtung Wiental. Eigentlich hatte sie Lust, noch irgendetwas zu unternehmen. Das Wetter war wunderbar mild und es lag schon ein Hauch von Frühling in der Abendluft. Schade, dass Engelbert heute keine Zeit hatte. Aber als Direktor des Ersten Wiener Consum-Vereins musste er immer wieder an Vorstandssitzungen der Genossenschaft teilnehmen, die oft bis spät in die Nacht hinein dauerten. Flott ging sie die Hofmühlgasse hinauf, bog nach rechts in die Gumpendorfer Straße, bis sie sich dann bei der Windmühlgasse nach links wandte. Als sie vor der Überquerung der stark befahrenen Mariahilfer Straße kurz innehielt, hörte sie hinter sich ein Räuspern. Neugierig schielte sie nach rückwärts und gewahrte einen kräftigen, etwa 50-jährigen, gutangezogenen Mann, der recht gepflegt aussah. Er bemerkte ihren Blick, lächelte, bot ihr den Arm und sagte galant:

»Gnädiges Fräulein, gestatten Sie, dass ich Sie über die Straße geleite?«

Gut gelaunt wie Fritzi war, nahm sie das Angebot des Fremden an, der sie daraufhin ziemlich kühn durch das Gewirr von Straßenbahnen, Kutschen, Pferdefuhrwerken und Passanten auf die andere Straßenseite lotste. Dort hielt er mit seiner rechten Hand ihren eingehakten Arm fest und fragte schmunzelnd.

»Wollen S’ mir nicht noch ein bisserl Gesellschaft leisten? Heut’ ist so ein wunderbarer Abend… Endlich ist der Frühling da. Darf ich Sie auf ein Glaserl Wein und ein kleines, feines Abendessen einladen?«

Fritzi war verblüfft ob der Unverfrorenheit des Fremden. So unverschämt war sie noch nie von einem Mann angeredet worden. Und trotzdem! Gerade das gefiel ihr. Außerdem war sie nach dem langen Arbeitstag, an dem sie nichts außer einem Stück Milchstollen mit Rosinen gegessen hatte, ziemlich hungrig. Deshalb nickte sie zustimmend und spazierte schweigend am Arm des Fremden durch den siebten Bezirk. Auch er sprach nicht viel, bis sie am unteren Ende der Josefstädter Straße angekommen waren, wo sie die hell erleuchteten Fenster der Gastwirtschaft ›Zur Stadt Paris‹ vor sich sahen.

»Schaun S’, da sind wir schon. Da werden wir jetzt was Gutes essen und diesen wunderbaren Abend genießen. Darf ich mich übrigens vorstellen: Leopold Löwenstein.«

 

Viel später, als er in sein Zimmer im Hotel Hungaria zurückgekehrt war, lächelte Budka stolz. Der Name Löwenstein war ihm spontan eingefallen und hatte bei der kleinen Friederike ganz schön Eindruck gemacht. Vor allem als er ihr versicherte, dass er aus einer alten, ursprünglich aus Tirol kommenden Familie stammte. Als typisches Wiener Mädel, das in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen war, hatte Fritzi nämlich Angst gehabt, dass er Jude sei, wie der Name vielleicht hätte vermuten lassen. Der Schmäh mit den Tiroler Vorfahren reichte aber aus, um sie von seiner nichtjüdischen Abstammung zu überzeugen. Über die Dummheit der Wiener und deren Vorurteile den Juden gegenüber musste Budka immer wieder den Kopf schütteln. In den nunmehr über fünf Jahrzehnten seines Lebens hatte er nie einen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden erkennen können. Mörder, Gauner und Verbrecher gab es da wie dort. Diesbezüglich kannte er sich wirklich gut aus. Denn im Zuchthaus, in dem er fast 20 Jahre seines Lebens verbracht hatte, gab es solche und solche Mitgefangene. Und diesem absurden Judenhass, den der im letzten Jahr verstorbene Bürgermeister Lueger jahrzehntelang in Wien geschürt hatte, konnte er nichts abgewinnen. Genauso, wie er für das christlich-soziale Pack, das Wien seit nunmehr fast 15 Jahren regierte und das sich hier alle Pfründe gesichert hatte, keine Sympathien empfand. Als er sich im Lavoir Gesicht und Hände wusch und sich in dem Spiegel an der Wand betrachtete, musste er wieder lächeln. Im Schein der flackernden Kerze sah er richtig diabolisch aus. Er dachte an Engelbert Hubendorfer, Direktor des Ersten Wiener Consum-Vereins. Das war ein allseits geachteter Bürger und tadelloser Katholik, der sonntags mit seiner Frau in die Kirche und wochentags mit der Fritzi Nemec ins Bett ging. Ein sogenannter anständiger Mann, der in der Genossenschaft Karriere gemacht hatte. Aber auch solche Herren mussten irgendwann einmal sterben. Und demnächst war der feine Direktor Hubendorfer dran…