XII.

»Herr Inspector! Drüben am Karmelitermarkt ist ein Aufruhr!«

Zischek, der Adjutant des Zentralinspectors Fuchs, hatte die Tür aufgerissen und sprudelte los:

»Das Kommissariat Leopoldstadt hat grad bei uns im Zentralinspectorat angerufen, ob ma ein paar Leut’ rüberschicken können.«

Nechyba stand ohne eine Miene zu verziehen auf, klappte die Akten zu, die er gerade gemeinsam mit Pospischil bearbeitet hatte, schnappte Überzieher und Melone und brummte: »Gemma…«

Pospischil eilte in das Nebenzimmer, um sich ebenfalls Hut und Mantel zu holen. Nechyba warf einen Blick in das fast leere Dienstzimmer und sah, dass von seinen Polizeiagenten nur der lange Paul und der Fraczyk anwesend waren.

»Paul, du haltest die Stellung da. Fraczyk, du gehst mit. Komm schon, zah’ an44

Im Davoneilen rief er Zischek zu:

»Sagen S’ dem Herrn Zentralinspector, wir sind schon unterwegs, und dass ich mich persönlich drum kümmere!«

 

Vom Polizeigebäude in der Elisabethpromenade aus hatten sie es wirklich nicht weit: Ihr Weg führte sie über die Augartenbrücke und dann ein Stück den Donaukanal entlang. Über die Schiffamtsgasse und Im Werd gelangten sie zum Karmelitermarkt. Hier war bereits die Menschenmenge zu sehen, die sich vor einem der angrenzenden Häuser versammelt hatte. Zwei berittene Polizisten und vier Sicherheitswachebeamten versuchten, die Schaulustigen abzudrängen. Steine flogen, es wurde geschrien und geschimpft. Nechyba und seine Leute drängten sich durch die Menge, einen Steinewerfer packten sie im Vorbeigehen beim Kragen und schleiften ihn zu den uniformierten Polizisten. Das ließ Ruhe einkehren. Bedrohliche Stille breitete sich aus. Die Berittenen gruppierten sich um die drei Polizeiagenten und den Verhafteten. Nechyba holte tief Luft und brüllte:

»Seid Ihr alle narrisch geworden? Was ist denn los?«

Eine Frau in einem abgetragenen Kleid, einer abgewetzten Schürze und einem Wollumhang drängte sich vor. An ihren Kittel klammerten sich drei verängstigt dreinschauende Kinder.

»Euer Gnaden, bitte, net bös’ sein. Aber unser Hausherr hat uns g’rad delogiert. Und ich weiß net, wo ich mit meinen Kindern, den drei kleinen und den beiden großen, die was beim Handwagerl mit unser’n Siebensachen stehen, hin soll. Ich hab’ mich halt g’wehrt, als mich der Grobian von einem Hausherrn an den Haaren auf die Strass’n gezogen hat. Dabei hamma so viel Aufsehen erregt, dass jetzt der Bahöö45 beinander is.«

Ein dicker Mann in Anzug, Mantel und Hut stieß die Frau grob zur Seite und schrie mit hochrotem Kopf:

»Ein Grobian soll ich sein? Was bildet sich diese Person ein? Es ist mein gutes Recht als Hausherr, dass ich Leute, die die Miete nicht zahlen, an die frische Luft setze!«

Dabei machte er den Fehler, Nechyba direkt ins Gesicht zu brüllen. Der Inspector packte ihn hart an der Schulter und stieß ihn einen Schritt zurück.

»Beherrschen Sie sich gefälligst! Sonst kommen S’gleich mit aufs Polizeigebäude.«

Der Hausherr ließ sich nicht einschüchtern. Wie von einer Sprungfeder getrieben, stand er schon wieder Aug in Aug mit Nechyba und schrie:

»Ich bin da der Hausherr und ich mach’, was ich will! Ich…«

Weiter kam er nicht, denn das war eindeutig eine Insultierung eines k.k. Beamten. Das konnte Pospischil nicht durchgehen lassen. Der zniachtige46 Polizeiagent holte mit seinem Totschläger aus und landete einen wuchtigen Hieb auf dem Buckel des Dicken. Dem verschlug es die Sprache. Im nächsten Moment bekam er von Nechyba einen dermaßen gewaltigen Rempler47, dass er das Gleichgewicht verlor und es ihn auf den Hintern setzte. Mit einem Aufschrei stob die Menge auseinander. Zwei grobschlächtige Männer, einer sah mit seiner Schürze und seinem Kapperl wie der Hausmeister des betroffenen Hauses aus, eilten dem Gestürzten zu Hilfe. Nechyba trat vor den Hauherrn hin und schnauzte ihn an:

»Zeigen S’ mir Ihren Ausweis! Den werd ich mir im Polizeigebäude ganz genau anschauen… Inzwischen können Sie sich dort in einer Zelle beruhigen. Ich verhafte Sie wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, wegen Verursachung eines öffentlichen Aufruhrs, wegen Körperverletzung einer hilflosen Frau und wegen Amtsehrenbeleidigung.«

Applaus brandete auf. Nechyba war das peinlich. Schließlich agierte er hier nicht als Mitwirkender einer fahrenden Komödiantentruppe, sondern als Sicherheitsorgan. Grantig rief er der versammelten Menschenmenge zu:

»Schluss! Aus! Ende der Vorstellung. Geht’s heim! Geht’s weiter, schleicht’s euch48

Und als er in die sich langsam auflösende Menschenmenge sah, erblickte er plötzlich den Oprschalek. Nach einer Schrecksekunde des beiderseitigen Erkennens machte sich der am äußersten Rand stehende Oprschalek fluchtartig aus dem Staub. Nechyba rief dem neben ihm stehenden berittenen Polizisten zu:

»Schnappen Sie sich den da hinten! Den such ma, des is a Mörder!«

Der Berittene beugte sich zu ihm runter und schrie:

»Wen? Herr Inspector, wen?«

»Na, den, der da wegrennt!«

Doch als er dem Polizisten den flüchtenden Oprschalek zeigen wollte, war der verschwunden.

»Er ist in Richtung Taborstraße gerannt. A ganz a dürre Gestalt, ziemlich groß. Einen modischen Mantel hat er ang’habt.«

Der Berittene nickte und lenkte sein nervös tänzelndes Pferd geschickt durch die Menschenmenge. Nechyba sah ihm nach. Plötzlich zupfte ihn jemand am Ärmel. Er sah in das verhärmte Gesicht der delogierten Frau.

»Danke, Euer Gnaden! Danke…«, murmelte sie »dass Sie nicht uns, sondern den Grobian verhaftet haben.«

»Ich bin ka Grobian!«, brüllte der Hausherr und wollte sich auf die Frau stürzen. Doch Pospischil und Fraczyk packten ihn links und rechts am Kragen und rissen ihn zurück. Pospischil trat ihm zur Sicherheit noch in die Kniekehle, halblaut knurrte er: »Kusch!«

Nechyba gab seinen Agenten den Befehl, den Hausherrn abzuführen. Er selbst baute sich nun vor dem verängstigten Hausmeister auf.

»Er ist also der Hausmeister in dem Haus da?«

»Sie sagen es, Exzellenz. Zu Diensten, Euer Gnaden…«

»Sie sind also auch gegen diese Frau da gewalttätig geworden?«

Der Hausmeister wurde blass, er verkrümmte buckelnd seinen Körper und rieb sich unsicher die Hände. ›Eine widerwärtige Kreatur‹, dachte Nechyba, ›ein Arschkriecher nach oben und ein Arschtreter nach unten.‹ Nervös stotterte der Hausmeister:

»Aber nicht… nicht doch, Exzellenz. Nicht so… so wie Sie denken. Ein bi… bisserl g’schubst hab ich s’ viel… vielleicht. Sie werden mich doch nicht ein… einsperren?«

Nechyba sah ihn böse an. Er trat auf ihn zu, packte ihn beim Hemdkragen und zog ihn ganz nahe zu sich her. Dann flüsterte er ihm zu:

»Soll ich dich auch ein bisserl schubsen? Im Verhörzimmer bei uns?«

Der Hausmeister begann nun wie ein frisch gestürztes Sülzchen zu zittern. Ganz leise fuhr Nechyba fort:

»Du kennst doch sicher den einen oder anderen Hausmeister in den Nachbarhäusern da?«

»Ja, Exzellenz, selbstverständlich, Exzellenz.«

»Und? Hat einer von denen eine billige Wohnung frei? Für die Frau und die Kinder?«

Die hausmeisterliche Kreatur verdrehte die Augen. Nechyba nahm nun die zweite Hand zu Hilfe, packte die andere Seite des Hemdkragens und drückte langsam, ganz langsam zu.

»Und?«

»Mein Schwa… Mein Schwager, der was… der Hausmeister in der Floßgasse ist, könnt was frei haben…«

»Könnte oder hat er was frei?«

»Hat… hat was frei…«

Nechyba ließ ihn los. Der Hausmeister rang nach Luft, hustete und spuckte. Der Inspector winkte die Frau zu sich:

»Kommen S’! Gemma in die Floßgasse.«

Mit einem knappen Gruß verabschiedete er sich von den Uniformierten und wollte gerade losgehen, als der berittene Polizist zurückkam.

»Herr Inspector, melde gehorsamst, habe kein Subjekt, so wie von Ihnen beschrieben, ausfindig machen können!«

Jössas! Der Oprschalek! Auf ihn hatte Nechyba völlig vergessen. Eine Schande! Eigentlich hätte er dem Berittenen hinterhereilen müssen. Gemeinsam wäre ihnen der gesuchte Mörder vielleicht nicht entwischt. Und weil er vor lauter Ärger Dampf ablassen musste, haute er mit der flachen Hand dem Hausmeister eine Fürchterliche auf den Buckel und sagte mit falscher Freundlichkeit:

»Gemma! Jetzt beschaff ma der Frau und den Kindern eine neue Wohnung.«

 

Als er abends daheim mit seiner Frau Aurelia in der Küche saß und einen wunderbaren Stefaniebraten verzehrte, erzählte er ihr von der ganzen Angelegenheit. Er beschrieb, wie er den anderen Hausmeister unter Androhung körperlicher Gewalt zwingen musste, die Familie einziehen zu lassen. Da ihm aber klar war, dass der die Familie unter solchen Umständen keine Woche lang in seinem Haus dulden würde, war er mit ihm in einen dunklen Winkel des Hofes gegangen. Dort hatte er ihn gefragt, wie viel er normalerweise Provision von neuen Mietern bekomme. Nach einigem Sträuben hatte der Hausmeister »zwei Kronen« gesagt.49

»Das hab’ ich ihm dann aus meiner eigenen Tasche bezahlt. Dafür hat er mir versprochen, dass er die Familie nicht gleich wieder hinausekeln wird.«

Aurelia seufzte. 2 Kronen waren viel Geld. Doch sie sagte kein Wort. Irgendwie war sie sogar stolz auf ihren Nechyba. So ein Riesenmannsbild und so ein weiches Herz. Außerdem hätte sie in dieser Situation wahrscheinlich genauso gehandelt…