XIV/2.

›Ich bin ein feiger Hund…‹, dachte sich Nechyba, als er im Arrestantenwagen neben dem Fahrer saß, während seine Leute die Frau Direktor Hubendorfer verhafteten. ›Wenn das Fegefeuer tatsächlich schon hier auf Erden beginnt, dann bin ich mitten drinnen. Aber das geschieht mir recht. Schließlich hätte ich mich niemals mit der Hubendorfer einlassen dürfen…‹. Gewissensbisse brannten hässliche, schwarze Flecken in sein sonst ziemlich reines Gewissen. Dabei hatte er nach seiner Beichte bei Goldblatt die Hubendorfer fast schon aus seinem Bewusstsein verdrängt gehabt. Doch schlagartig war sie wieder in sein Leben zurückgekehrt: als Anstifterin eines Doppelmords. Als er daran dachte, stieß es ihm säuerlich auf und Sodbrennen kündigte sich in seinem Schlund an. Es hatte ihn vor einer Woche wirklich eine große Überwindung gekostet, mit der bei Budka gefundenen Brieftasche zu ihr zu gehen. Ihre Begrüßung war kühl und sachlich gewesen, wobei ihm aufgefallen war, dass das böhmische Dienstmädel ihn hasserfüllt angestarrt hatte. Gott sei Dank hatte die Hubendorfer ihn nicht geduzt, sondern hatte ein vertrauliches aber doch auch distanziertes ›Er‹ verwendet.

»Es freut mich, dass er wieder einmal vorbeischaut. Darf man ihm etwas anbieten? Kaffee? Tee? Likör vielleicht…?«

»Danke, nein. Sehr liebenswürdig. Ich bin nur auf einen Sprung vorbeigekommen um… um… Ihnen ein Besitzstück Ihres verstorbenen Mannes zu bringen. Eine Brieftasche mit dem Monogramm E.H. Die hat doch Ihrem Gatten gehört?«

Die Hubendorfer hatte sie entgegengenommen, geöffnet, innen und außen betrachtet und dann auf die Anrichte gelegt.

»Das ist tatsächlich die Brieftasche meines verstorbenen Gatten. Wo wurde sie gefunden?«

»Sie war im Besitz eines gewissen Nepomuk Budka. Ich weiß nicht, ob Sie Zeitung gelesen haben… er hatte unlängst meine… meine Frau überfallen. Ich bin dazwischengegangen und hab ihn verfolgt. Leider ist er dabei vor eine Tramway gerannt und danach noch unter die Hufe eines Pferdefuhrwerks gekommen.«

»Ah ja! Ich glaub’, ich hab da was gelesen…«

»Das ist recht ausführlich in allen Zeitungen gestanden… Ich hab’, bevor ich gehe, noch eine Bitte, eine reine Formsache: Könnten Sie mir die Übernahme der Brieftasche schriftlich bestätigen?«

Bei der Erinnerung an diese Szene grunzte Nechyba zufrieden. Damit war ihm die Hubendorfer auf den Leim gegangen. Sie hatte nach dem Dienstmädel geläutet und sich Papier, Feder und Tinte bringen lassen. Dann hatte sie mit einem knappen Satz den Erhalt der Brieftasche bestätigt. Auf Nechybas Bitte hatte sie zwei weitere Sätze hinzugefügt: Ich bestätige ebenfalls, dass die Brieftasche bei der Übergabe keinerlei Geld oder Artikel des täglichen Consums beinhaltet hat. Sie war gänzlich leer. Diese beiden Sätze hatte sich Nechyba in mühevoller Denkarbeit zurechtgelegt. Darin kamen die Worte ›ebenfalls‹, ›Consum‹ und ›Sie‹ vor. Damit hatte der Graphologe drei Mal einen direkten Vergleich mit dem Text des Mordauftrags. Das würde seine Expertise erhärten und vor Gericht als eindeutiger Beweis für ihre Schuld gelten.

 

Der Inspector wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Fraczyk und Paul die Hubendorfer zum Arrestantenwagen führten. Hinter den dreien wurde das Haustor aufgerissen und ein alter Mann stürzte heraus. Ihm folgte eine Frau, die ihn an der Schulter packte und zurückhielt. Er riss sich los, doch sie packte ihn neuerlich, nun mit beiden Händen. Fast sah es so aus, als ob die beiden Alten miteinander zu raufen anfangen würden. Doch der Mann besann sich und hielt inne. Die beiden Polizeiagenten kletterten gemeinsam mit der Hubendorfer in den hinteren Teil des Arrestantenwagens. Die Tür wurde von innen verriegelt. Fraczyk rief:

»Alles erledigt! Fahr’ ma!«

Langsam zuckelte der Wagen los und als Nechyba zurückblickte, sah er, wie der alte Mann die Frau anschrie: »Aber das können S’ mit unserer Hausfrau doch nicht machen!«

»Ah! Der Hausmeister…«, murmelte Nechyba und plötzlich kam ihm die ganze Situation merkwürdig vor. Wieso regte sich der Kerl so auf? Dass er entsetzt war, als man die Hausbesitzerin abführte, schön und gut. Aber so ein Theater aufzuführen, war merkwürdig. Sehr merkwürdig… Der Arrestantenwagen war schon in die Neustiftgasse eingebogen, als Nechyba zum Fahrer sagte:

»Halten S’ kurz an.«

Als er ausstieg, rief er Fraczyk zu:

»Bringt’s die Frau Direktor ins Polizeigebäude und fangt’s mit dem Verhör an. Ich komm später nach…«

»In Ordnung, Chef!«

Nechyba eilte zurück in die Zeismannsbrunngasse. Mit flotten Schritten nahm er die paar Stufen, die ins Erdgeschoss führten, ging zur Hausmeisterwohnung und klopfte an die Tür. Eine Frauenstimme rief:

»Wer ist da?«

»Inspector Nechyba, Polizeiagenteninstitut.«

Er hörte schlurfende Schritte, dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. Nechyba zückte seine Polizeiagenten-Kokarde und drückte die Tür auf.

»Sie sind die Hausmeisterin? Wo ist Ihr Mann?«

»Dem geht’s net gut. Der hat sich niedergelegt…«

»Holen S’ ihn! Ich muss mit ihm reden.«

Die Alte schlurfte in das Zimmer, das sich hinter der Wohnküche befand. Nechyba hörte, wie sie mit ihrem Mann flüsterte. Der Inspector setzte sich auf einen der Küchenstühle und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Küchentisch. Schließlich ging die Tür auf und der alte Mann kam in die Küche. Sein Gesicht war aschfahl und er zitterte. Nechyba tat er leid.

»Kommen S’! Setzen S’ Ihnen her und erzählen S’ mir in Ruhe alles, was Sie bedrückt«, sagte Nechyba in versöhnlichem Tonfall. Der Alte nahm ihm gegenüber Platz und starrte vor sich auf den Tisch. Die Frau blieb im hinteren Teil der Küche mit bitterböser Miene und mit vor der Brust verschränkten Armen stehen.

»Es is eh nix. Nix is… A bisserl schlecht is mir halt. Das gibt sich wieder…«

»Warum haben Sie sich denn so aufgeregt, als wir die Frau Direktor vorhin abgeführt haben?«

Der Alte starrte bockig auf den Küchentisch und zuckte mit den Schultern. Aus dem Hintergrund keifte seine Frau:

»Hab ich’s dir net g’sagt? Dass du dich net so aufführen, sondern herinnen bleiben und die Gosch’n halten sollst?«

»Ich hab’ mi net auf’gführt«, knurrte der Alte.

»Ah so? Und wer is ausse auf die Straßen g’rannt und hat herumg’schrien?«

»Ich hab mich halt aufgeregt. Weil…«

»Weil S’ die Frau Direktor mögen?«, schaltete sich Nechyba ein. Dem Alten traten Tränen in die Augen. Stockend erzählte er:

»I… i kann mi noch erinnern, wie s’ ganz klein… ganz klein war. Wie s’ noch Windeln ang’habt hat… Sie ist oft bei uns da herunten in der Wohnung g’wesen… Mei Frau und i haben oft auf die Kleine auf’passt… Wenn ihre Eltern ins Theater oder in ein Konzert gegangen sind. Ihr Herr Papa, der damals unser Hausherr war, war nämlich ein sehr kunstsinniger Mensch…«

»Und deshalb haben Sie sich so aufg’regt, wie wir die Frau Direktor abg’führt haben…«

»Einen Stich hat’s mir geben, mitten ins Herz!«, schrie der Hausmeister. »Die Kleine is wie a Tochter für mi. Meine Frau und i, wir haben ja nie Kinder g’habt…«

Dann fing er hemmungslos zu weinen an. Nechyba ließ dem alten Mann Zeit. Schließlich holte der Hausmeister ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich mehrmals dröhnend. Als er das Taschentuch zusammengelegt und in der Hosentasche verstaut hatte, seufzte er. Und plötzlich setzte sich die Hausmeisterin neben ihn und umarmte ihn. Eine rührende Geste, dachte sich Nechyba. Die dicke, alte Frau sah jetzt auch nicht mehr bitterböse drein, sondern sagte zu dem Inspector mit leiser Stimme:

»In der letzten Zeit hat s’ wirklich nur Pech g’habt, unsere Hausfrau. Unsere Kleine, wie wir sie immer g’nannt haben. Zuerst ist ihr der Mann verstorben. Dann ist ihr Vetter Franz aufgetaucht. Der hat sich rührend um sie gekümmert. Und dann hat der plötzlich auch a Bankl g’rissen145. Nur Pech hat’s g’habt…unsere Kleine… nur Pech…«

»Ein Vetter war bei ihr? Wie hat denn der ausg’schaut?«

Die Hausmeisterin zuckte mit den Schultern.

»Na, ganz normal. A junger Mensch, so wie Sie. Net ganz so kräftig wie Sie und etwas kleiner. Braune Haare hat er g’habt, breite Schultern und a markant g’schnittenes G’sicht…«

Nechyba zuckte zusammen. Konnte das möglich sein? Er zog eine Photographie heraus, die er vom toten Budka in der Pathologie hatte machen lassen, und zeigte sie der Hausmeisterin. Die schaute sich das Bild genau an und nickte dann.

»Ja, das is er. Beziehungsweise das war er. Der liebe Vetter Franz…«