XVIII.

Nechyba war grantig. Er hatte Leo Goldblatts Interview mit Oprschalek gelesen. Dies war in den Räumlichkeiten des Café Landtmann geschehen, zu einem Zeitpunkt, als Goldblatt ausnahmsweise einmal nicht anwesend war. Nechyba hatte mit einem Schnaufer der Entrüstung die Zeitung zugeschlagen, mit dröhnender Stimme »Zahlen!« gerufen und sodann mit wehendem Mantel das Kaffeehaus verlassen. Mit einer mächtigen Wut im Bauch stapfte er dahin. Sein Weg führte ihn durch den Volksgarten, den Ring entlang zum Karlsplatz und dann weiter zum Naschmarkt. Hier herrschte nachmittägliche Stille, denn viele Fratschlerinnen hatten ihre Stände bereits abgebaut. Es gab aber auch noch einige, die in der Nachmittagssonne vor sich hin dösten. Da es in den letzten Tagen ausgiebig geregnet hatte, war es sehr schwül. Vor lauter Wut wäre Nechyba am liebsten aus der Haut gefahren. Doch so sehr er auch suchte, er fand einfach niemanden, an dem er sich im Zuge einer Amtshandlung abreagieren hätte können. Und als er so missmutig über den Markt stapfte, erinnerte er sich daran, wie er seinerzeit den halbwüchsigen Alphonse Schmerda beim Stehlen von Äpfeln erwischt hatte. Das war auch schon wieder fast zehn Jahre her… Mein Gott, wie die Zeit verging! Die Erinnerung an seine damalige Amtshandlung stimmte ihn etwas milder. Wenn er damals den Alphonse besser gekannt hätte, hätte er nie so brutal agiert. Heute tat ihm das leid. Und als er sich für sein damaliges Verhalten zu genieren begann, war plötzlich auch die drückende Wut verschwunden. Nun, da er sich beruhigt hatte, fiel ihm ein Bauernweiblein mit einem Riesenkopftuch auf, das gerade einen Korb Eier zusammenpackte. Skeptisch fragte er:

»Sind die frisch? Oder fangen s’ schon zum Leben an, wenn man s’ aufschlagt?«

»Aber, mein Herr! Ich bitt’ Sie! Die hab ich heut Morgen auf unserem Hof in Rohrau eigenhändig aufgesammelt.«

»Was? So vü Hendln haben Sie?«

»Na, net so vü! Die Eier san von mir und meinen Nachbarinnen. Wir wechseln uns allwäu72 ab… bei der Fahrt auf Wean73

Nechyba schmunzelte und kaufte 10 Eier. Denn plötzlich hatte ihn ein Gusto auf Eiernockerln gepackt. Was er sonst noch brauchte? Einen ordentlichen frischen Salat sowie eine Zwiebel. Weiters würde er ein Stück Speck benötigen, denn Eiernockerln bereitete er grundsätzlich mit Speck zu. Und als er das Stanitzel mit den Eiern in seinen Pranken hielt, sah er plötzlich den Oprschalek von schräg hinten. Fast hätte er das Stanitzel fallen lassen. Er drückte es der verdutzten Bäuerin in die Hand, rief »Bitt’ schön, halten S’ mir das einen Augenblick« und eilte dem Mann nach. Als Nechyba ganz knapp hinter ihm war, blieb der lange, knochige Kerl stehen, drehte sich um und sah den keuchenden Inspektor fragend an. Der verharrte ruckartig in seiner Bewegung und stammelte:

»T’schuldigen… T’schuldigen vielmals. Hab’ Sie verwechselt. Ich hab’ gedacht, Sie sind der Frantisek Oprschalek, den wir suchen tun…«

»Oprschalek? Kenn i net! I haß Ferdinand Müllner. Mit einem Oprschalek hab’ i nix zu tun.«

Nechyba nickte und wandte sich ab. Nachdenklich ging er zu der Bauersfrau zurück. Er hatte den Eindruck, dass sich der Oprschalek allmählich zu einer fixen Idee in seinem Kopf entwickelt hatte. Und plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob er damals am Karmelitermarkt den echten Oprschalek oder nur einen Doppelgänger gesehen hatte. Seufzend bedankte er sich bei der Fratschlerin und nahm die Eier. Bei einem anderen Standel kaufte er ein Häuptel Salat sowie eine rote Zwiebel. Danach spazierte er zu seinem Fleischhauer auf der Gumpendorfer Straße, um ein Stück Speck zu erstehen.

 

Daheim, in seiner Wohnung in der Papagenogasse, zog er sich als Erstes Schuhe und Socken aus. Das Linoleum kühlte angenehm die verschwitzten und von der Hitze verschwollenen Füße. Nachdem er einen kräftigen Schluck Wasser getrunken hatte, stand er ächzend auf und griff sich einige Holzscheite sowie Zündspäne und machte Feuer im gemauerten Herd. Da es sowieso etwas dauerte, bis das Feuer den Herd erwärmte, setzte er sich wieder nieder und grübelte. Alles hatten er und seine Männer versucht. Sie hatten Oprschaleks Meister befragt, und auch die Konfektionsfabriken, für die beide gearbeitet hatten, waren von seinen Polizeiagenten abgeklappert worden. Außerdem hatten sie mit Gewerkschaftern und mit Funktionären der Sozialdemokratischen Partei gesprochen. Seine Leute frequentierten laufend deren Versammlungen und Nechyba hatte höchstpersönlich den Arbeiterführer Franz Schuhmeier nach Oprschalek befragt. Doch überall erfuhren sie nur das, was sie selbst schon wussten: Dass Frantisek Oprschalek seit dem Mord an seiner Frau wie vom Erdboden verschwunden war. Er schien alle alten Freunde und insbesondere seine Parteifreunde zu meiden. Nechyba stand ächzend auf, die Herdplatte wurde allmählich heiß. Er legte weitere Holzscheite nach, holte in einem Krug frisches Wasser von der Bassena am Gang und stellte es in einem großen Topf auf den Herd. Er salzte das Wasser und verrührte dann sechs Eier in einer Schüssel. Plötzlich hatte er Lust auf einen Schluck Wein. Aus dem hintersten Winkel seiner Küche, dort wo es das ganze Jahr über kühl und ein bisschen feucht war, holte er eine Flasche Nussberger hervor. Mit Genuss kostete er von diesem fruchtig-herben Wein, seufzte diesmal wohlig, griff zu einem scharfen Messer und dem Brett und begann den Speck in kleine Würferln zu schneiden. Einige davon steckte er sich mit spitzbübischem Grinsen in den Mund und spülte mit einem Schluck Grünen Veltliner nach. Ja, das war was! So ein resches Tröpferl vom Nussberg und ein Stückerl Speck…

›Der depperte Oprschalek soll mir den Buckel ’runterrutschen!‹, dachte Nechyba und schenkte sich Wein nach. Hin und wieder nahm er einen Schluck und schaute ansonsten ins Narrenkastl74. Als das Wasser endlich zu kochen begann, stand er auf und schob die Kasserolle von der Feuerstelle weg. Auf eine Stelle des Herdes, wo es warm blieb, aber nicht weiterkochte. Er schenkte sich neuerdings vom Wein ein, setzte sich nieder, schob ein paar Speckwürferln in den Mund und nahm einen Schluck Wein. Dann seufzte er zufrieden, verschränkte die Arme und schlief ein.

 

Als er aufwachte, wusste er zuerst nicht, wo er war. Sein Kreuz schmerzte und er stand mühevoll vom Küchensessel auf. Als er sich streckte, krachten die Wirbel in seinem Rücken. Er tapste zum Lavoir und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann angelte er die Taschenuhr aus der Hosentasche und erschrak. Es war 10 Minuten vor 8 Uhr. Um 8 Uhr hatte seine Frau Dienstschluss im Haushalt des Hofrats Schmerda. Dann dauerte es 7 bis 8 Minuten, bis sie bei ihm daheim war. Er stürzte zum Herd und sah, dass es zum Glück noch eine schöne Glut gab. Er schob Holzscheite nach und hob die noch immer warme Kasserolle mit dem Wasser zurück auf die große Herdplatte. Nun begann er, den Nockerlteig zuzubereiten. Er vermischte in einem Weidling Eier, Milch und etwas zerlassene Butter, dann arbeitete er ordentlich Mehl ein, bis es einen schön klebrigen Teig ergab. Mit pickenden75 Fingern suchte er das Nockerlsieb, das er über das nun wieder kochende Wasser legte. Mit einer Spachtel drückte er den Teig durch die runden Öffnungen des Siebes. Danach wusch er sich die Finger und sah mit großer Befriedigung zu, wie die Nockerln im leise wallenden Wasser tanzten. Nun schnitt er den Strunk des Salats ab, entfernte die äußeren welken Blätter und wusch den Rest in der Bassena. Die inzwischen fertig gekochten Nockerl goss er ebenfalls über dem Wasserbecken am Gang ab. ›Zum Glück hab ich die Bassena neben meiner Wohnungstür‹, dachte Nechyba, als er die leere Kasserolle auf die glühend heiße Herdplatte stellte und die Speckwürferl hineingab. Knisternd gaben die Speckwürferl Fett ab, Nechyba rührte mit dem Kochlöffel ein paar Mal um, gab dann die Nockerln dazu und vermischte sie mit dem Speck. Als er den Topf von der Herdplatte nahm und einen Deckel draufgab, wurde die Wohnungstür geöffnet. Seine Frau trat ein, gab ihm ein Busserl und sagte:

»Was kochst denn da, Nechyba?«

»Eiernockerl mit grünem Salat…«

»Ahh… und einen Wein hast auch aufgemacht?«

Nechyba hielt beim Schneiden der Zwiebelringe inne, ging zur Küchenkredenz, nahm ein zweites Weinglas heraus und schenkte seiner Frau ein. Dann prostete er ihr zu: »Auf uns, mein Rehlein…« Aurelia runzelte die Stirn, da sie diese Verniedlichung ihres Vornamens gar nicht mochte. Allerdings war sein Tonfall so zärtlich, dass sie ihrem Nechyba die plumpe Vertraulichkeit verzieh. Dann erzählte er ihr von seinem Ärger mit Oprschalek und gestand ihr, dass er bisher nicht Alphonse Schmerdas Hinweisen bezüglich des Hotels Hungaria nachgegangen war. Seine Frau hatte ihm von Alphonses Beobachtungen schon vor einiger Zeit erzählt. Nechyba seufzte:

»Vielleicht ist da doch etwas dran… Glaubst, kann ich morgen einmal mit ihm reden?«

Aurelia Nechyba seufzte nun ebenfalls. Dann erzählte sie ihrem Mann, dass es gestern Abend einen fürchterlichen Streit zwischen dem Hofrat Schmerda und seinem Sohn gegeben hatte. Und dass Alphonse seitdem verschwunden war. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Seine Mutter und seine Schwestern waren mit den Nerven völlig am Ende. Der Hofrat versuchte zwar Haltung zu bewahren, aber Aurelia hatte beobachtet, dass der Dr. Schmerda, der sonst immer über einen gesegneten Appetit verfügte, heute das Abendessen kaum angerührt hatte.

Nachdem Nechyba den Salat mariniert und mit Zwiebelringen dekoriert hatte, sprudelte er nochmals die Eier auf und goss sie über die heißen Nockerln. Er verrührte alles und richtete zwei kräftige Portionen an. Während er und seine Frau schweigend aßen, dachte er sich: ›Manchmal rennt man überall nur gegen eine Wand…‹ Nach dem Essen und einem kräftigen Schluck Wein streichelte Aurelia Nechyba über seine mächtigen Pranken und sagte:

»Mach dir net so viele Sorgen. Irgendwie wirst du den Fall schon lösen.«

Und nach einem weiteren Schluck fügte sie neckend hinzu:

»Wer so gute Eiernockerl machen kann, der kann auch einen Oprschalek fangen.«

 

Voll Tatendrang betrat Joseph Maria Nechyba am nächsten Morgen sein Büro. Er rief die Polizeiagenten seiner Gruppe zusammen und erklärte ihnen, dass es vielleicht eine neue Spur im Fall Oprschalek gäbe.

»Meine Herren, ich habe Informationen, dass sich der Gesuchte im 3. Bezirk herumtreibt. Das heißt, dass wir ihn ab sofort nicht mehr nur im Karmeliterviertel und in Ottakring bei seinen Genossen, sondern auch im gesamten 3. Bezirk suchen. Wir werden dort alle Hotels und Weinhäuser überprüfen. Restaurants, Beisln, Kaffeehäuser, Tschecherln, Brandineser76 et cetera lassen wir vorerst einmal aus.«

Der Polizeiagent Paul, ein langes, dürres Elend, matschgerte77:

»Warum denn grad die? Dort könnt er sich ja auch herumtreiben…«

Nechyba sah ihn streng an und replizierte:

»Weil ich es so will.«

Nechyba dachte nicht im Traum daran, seinen Untergebenen die Hintergründe zu erklären. Sollte er ihnen vielleicht sagen, dass er den Hinweis von seiner Frau bekommen hatte? Und dass sie es von einem verwirrten Jus-Studenten erfahren hatte, der sich einbildete, Schauspieler zu sein, und der gerade abgetaucht war?

Nein, da würde er sich eher auf die Zunge beißen, als so etwas laut vor seinen Leuten auszusprechen. Zurück in seinem Büro zündete er sich eine Virginier78 an, sah die eingegangenen Akten durch und rief schließlich Pospischil zu sich ins Büro.

»Es ist zwar noch ein bisserl früh, aber des is ma wurscht. Ich brauch jetzt mein Gabelfrühstück.«

Er gab Pospischil eine Münze und dieser machte sich auf den Weg, das obligate Krügel Bier aus dem Beisl am Eck zu holen. Nechyba packte inzwischen ein knuspriges Kaisersemmerl aus, das dick mit Krakauer79 gefüllt war. Voll Genuss biss er hinein, schloss die Augen und lehnte sich zufrieden kauend zurück. Just in diesem Moment klopfte es, die Tür wurde, ohne auf eine Antwort zu warten, aufgemacht und Zentralinspector Fuchs trat ein. Nechyba dachte sich: ›Net einmal einen Augenblick lang hat man a Ruh…‹ Roman Fuchs sah Nechyba kauen und lachte:

»Na, Joseph, bist schon wieder bei deiner Lieblingsbeschäftigung, beim Essen?«

»Geh, Roman, sei net so. Das Essen macht dir ja auch Spaß…«

»Freilich, freilich… man sieht’s ja auch«, lachte Fuchs und strich sich über seinen Bauch. »Sag, seit wann gibt’s bei dir zum Gabelfrühstück kein Bier?«

»Ich hab ihn g’rad runtergeschickt, den Pospischil. Allerdings nur um ein Bier. Hab ja nicht gewusst, dass du mich mit deinem Besuch beehrst. Aber das hamma gleich…«

Mit der Faust klopfte er gegen die Wand, aus dem Nebenraum erscholl ein »Jawohl, Herr Inspector!«, und Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen und der lange Paul trat ein. Als er den Zentralinspector vor Nechybas Schreibtisch sitzen sah, nahm er Haltung an und grüßte förmlich. Nechyba brummte:

»Ist schon gut, Paul. Lauf runter ins Eckbeisl, dort ist gerade der Pospischil. Sag ihm, er soll nicht ein, sondern zwei Krügeln Bier mitnehmen. Und außerdem ein Salzstangerl, damit der Herr Zentralinspector das Bier nicht ohne Begleitung hinunterwürgen muss.«

»Famose Idee, Joseph. Famose Idee!«

Fuchs strahlte, und während Paul eiligst das Zimmer verließ, holte er eine silberne Tabatiere hervor und zündete sich eine Zigarette an. Dann begann er mit Nechyba über dies und das zu plaudern. Als Pospischil die Biere und das Salzstangerl brachte, genossen die beiden Inspectoren ihr Gabelfrühstück. Nachdem Pospischil die leeren Gläser weggetragen und davor sowohl dem Zentralinspector als auch Nechyba Feuer gegeben hatte, rauchten beide eine Weile wortlos. Plötzlich gab sich Fuchs einen Ruck und beugte sich über den Schreibtisch vor:

»Weißt, wer heut’ Nachmittag nach Wien kommt?«

Nechyba schüttelte den Kopf.

»Der frühere Staatsoperndirektor, der Mahler.«

»Was, der Gustav Mahler? Ich hab doch erst gestern oder vorgestern in der Zeitung gelesen, dass er schwer krank ist und in Paris, in Neuilly, von einem gewissen Professor Chantemesse behandelt wird.«

»Der Chantemesse is Geschichte, Nechyba. Mahler wollte unbedingt nach Wien zurück. Heute am späten Nachmittag kommt er mit dem Orientexpress am Wiener Westbahnhof an. Schwer krank ist er und bettlägrig. Deshalb hat seine Familie den Polizeipräsidenten gebeten, dass wir Leute abstellen und den Herrn Direktor abschirmen. Ich hab schon mit dem zuständigen Kommissariat und dem dortigen Leiter, dem Oberkommissär Spielvogel, geredet. Der wird das in die Hand nehmen. Trotzdem möchte ich jemanden von unseren Leuten dabei haben. Und da hab’ ich an dich gedacht…«

Nechyba war das gar nicht recht. Er wollte sich lieber voll auf den Fall Oprschalek konzentrieren und heute Nachmittag persönlich einige Lokale und Hotels im 3. Bezirk abklappern. Raunzend sagte er:

»Geh, musst du mir das wirklich antun?«

»Joseph, das muss sein. Wenn irgendwas passiert, hab ich den Scherm80 auf. Deshalb möchte ich, dass du dort anwesend bist. Weil, erstens bin ich dann beruhigt. Und zweitens: Wenn was passiert, hast du ihn auf… den Scherm.«

 

Joseph Maria Nechyba überquerte den weiten Platz vor dem Westbahnhof. Das vor rund 50 Jahren errichtete Gebäude sah wie ein langgestreckter Renaissancepalast aus. Er stieg ein paar Stufen empor, durchquerte das Vestibül, in dem eine lebensgroße Marmorstatue der ermordeten Kaiserin Elisabeth stand und trat hinaus zu den überdachten Gleisen, wo gerade dampfend und zischend ein Zug ankam. Es herrschte dichtes Gedränge. Menschen strebten zu den einzelnen Waggons, Dienstmänner warteten auf Kundschaft, Gepäckträger bahnten sich ihren Weg durch die Menge und Bahnbedienstete eilten geschäftigen Schrittes hin und her. Auf der Anzeigetafel informierte sich Nechyba, wann und auf welchem Gleis der Orientexpress eintreffen würde. Er schob sich durch die Menschenansammlung zu dem noch ziemlich leeren Perron. Nechyba blickte auf die Bahnhofsuhr und sah, dass er eigentlich viel zu früh dran war. Also kehrte er um und lenkte seine Schritte hin zum Bahnhofsrestaurant. Dort fand er ein stilles Platzerl, wo er in Ruhe ein Krügel Bier und ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren zu sich nehmen konnte. Nach dem Verzehr dieser Jause strich er zufrieden über seinen Schnauzbart und beobachtete das rege Kommen und Gehen im Lokal. Es fiel ihm eine schlanke, junge Dame auf, die ganz nervös an einem Kracherl81 nippte und immer wieder zur Tür sah. Sie hatte eine große Reisetasche bei sich und wartete augenscheinlich auf einen Reisebegleiter. Nechyba malte sich in seiner Fantasie aus, dass sie auf einen feschen, jungen Liebhaber wartete, der grundsätzlich zu jedem Rendezvous zu spät kam. Plötzlich huschte ein Strahlen über das Gesicht der Frau. Nechyba blickte Richtung Eingang und war enttäuscht. Ein dicklicher, älterer Herr, der seinen Reisekoffer von einem Dienstmann tragen ließ, kam auf das bezaubernde Wesen zu, küsste ihm galant die Hand und rief den Ober, um das Kracherl zu bezahlen. Dann verschwanden beide, gefolgt von dem Dienstmann, der nun auch ihre Reisetasche trug, in Richtung Bahnsteige. Nechyba seufzte:

»Doch keine Dame… nur a süßes Mädel82…«

Er rief den Ober, bezahlte und verließ ebenfalls die Lokalität. Der Perron, an dem der Orientexpress ankam, war bereits von zahlreichen wartenden Menschen bevölkert. Nechyba wusste, dass Gustav Mahler sich in einem der letzten Waggons befinden würde. Schnaufend, zischend, Funken und Ruß speiend sowie mit einem ohrenbetäubenden, metallischen Quietschen bremsend, rollte der Orientexpress in den Westbahnhof ein. Nechyba schob seine massige Gestalt durch die Menge und gelangte schließlich hinaus zum nicht überdachten Teil des Bahnsteigs. Auch dort warteten unzählige Menschen. Schließlich sah er eine Gruppe von Sicherheitswachebeamten. Nechyba trat zu dem Leiter der Polizistengruppe und klopfte ihm jovial auf die Schulter:

»Hawedere83, Herr Oberkommissär!«

»Ah, Kompliment, Herr Inspector. Ich hab’ schon gedacht, Sie kommen nimmer.«

»Geh! Ich bin eh gerade rechtzeitig gekommen. Also, sperr’ ma den Bahnsteig ab?«

Oberkommissär Spielvogel nickte und gab seinen Leuten die entsprechenden Anweisungen. Sie stamperten84 alle Zivilisten fort und bildeten eine Absperrung in Form einer Zweierreihe. Nur eine kleine Gruppe, die aus Gustav Mahlers Familienmitgliedern sowie dem Hofkapellmeister Walter und dem behandelnden Arzt, Professor Rosé, bestand, durfte innerhalb der Absperrung verweilen. Als der Zug stillstand, stieg als Erster Carl Moll, der Schwiegervater Gustav Mahlers, aus. Er begrüßte Professor Rosé und die Familienmitglieder. Dann kam er auf Spielvogel und Nechyba zu und begrüßte auch sie. Zwei Bahnbeamte stießen nun ebenfalls zu der Gruppe und man einigte sich darauf, dass Gustav Mahlers Waggon abgekoppelt und zu einer Rampe am Frachtbahnhof verschoben werden würde, wo das Krankenautomobil bequem zufahren konnte. Spielvogel, Nechyba, die uniformierten Sicherheitswachebeamten sowie die beiden Bahnbeamten folgten dem Waggon, in den alle Familienmitglieder zugestiegen waren, quer über die Gleise. Diese zu Fuß gehende Gruppe kam gerade rechtzeitig zu der Frachtrampe, um mitzuverfolgen, wie zwei Sanitäter den totenbleichen und sehr zerbrechlich wirkenden Mahler aus dem Waggon heraustrugen und auf eine Bahre betteten. Diese schoben sie dann vorsichtig in das Krankenautomobil. Als der Wagen abgefahren war, verabschiedete sich Nechyba unverzüglich von der versammelten Gesellschaft und stapfte in Gedanken versunken davon. So todkrank, wie Mahler ausgesehen hatte, würden ihn wahrscheinlich auch die ausgezeichneten Ärzte im Sanatorium Löw, wo man ihn nun hinbrachte, nicht retten können.

»Was hilft es, weltberühmt zu sein?«, brummte er vor sich hin. »Vor’m Tod sind wir doch alle gleich. Wenn der kommt, helfen weder eine Polizeiabsperrung noch teure Ärzte, noch sonst was…«

 

Als er so versonnen durch den Westbahnhof schlenderte, glaubte er plötzlich erneut, Oprschalek in der Menge zu entdecken. Wie ein schnaubendes Schlachtross drängte er die Leute zur Seite und versuchte, den lang Gesuchten einzuholen. Der blieb plötzlich stehen und begrüßte eine junge Frau. Dabei wandte er sein Gesicht Nechyba zu. Der Inspector erstarrte und murmelte: »Nein! Nicht schon wieder…«

Der, den er verfolgt hatte, war ganz und gar nicht Frantisek Oprschalek. Genau betrachtet sah er ihm nicht einmal sonderlich ähnlich. Nechyba war enttäuscht. Außerdem registrierte er mit Unbehagen, wie Oprschalek sich in seinem Kopf allmählich zu einer Wahnidee entwickelte. Das war nicht gut. Nein, das war gar nicht gut.