XV/2.

Obwohl es Sonntag war, stand er früh auf. Er ging hinaus in die Küche und entfachte die Glut im Herd, die zum Glück nicht ausgegangen war, zu einem knisternden Feuer. Dann begann er, mit der Kaffeemühle Bohnen zu mahlen. Schließlich griff er zu dem Kupferkännchen, gab den gemahlenen Kaffee und etwas Zucker hinein und stellte es auf die mittlerweile heiß gewordene Herdplatte. Mit einem Löffel rührte er das Kaffee-Zucker-Gemisch mehrmals um und goss dann langsam immer wieder ein bisschen Wasser drauf. Bis schließlich ein heißes, dickes Gebräu in dem Kännchen blubberte. Nun schnappte sich Nechyba ein Küchentuch, denn der Stil des Kupferkännchens war ziemlich heiß und goss die Hälfte des Kaffees in eine große Schale. Die zweite Hälfte samt Kaffeesud goss er in eine kleinere Schale. Noch ein bisschen tramhapert tapste Nechyba zu dem Eck in der Küche, wo er sich vor Jahren ein gemauertes Vorratsregal, das mit dicken Holztüren verschlossen wurde, hatte machen lassen. Hier, es war ein kühles Eck, in das sich nie ein Sonnenstrahl verirrte, wurden die verderblichen Lebensmittel aufbewahrt. Liebevoll nannte er es seine Speisekammer. Ihr entnahm er eine halbvolle Flasche Milch und schwenkte diese gegen das Morgenlicht. Die Milch sah noch gut aus, keinerlei Bröckerln oder Klumpen. Vorsichtig setzte er die Flasche an die Lippen und kostete einen kleinen Schluck. Nein, sie säuerte noch nicht. Geschmacksmäßig war sie in Ordnung. Also füllte er die große Schale mit Milch auf. Dann nahm er mit Genuss einen ersten Schluck von seiner kleinen Schale. Heiß rann das koffeinhaltige Elixier seinen Schlund hinunter und bahnte sich über die Magenschleimhäute den Weg in Nechybas Blutkreislauf, den es alsbald aufs Angenehmste belebte. Den Milchkaffee brachte er seiner Frau ans Bett. Zärtlich weckte er sie und reichte ihr die Schale. Sie stopfte sich seinen Polster zusätzlich zu ihrem eigenen in den Rücken, setzte sich auf, blinzelte verschlafen und lächelte:

»Nechyba, du verwöhnst mich…«

Er lächelte verlegen, streichelte über ihr zerrauftes Haar und ging zurück in die Küche. Dort schnitt er drei Scheiben Brot ab und strich Butter drauf. Nachdem er seiner Frau ein Butterbrot ans Bett gebracht hatte, belegte er die beiden anderen mit Käse und dicken Scheiben ungarischer Salami, die er unter einiger Mühe mit dem nicht allzu scharfen Küchenmesser von der Salamistange herunterschnitt. Während er kaute und Kaffee schlürfte, ging ihm der Aufwand durch den Kopf, der heute auf Befehl des Ministerpräsidenten in Wien betrieben werden würde: Weit über 1000 Beamte der Sicherheitswache, über 200 berittene Polizisten, über 100Polizeiagenten und dazu als Reserve einige Infanteriebataillons und Kavallerieeskadrons standen bereit. Denn die Regierung fürchtete, dass die heute stattfindende Teuerungsdemonstration außer Kontrolle geraten könnte. Mit Genugtuung erinnerte er sich an seine letzte Besprechung mit Zentralinspector Dr. Pamer, bei der ihn dieser ausdrücklich gelobt hatte.

»Sie sind ja doch ein guter Kriminalist, Nechyba. Respekt, wie sie den Raubmord an dem Direktor Hubendorfer aufgeklärt haben. Und dass Sie nachgewiesen haben, dass das eigentlich gar kein Raubmord, sondern ein brutales Eifersuchtsdrama war… Ich will Ihnen aber auch meine Anerkennung dafür aussprechen, dass Sie den Oprschalek g’funden haben. Ein offener Fall, der nun geklärt ist und den wir nun zu den Akten legen können. Wer hätte gedacht, dass dieser Spitzbube zu solchen Maskeraden fähig ist? Wichtig war auch, dass Sie die Pension im ersten Bezirk gefunden haben, wo der Oprschalek am Ende logiert hat. Mit dem dort gefundenen Geld, der Aktentasche und dem gestohlenen Anzug hamma auch den Fabrikbrand auf der Laaer Straße und den dazugehörigen Raubmord aufklären können… Respekt, Nechyba, Respekt…«

Ob dieses ungewohnten Lobs verdattert, fasste sich der Inspector jedoch schnell wieder und machte einen kühnen Vorstoß:

»Erlauben Sie, Herr Zentralinspector, dass ich eine Bitte äußere?«

»Eine Bitte? Na, sprechen Sie schon, Nechyba…«

»Meine Frau ist Herrschaftsköchin und hat nur sonntags dienstfrei. Deshalb wollt ich Sie bitten, dass ich vielleicht am kommenden Sonntag, am 17. September, nicht Dienst tun muss.«

Pamer strich sich über seinen Schnauzbart und murmelte:

»Da is die Großkundgebung der Sozis… Na ja…Wer soll denn Ihre Gruppe führen, wenn Sie net da sind?«

»Der Pospischil, der vertritt mich sonst auch.«

»Na, das wird sich doch einrichten lassen. Nehmen S’ Ihnen frei, Nechyba. Ich wünsch’ einen schönen Sonntag mit der Frau Gemahlin…«

Nechyba kaute an einem Salamiradl und dachte an die Fleisch- und Wurstpreise, die dermaßen in die Höhe geklettert waren, dass so ein Stück Salami fast nicht mehr leistbar war. Grinsend biss er ins Butterbrot und dachte an die Bozena, die ihm diese Delikatesse sehr günstig verschafft hatte. Sie hatte ihm die Wurst allerdings nur unter der Bedingung beschafft, dass er den Portier Kis, der Salami stangenweise aus seiner ungarischen Heimat nach Wien brachte und hier schwarz damit handelte, nicht verhaften würde. Nechyba grinste und murmelte:

»Das is mir im wahrsten Sinne des Wortes wurscht, ob der mit oder ohne Gewerbeschein Wurscht verkauft. Hauptsache, ich bekomme eine…«

 

Als Nechyba auf dem Gang einen Wasserkrug für seine Morgentoilette füllte, sah er in den Hof hinaus und stellte fest, dass das bewölkte Wetter nicht gerade verlockend für einen Ausflug war. Trotzdem war er fest entschlossen, so bald wie möglich aufzubrechen. Zurück in der Küche wärmte er das Wasser am Herd, wusch und rasierte sich. Nun war auch Aurelia aufgestanden. Nach ihrer Morgentoilette verschwand sie im Zimmer, um sich anzukleiden. Inzwischen bereitete Nechyba den Picknick-Korb vor. Mit Wehmut dachte er an frühere Zeiten, als seine Frau und er Selchfleisch, Dauerwurst, luftgetrockneten Schinken und Speck einpacken konnten. Diese Zeiten waren vorbei. Er verstaute das restliche Stück Salami sowie reichlich Brot im Korb. Dazu kamen etwas Käse, vier Eier, die er zuvor bereits hart gekocht hatte, und jeweils zwei frische Paprika und Paradeiser, die er gestern am Naschmarkt erstanden hatte. Aus seiner ›Speisekammer‹ fischte er eine Flasche Gießhübler Mineralwasser sowie einen Weißwein heraus; einen ›Gemischten Satz‹ vom Nussberg. Er grinste die Weinflasche an und murmelte:

»So, mein Lieber! Heute bring ich dich dorthin zurück, wo du herkommst…«

 

Für die Anreise zum Nussberg wählten die Nechybas nicht eine Ringlinie, sondern die Stadtbahn. In Heiligenstadt würden er und seine Frau dann in den 36er umsteigen. Diese Planung erwies sich als sehr vorausblickend. Denn als das Ehepaar auf den Getreidemarkt hinaustrat, strömten ihnen große Gruppen von Arbeitern und Arbeiterinnen entgegen, die lauthals Parolen skandierten. Alle waren sie in Richtung Ringstraße und Rathaus unterwegs. Am Karlsplatz löste Nechyba zwei Fahrkarten. Und dann hatten sie Glück, denn gerade als sie unten am Perron angelangt waren, fuhr dampfend, schnaufend und Funken speiend ein Stadtbahnzug ein. Nechyba und Aurelia fanden zwei Fensterplätze und genossen schweigend die Fahrt. An der Endstelle, im Bahnhof Heiligenstadt, stiegen sie aus und gingen ein kurzes Stück zum 36er hinüber. Auch hier mussten sie nicht lange warten, sodass sie nach einer dreiviertel Stunde Fahrt in Nussdorf vor dem kleinen Bahnhof der Zahnradbahn anlangten. Da Nechyba nicht auf den Kahlenberg, sondern auf den Nussberg hinaufwollte, ging es nicht mit der Zahnradbahn, sondern per pedes weiter. Es war mittlerweile zehn Uhr vormittags und am Rathausplatz und auf der Ringstraße hatten sich zehntausende, vielleicht sogar hunderttausend Menschen versammelt. An verschiedenen Plätzen hielten führende Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Reden, in denen sie die Teuerung, die Wohnungsnot und die sozialen Missstände anprangerten.

 

Nechyba und Aurelia spazierten inzwischen Hand in Hand den leicht ansteigenden Weg, der den Schreiberbach entlangführte, hinauf zu ›Beethovens Ruhe‹. Dort setzten sie sich auf ein Bankerl und taten das, was der große Komponist vor vielen Jahren hier ebenfalls getan hatte: Sie ruhten sich aus. Während sie mitten in der friedlichen Natur dem Vogelgezwitscher lauschten, krachte auf der Ringstraße der erste Schuss. Die demonstrierenden Menschen brachte das dermaßen in Rage, dass sie anfingen, das Rathaus und alle umliegenden Gebäude zu demolieren. Dies wiederum nahmen die massiv vorhandenen Polizei- und Militärkräfte zum Anlass, gewaltsam einzuschreiten.

 

Während es in der Innenstadt die ersten Verwundeten gab, keuchten Joseph Maria und Aurelia Nechyba über die Wildgrube zum langgestreckten Scheitel des Nussbergs hinauf. Von hier bot sich ihnen ein atemberaubender Blick auf die Stadt. Vom Aufstieg erschöpft und ziemlich verschwitzt, tranken sie kräftige Schlucke vom Gießhübler Mineralwasser. Als sie nach einer kurzen Pause nunmehr eben zwischen den Weingärten entlanggingen, sagte Nechyba zu seiner Frau:

»Heut’ wollt ich partout keinen Dienst machen… ich hab so ein komisches G’fühl, dass die Demonstration böse enden wird. Die Leute haben eine solche Wut im Bauch, das ist unglaublich. Hunderttausende haben buchstäblich nix zum Fressen. Unlängst haben wir in einer Elendsunterkunft, wo wir eine Hausdurchsuchung gemacht haben, einen Buben gefunden, der sich unter größten Schmerzen am Boden g’wälzt hat. Ich hab sofort die Rettungsgesellschaft gerufen. Als die da waren und ihn ausg’fragt haben, hat er unter Tränen zugegeben, dass er vor lauter Hunger ein paar Zwiebeln, die oben am Kasten gelegen sind, gegessen hat. Drauf ist die Mutter ganz blass g’worden. Weißt, was das war? Das waren Blumenzwiebeln vom Vorjahr, die sie da oben vergessen g’habt hat…«

 

Später, als sie vor einer Winzerhütte ein gemütliches, windgeschütztes Bankerl fanden, entkorkte Nechyba den Nussberger. Ein guter Wein, der ihm aber heute nicht recht schmecken wollte. Wie ihm überhaupt das ganze Picknick nicht sonderlich mundete.

 

Zu seinen Füßen lag die riesige Stadt mit ihren 2 Millionen Einwohnern. In zahlreichen Straßenzügen fanden mittlerweile Straßenschlachten statt. Mit aufgesetzten Bajonetten rückte Militär gegen die aufgebrachten Menschen vor. Dazwischen gab es immer wieder Schießbefehle, die die Mannlicher Gewehre146 der Soldaten tödliches Blei spucken ließen. Und während Franz Joachimsthaler tödlich in den Bauch geschossen, Franz Wögerbauer von einem Kavalleristensäbel der Schädel gespalten und Otto Brötzenberger von einem Bajonett erstochen wurde, verfiel Joseph Maria Nechyba, an die Wand des Winzerhäuschens gelehnt, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.