XI/2.

Es war ihr vollkommen gleichgültig, was sich die Leute dachten. Eng hatte sie ihren Nechyba mit beiden Armen umschlungen. So verließen sie das Verkehrschaos vor dem Café Dobner, wo nun ein Arzt der Freiwilligen Rettungsgesellschaft den Verunglückten untersuchte und wo Polizisten den Tramwayfahrer, den Kutscher sowie Passanten, die alles beobachtet hatten, einvernahmen. Durch die dichte Menge von Schaulustigen drängten sich Aurelia und Joseph Maria Nechyba durch. Bei jedem Schritt genoss sie die Wärme und auch die Sicherheit, die sein massiver Leib ausstrahlte. Tränen traten ihr in die Augen. Vor einer halben Stunde hatte er ihr das Leben gerettet. Sie schmiegte sich noch enger an ihn und als er sie zärtlich ansah, küsste sie ihn. Seine Lippen antworteten zaghaft. Sie bemerkte, dass ihm der Kuss in der Öffentlichkeit ein bisserl peinlich war. Schmunzelnd wischte sie sich mit dem linken Handrücken die feuchten Augen ab und sagte mit belegter Stimme:

»Was tät ich ohne dich…«

Nechyba, nun ebenfalls gerührt, antwortete:

»Wennst net meine Frau wärst, wär das alles net passiert. Der Kerl wollt’ dich nur deshalb umbringen, damit du mir net erzählst, was du beobachtet hast. Der wollte verhindern, dass ich mich für seine Bekanntschaft mit dem Oprschalek interessier’…«

»Kruzitürkn135 noch einmal!«, keifte die Stimme der Kwapil, als die beiden in ihr Wohnhaus in der Papagenogasse eintraten. »Was war denn das für a Bahöö vorhin? So was hab ich ja in mein Lebtag noch net erlebt. Wir sind hier ein anständiges Haus!«

Mit scheelem Blick musterte die Hausmeisterin die eng umschlungenen Nechybas. Als sie dann noch des Inspectors bloße Füße bemerkte, verdrehte sie die Augen und kreischte:

»Na! Ich glaub’s net!«

»Glauben können S’ in der Kirche!«, brummte Nechyba. »Und was das anständige Haus betrifft: Auf der Kellerstiege fliegt überall der Lurch umadum136. Und da! Da schaun S’ meine Fußsohlen an! So dreckig ist’s in Ihrem Stiegenhaus. Genieren sollten Sie sich…«

Damit wandte er sich von ihr ab, drückte Aurelia noch enger an sich und stieg die geschwungene Treppe empor. Aurelia barg ihr Gesicht an seiner Brust, denn sie konnte sich vor Lachen kaum halten. Als sie oben im zweiten Stock angekommen waren, prustete sie los:

»Na, der hast du’s aber ordentlich reingesagt!«

Nechyba sperrte die Wohnungstür auf und brummte:

»So a Schastrommel, so a hiniche137…«

Aurelia lachte wieder. Sie warf ihre Handtasche auf die Küchenbank, stürzte sich auf Nechyba und gab ihm einen langen, innigen Kuss auf den Mund. Danach kuschelte sie sich an ihn. So blieben die beiden eine Zeit lang stehen. Dann löste sich Nechyba aus ihrer Umarmung. Als sie ihn fragend ansah, gab er ihr ein Busserl und grinste:

»Jetzt haben wir uns aber einen Schluck Wein verdient…«

Aurelia nickte, seufzte erleichtert und ließ sich neben ihrer Handtasche auf die Küchenbank fallen. Nechyba kramte von ganz hinten aus dem Kücheneck einen Rotwein aus Tattendorf hervor. Liebevoll beobachtete Aurelia, wie er mit gekonnten Handgriffen die Flasche entkorkte. Dann ging er zur Kredenz, nahm zwei kleine bauchige Weingläser heraus und schenkte ein. Sie hob ihr Glas, blickte ihn an und sagte:

»Ich hab’ dich ganz, ganz lieb, Joseph…«

Er stieß mit ihr an, nippte am Glas, schüttelte dann den Kopf und sagte:

»Sind wir jetzt wieder per Sie? Dass du Joseph zu mir sagst, ist mir gar net recht. Bleib doch beim Nechyba. An den hab ich mich gewöhnt. Vor allem weil du’s immer so liebevoll sagst…«

Aurelia musste lachen:

»Einmal möchte ich dir a Freud machen und dich mit deinem Vornamen anreden und dann bestehst auf Nechyba… Du bist mir einer!«

Damit trank sie aus, spürte, wie ihr der Wein– sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen– in den Kopf stieg, stellte das Glas ab und stand auf. Wie ein junges Mädchen setzte sie sich auf Nechybas Schoß und schmuste ihn ab. Als er recht stürmisch ihre Zärtlichkeiten erwiderte, packte sie seine Riesenpranke und zog ihn ins angrenzende Zimmer, wo sie ihm einen Schubser gab, dass er krachend auf die Matratze des Ehebetts fiel.

 

Sie streichelte über seinen nackten Bauch, der sich im Rhythmus seiner Atemzüge hob und senkte. ›Wie ein Eisberg, der in den Wellen des Nordmeeres auf- und niederschaukelt‹, dachte sie. Tief sog sie seinen Körpergeruch sowie die Aromen des gemeinsamen Liebesaktes ein. Sie gab dem Eisberg einen leichten Klaps, stand auf, hüllte sich in ihren Schlafrock und verließ das Zimmer. In der Küche griff sie nach dem am Boden stehenden Wasserkrug und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Nachdem sie getrunken hatte, heizte sie den Herd ein und stellte Wasser zum Heißwerden auf; einerseits zum Waschen und andererseits um die Frankfurter zu kochen, die Nechyba gekauft hatte. In der Zwischenzeit genemigte sie sich noch ein Gläschen Rotwein und aß dazu, da sie einen Mordshunger hatte, das Salzstangerl, das sie bei den Einkäufen fand. Am Wein nippend, erinnerte sie sich, dass Nechyba das Portemonnaie und die Brieftasche des Fremden in ihre Handtasche gesteckt hatte. Neugierde packte sie, und so legte sie die Besitztümer des Toten auf den Küchentisch. Das Portemonnaie enthielt etwas Kleingeld sowie einige 5-, 10- und 20-Kronen-Scheine. ›Ganz schön viel Geld‹, dachte sich Aurelia. Andererseits war der Kerl, der sie überfallen hatte, ja gut gekleidet. Außerdem waren ihr seine teuren, wahrscheinlich maßgefertigten Schuhe aufgefallen, als er tot vor ihr gelegen war. ›Komisch, dass so ein feiner Herr, eine einfache Köchin überfällt…‹ Noch merkwürdiger war der Inhalt der Brieftasche. Sie enthielt ein Entlassungspapier aus der Strafanstalt Stein, das auf den Namen Nepomuk Budka lautete, eine Visitenkarte, auf der Giuseppe Hmelak stand, sowie ein sorgsam zusammengefalteter Zettel. Als sie das Papier neugierig auffaltete, packte sie das blanke Entsetzen. Denn darauf stand mit feiner, femininer Handschrift geschrieben:

Friederike Nemec muss ebenfalls sterben. Sie arbeitet im Verschleißmagazin des Ersten Wiener Consum-Vereins in Wien V, Pilgramgasse 16.