XII/2.
»Himmelherrgottsakrament! Was um alles in der Welt ist Ihnen da eingefallen? Sind Sie vom wilden Schwein gebissen? Mit diesem öffentlichen Auftritt haben Sie das ganze Polizeiagentenkorps und darüber hinaus die gesamte Sicherheitswache lächerlich gemacht. Da, lesen Sie! ›Bloßfüßig verfolgte Joseph Maria Nechyba, Inspector des k.k. Polizeiagenteninstituts, einen bislang noch nicht identifizierten Gewalttäter, der dessen Frau Aurelia im Stiegenhaus brutal überfallen hatte…‹ Bloßfüßig, Nechyba! Bloßfüßig! Da steht es! Schwarz auf weiß!«
Zentralinspector Dr. Ignaz Pamer drückte
Nechy-
ba die Zeitung in die Hand, sprang hinter seinem Schreibtisch auf
und ging wie ein gereizter Tiger im Zimmer auf und ab. Nechyba war
wie vor den Kopf gestoßen. Nicht nur, dass er nichts dabei fand,
bloßfüßig einen Verbrecher zu stellen, er war sogar stolz darauf.
Er verstand die Welt nicht mehr. Auf dem Weg ins Büro heute Morgen
hatte er den Polizeiagenten Drabek getroffen, der ihm zu seiner
mutigen und entschlossenen Tat gratuliert hatte. Und jetzt dieser
Anschiss! In Nechyba regte sich Unmut. Langsam aber sicher wurde er
grantig. Was fiel dem neuen Zentralinspector überhaupt ein, ihn wie
einen dummen Schuljungen herunterzuputzen? Er schleuderte die
Zeitung wütend auf den Schreibtisch:
»Was diese Zeitungsschmierer von sich geben, ist mir, pardon, wurscht! Was mir aber nicht wurscht ist, ist, dass mir heute schon Kollegen zu meinem entschlossenen Vorgehen gratuliert haben. Natürlich wäre mir lieber gewesen, ich hätte Schuhe ang’habt. Aber den Verbrecher, der meine Frau überfallen hat, wollte ich auf keinen Fall laufen lassen. Hätten Sie den in meiner Situation vielleicht entwischen lassen?«
»Darum geht’s nicht, Nechyba…«
»Um was, in aller Welt, geht es denn dann?«
»Um das Auftreten in der Öffentlichkeit! Kruzitürken!«
Nechyba bekam einen dicken Hals. Er sprang auf und schrie zurück:
»Zum Kuckuck mit dem öffentlichen Auftreten! Meine Aufgabe als Polizeiagent ist es, Verbrecher zu fangen und Verbrechen zu verhindern. Und genau das hab’ ich vorgestern Abend getan. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn mich der Herr Zentralinspector jetzt entschuldigt, ich habe zu tun!«
Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer seines Vorgesetzten. Als er bereits in der offenen Tür stand, hörte er die nunmehr raunzende Stimme Pamers:
»Wissen S’ wenigstens schon, wer der Pülcher138 war, der Ihre Frau Gemahlin überfallen hat?«
Nechyba blieb stehen, drehte sich langsam um und antwortete:
»Ich hab’ gestern in unserem Verbrecherarchiv gestöbert und hab’ ihn gefunden. Nepomuk Budka heißt er, beziehungsweise hat er geheißen. Mehrmals wegen Raubüberfällen verurteilt. Zusätzlich einige Schlägereien und Körperverletzungen. In Summe ist er über 20 Jahre in Stein g’sessen.«
»Na bravo!« Des Zentralinspectors Stimme war nun versöhnlich. »Da sind Sie ja einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Wiss’ ma auch schon, warum dieser Budka Ihre Gattin überfallen hat?«
Nechyba atmete tief durch und strich sich über den Schnurrbart.
»Das, Herr Doktor Pamer, ist noch nicht geklärt. Es gibt da eine ganze Reihe von merkwürdigen Verwicklungen und Zufällen. Der Budka war nämlich mit dem Oprschalek bekannt. Wissen S’ eh, der im Februar seine Frau umgebracht und seine Wohnung angezündet hat. Und der sich vor ein paar Wochen von der Hohen Brücke gestürzt hat… Aber wie das alles zusammenhängt, das ist noch net ganz klar.«
»Das is ja hochinteressant. Na, dann machen S’ weiter, Nechyba! Nix für ungut. Aber schauen S’ halt, dass S’ beim nächsten Mal, wenn S’ einen Verbrecher verfolgen, Socken und Schuhe anhaben…«
Zurück in seinem Büro ließ sich Nechyba mit einem Schnaufer auf seinem Schreibtischsessel nieder. Es klopfte und Pospischil trat ein. Mit einer leichten Verbeugung und sich diensteifrig die Hände reibend, fragte er:
»Ist es recht, wenn ich jetzt das Bier zum Gabelfrühstück serviere?«
Nechyba schnaufte neuerlich und antwortete:
»Ja, bring er mir mein Bier.«
Dann öffnete er die Lade seines Schreibtisches und zog das Gabelfrühstück heraus; ein Salzstangerl, in das die Greislerin Lotte Landerl Butter gestrichen und Emmentaler gelegt hatte. Mit Genuss biss Nechyba ab, kaute und entspannte sich. Sein Geist schweifte in die Ferne und verharrte plötzlich im Hotel Hungaria. Pospischil trat ein und brachte ihm das Krügel Bier. Nechyba spülte mit einem kräftigen Schluck den salzigen Geschmack in seinem Mund hinunter und plötzlich kam ihm eine Idee. Wenn Budka und Oprschalek einander gekannt hatten, dann müsste Oprschaleks G’spusi den Budka doch auch gekannt haben. Vielleicht könnte ihm diese Bozena etwas über die beiden Verbrecher erzählen. Mit energischen Bissen verzehrte er die Reste des Gabelfrühstücks und spülte mit Bier nach. Dann sprang er auf, nahm seinen Mantel und verließ eiligen Schrittes sein Büro. Dem erstaunten Pospischil rief er zu:
»Ich bin in der Sache Budka und Oprschalek unterwegs. Falls mich wer suchen sollte…«
Er fuhr mit einem Ringwagen bis zur Urania und ging von dort zu Fuß bis zum Radetzkyplatz. Energischen Schrittes betrat er das Hotelfoyer und rief Bela Kis, dem Tagesportier, zu:
»Wo ist die Bozena?«
Als er keine Antwort, sondern nur ein gelangweiltes Achselzucken als Antwort bekam, eilte er in Richtung Direktionszimmer. Ohne anzuklopfen trat er ein und fand Bozena an einem schmalen Tisch in einem Eck sitzen und Rechnungen sichten. Hinter einem pompösen Schreibtisch thronte György Friedmann entspannt in einem bequemen Stuhl und machte ein Nickerchen. Nechyba riss ihn mit einem barschen »Raus aus dem Zimmer, Kinderschänder!« aus seinen Träumen. Als der Direktor sich erhob und protestieren wollte, deutete Nechyba eine Ohrfeige an. Friedmann duckte sich und verließ eilig das Büro. Nechyba wandte sich nun an Bozena, tätschelte ihre Hand und sagte begütigend:
»Keine Angst, Kinderl. Ich beruhige mich schon. Ich halt nur diesen Saukerl in meiner Nähe nicht aus. Seit wann ist der denn wieder auf freiem Fuß?«
»Seit zwei Tagen. Bis zur Gerichtsverhandlung darf er sich frei bewegen, die Wiener Stadtgrenzen aber net verlassen.«
»Was halten Sie davon, liebe Bozena, wenn ich Sie auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen ins Kaffeehaus um’s Eck einlade?«
»Und wer macht die Arbeit da?«
»Gehen S’! Das können S’ später auch erledigen. Ich möchte mich mit Ihnen ein bisserl unterhalten. Also sind S’ so gut und kommen S’ mit…«
Bozena lachte schelmisch und erwiderte:
»Wenn Polizei sagen, ich muss mitkommen, dann ich komme mit…«
Gemeinsam gingen sie ins Café Hungaria, wo Nechyba ihr ein Stück Sachertorte mit einer doppelten Portion Schlagobers und eine Melange bestellte. Als Bozena die Torte mit großem Appetit verzehrt hatte, kam Nechyba zur Sache. Er legte ihr ein Foto von Budka auf den Tisch und fragte:
»Kennen Sie den?«
»Freund von meinem Frantisek… War Dauermieter in Hotel.«
Bozenas Augen füllten sich mit Tränen. Nechyba zog ein Taschentuch heraus und reichte es ihr über den Tisch. Er erinnerte sich plötzlich an die Situation in der Hubendorfer’schen Wohnung, als er auch eine weinende Frau tröstete. Das verbesserte seine Laune nicht gerade. Er brummte:
»Und das ist alles, was Sie mir über diesen Kerl erzählen können?«
»War alter Freund. Frantisek hat ihn sehr bewundert. Hat mir einmal gesagt, dass Budka wirklich harter Bursche ist. Ist viele Jahre im Gefängnis gesessen und hat Kontakte. Ich hab’ ihn nicht wollen. Hab’ mich immer bisserl gefürchtet vor ihm… Aber vielleicht fragen Sie Mayrleeb. Unseren Hausknecht. Der war öfters mit Frantisek und Budka zusammen. Den Kis, unseren Portier, können Sie auch fragen. Aber des is selber a Pülcher. Der mag Polizei net. Der wird nix sagen…«
Zwei Stunden später fuhr Nechyba mit der Tramway zurück ins Polizeigebäude. Er hatte nun ein üppiges Mittagessen im Magen, das er in der Weinhalle vis-à-vis vom Hotel Hungaria zu sich genommen hatte. Zufrieden brütete er vor sich hin. Die Bozena hatte recht gehabt: Kis hatte geschwiegen wie ein Grab. Aber Mayrleeb hatte ihm einen interessanten Tipp gegeben. In seinem Büro griff er als Erstes zum Telephonapparat und wählte die interne Vermittlung:
»Inspector Nechyba. Verbinden S’ mich, bitt’schön, mit dem Polizeigefangenenhaus… Ja, Nechyba da, k.k. Polizeiagenteninstitut. Gehen S’, bei Ihnen sitzt doch dieser Schottek, der den Großbrand am Nordbahnhof gelegt hat… ja schaun S’ nach… Also ist er eh noch bei Ihnen. Gut. Ich schick’ zwei Mann von mir vorbei, die ihn abholen. Ich möchte ihn nämlich zu einem anderen Fall befragen. Der Schottek könnt’ mir vielleicht weiterhelfen…«
Nechyba legte auf und pumperte mit der Faust an die Wand zum Nebenzimmer. Umgehend erschien der lange Paul. Nechyba gab ihm folgende Instruktionen:
»Geh mit dem Pospischil hinüber ins Polizeigefangenenhaus und hol’ mir den Schottek. Wart noch einen Augenblick… Da hast eine schriftliche Anordnung von mir.«
Nechyba kritzelte einige Zeilen auf einen Briefbogen seiner Dienststelle, unterschrieb und stempelte das Ganze. Paul nickte und verschwand. Nechyba streckte sich hinter seinem Schreibtisch, dass die Gelenke krachten. Er schnaufte zufrieden und zündete sich eine Virginier an. Als er sie fast zur Gänze aufgeraucht hatte, erschienen seine Leute mit dem Gefangenen. Nechyba bot Schottek den Besucherstuhl an und begann mit ihm zu plaudern. Als er dessen begehrlichen Blick auf die fast abgebrannte Zigarre bemerkte, gab er ihm eine. Schottek nahm sie dankbar, rauchte genüsslich und erzählte Nechyba alles, was ihm so über seine Bekanntschaft mit Oprschalek und Budka in den Sinn kam. Er gestand auch, dass ihn Budka gedrängt und ermutigt hatte, an besagtem 27. Juli das Feuer am Nordbahnhof zu legen. Schließlich erwähnte er auch Budkas Freundin, ein fesches junges Ding, das er einmal an der Alten Donau, im Gasthaus ›Neu Brasilien‹ kennen gelernt hatte.
»Ich glaub’, die Kleine hat Fritzi geheißen…«
»Und wie noch?«
»Was i net. Fritzi hat der Budka zu ihr g’sagt. Wahrscheinlich heißt sie Friederike.«
Und da klingelte es in Nechybas Hirn. Kaum war Schottek weg, zog er aus seiner Brieftasche einen Zettel, faltete ihn auf und starrte auf die Zeile ›Friederike Nemec muss ebenfalls sterben‹. Lange fixierte er das abgegriffene Blatt Papier. Schließlich stand er ächzend auf und machte sich mit müden Beinen auf den Weg in den 5. Wiener Gemeindebezirk. In die Pilgramgasse Nummer 16.