IX.
Die Lampe der Straßenbeleuchtung schaukelte im winterlichen Schneesturm. Da sie sich auf der Höhe seines im 2. Stock befindlichen Zimmers befand, verursachte sie abenteuerliche Licht- und Schattenspiele an den Wänden. In seinem schmalen Bett wälzte er sich hin und her. Er konnte nicht einschlafen. Stattdessen beobachtete er die tanzenden Schemen, lauschte dem orgelartigen Pfeifen des Wintersturms sowie dem fallweisen Quietschen der Tramway, die vor seinem Hotel um die Ecke fuhr. Irgendwann hatte er das Herumwälzen satt. Er stand auf, stieg in seine Hose, zog die Hosenträger hoch und schlüpfte ohne Socken in die Schuhe. Budka öffnete die Tür seines Hotelzimmers, trat auf den schmalen Gang, sperrte sorgfältig hinter sich ab und ging zum Etagen-WC. Später, als er in sein Zimmer zurückgekehrt war, nahm er den Krug und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Müde trat er ans Fenster und blickte ins Schneetreiben hinaus. Vor ihm lag der Radetzkyplatz, dessen einheitliche Schneedecke von einer einsamen Fußspur unterbrochen wurde. Ihn fröstelte. Tja, das Hotel Hungaria war eben nicht das Grand Hotel. Ergo dessen wurde hier in der Nacht nicht geheizt. Auch dann nicht, wenn das Thermometer, so wie heute, 7 Grad unter Null anzeigte. Er zog Schuhe und Hose aus und kroch zurück ins warme Bett. Dankbarkeit und Zufriedenheit durchströmten ihn, dass er sich ein Dach über dem Kopf sowie ein eigenes Bett leisten konnte. Er zog die Decke bis über die Ohren hoch, genoss die wohlige Wärme und schlief ein.
Als er aufwachte, war es hell. Aus dem grauen Winterhimmel tanzten einige Schneeflocken, die der Wind durcheinanderwirbelte. Obwohl er weiterschlafen wollte, nötigte ihn der Druck seiner Blase aufzustehen. Ungeduldig schlüpfte er in Hose und Schuhe, wobei er ein paar Tropfen verlor. Wie er das hasste! »Wie ein alter Mann«, murmelte er. Budka bot alles, was er in seinem verschlafenen Zustand an Körperbeherrschung zustande brachte, auf, damit ihm dies auf dem Weg zum Etagen-WC nicht noch einmal passierte. Dort klappte er die Klobrille hoch und entleerte seine übervolle Blase mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung. Zurück in seinem Zimmer schlüpfte er noch einmal ins Bett und überlegte, was er heute tun wollte. Von wollen konnte aber beim besten Willen keine Rede sein. Er musste sich endlich mit diesem Direktor Hubendorfer befassen. Wie sollte er ihn umbringen, wenn er außer Namen und Beruf nichts von ihm wusste? Es war höchste Zeit, dass sich Budka in die Zentrale des Ersten Wiener Consum-Vereins22 begab und dort den Herrn Direktor auskundschaftete. Wie, das war ihm noch nicht klar. Darüber grübelte er nun schon fast eine Woche. Das war auch die Ursache dafür, dass er gestern nicht einschlafen konnte. Es half nichts. Er musste aus dem herrlich warmen Bett aufstehen und endlich Taten setzen. Voll Widerwillen setzte er seine nackten Füße auf den blank polierten Holzboden. So blieb er einige Zeit sitzen und stierte vor sich hin. Dabei kratzte er sich zwischen den Beinen. Es juckte nicht nur am Hodensack, sondern überall. Kruzitürken! Wenn er einem Herrn Direktor gegenübertreten wollte, musste er wie ein Herr auftreten. Und nicht wie ein ehemaliger Plattenbruder23, Totschläger und Häftling aus Stein. Das heißt, er musste sich rasieren, einen neuen Hemdkragen, seinen neuen, guten Anzug und seinen neuen Überzieher anziehen sowie den modischen Hut aufsetzen. Das alles würde aber nicht so richtig wirken. Um wie ein Herr aufzutreten, musste er sich vorher gründlich waschen. Als ihm das klar geworden war, klingelte er nach dem Hausmädchen. Dem jungen Ding, einem richtig drallen Trampl24 aus Böhmen, gab er die Anweisung, ihm einen Krug mit heißem Wasser, ein neues Stück Seife sowie ein frisches, großes Handtuch zu bringen.
»Groß’ Handtuch kost’ extra…«, böhmakelte das Mädel, worauf er nur bestätigend grunzte. Mit einem Knicks verschwand sie und kehrte kurze Zeit später mit den bestellten Dingen zurück. Er winkte sie zu sich her, drückte ihr 10 Heller in die Hand und zwickte sie gleichzeitig in ihren wohlgerundeten böhmischen Hintern. Das Mädel kreischte laut, wobei es sich um eine Mischung aus Schmerz- und Lustschrei handelte. Bevor sie verschwand, knickste sie und sagte mit geröteten Wangen: »Gnädige Herr sein schlimm. Ganz, ganz schlimm…«
Das brachte ihn zum Grinsen. Die Kleine war kein Kind von Traurigkeit, mit der konnte er sich durchaus einen fröhlichen Abend vorstellen… Solchermaßen aus seinen Grübeleien ins pralle Leben zurückgekehrt, wusch er sich voll Elan. Besondere Sorgfalt widmete er jenen Stellen, die zuvor durch einen nicht unbeträchtlichen Juckreiz auf sich aufmerksam gemacht hatten. Nach dem Waschen rasierte er sich sorgfältig, pomadisierte sein Haar und kämmte es straff zurück. Dann rief er noch einmal das Hausmädchen. Sie borgte ihm eine Kleiderbürste, mit der er Anzug und Mantel sorgsam abbürstete. Vor allem auf den Hosenbeinen und am Saum des Mantels gab es jede Menge Spritzer vom Straßenschmutz. Nachdem er Hemd, Krawatte, Hose und Sakko angezogen hatte, nahm er sich seine Schuhe vor. Liebevoll betrachtete er sie. Ein Paar handgemachte ›Budapester‹. Erstklassige Qualität. Und er erinnerte sich an den alten Herzberg, der ihm diese Schuhe vermacht hatte. Seinerzeit in der Haftanstalt Stein. Weil er den alten Mann vor Übergriffen beschützt hatte. Ja, der Samuel Herzberg war ein feiner Mensch gewesen. Das konnte man mit Fug und Recht sagen, obwohl er bei den Schwerverbrechern in Stein eingesessen hatte. Er war ein Kaufmann gewesen, der sehr viel Pech gehabt hatte. Durch alle möglichen Manöver hatte er versucht, den drohenden Konkurs abzuwenden. Dabei waren auch Lebensmittel, mit denen er gehandelt hatte, durch schwer gesundheitsschädigende Zutaten verunreinigt worden, nach deren Verzehr mehrere Menschen gestorben waren. Herzberg musste Konkurs anmelden und wurde wegen fahrlässiger Krida, schweren Betrugs sowie der vorsätzlichen Tötung von Menschen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Da es unter den Insassen von Stein jede Menge Antisemiten gab, hatte der alte Mann wenig zu lachen. Ohne seinen, Budkas, Schutz wäre er verloren gewesen. Als Herzberg in der Haft starb, hatte er ihm seine Habseligkeiten vermacht: vor allem diese handgenähten ›Budapester‹. Anfangs waren sie ihm eine Spur zu eng gewesen, aber er hatte sie zu einem Schuster getragen, der die Schuhe auf einen größeren Leisten gespannt und tagelang gedehnt hatte. Nun passten sie wie angegossen. Budka holte sein Schuhputzzeug hervor: Eine Dose Schmoll Schuhpasta, eine kleine Bürste für das Auftragen der Schuhcreme sowie eine große Bürste für das Glänzen der Schuhe. Liebevoll cremte er das Leder ein und polierte es danach mit gekonnten Schwüngen. Ja, so sahen sie– obgleich das Leder schon dort und da Risse hatte– wieder salonfähig aus. Er schlüpfte hinein, band die Schuhbänder, stand auf, ribbelte sich mit warmem Seifenwasser die Schuhcreme von den Händen, trocknete die Hände ab und sah sich prüfend im Spiegel an. Was er sah, beruhigte ihn: ein Herr vom Scheitel bis zur Sohle.
Die Gehsteige waren, wie immer, wenn viel Schnee fiel, schlecht geräumt. Da seine Schuhe frisch eingefettet waren, drang keine Nässe durch das Leder. Er ging flotten Schrittes, so gut es bei diesem Wetter möglich war, Richtung Innenstadt. Aufgrund der körperlichen Bewegung und der fortgeschrittenen Tageszeit, es war bereits halb eins, machte sich Hungergefühl in seinem Magen breit. Sein Weg führte ihn vorbei am Bahnhof Hauptzollamt und dem Österreichischen Kunstgewerbemuseum25. Ecke Stubenring und Wollzeile26 erblickte er das Café Prückl. Da sein ursprünglicher Tatendrang fast gänzlich verschwunden war und einem hilflosen Zaudern Platz gemacht hatte, beschloss er, sich im Kaffeehaus ein spätes Frühstück zu gönnen. Er bestellte eine Eierspeise27 aus drei Eiern und verzehrte dazu zwei Buttersemmerln. Danach angelte er sich eine Zeitung und blätterte sie durch. Wohlig gesättigt, nickte er schließlich kurz ein. Heftiges Diskutieren eines Paares am Nebentisch holte ihn abrupt in die Kaffeehauswirklichkeit zurück. Die Frau zeterte in einem fort, der Mann wehrte sich hin und wieder. Zuerst wollte Budka diesem Streitgespräch gar nicht zuhören. Doch als er mitbekam, dass es um Geld ging, spitzte er die Ohren. Die Frau warf ihrem Herrn Gemahl vor, dass dieser seine Waren viel zu billig anbieten würde. Deshalb sei seine Firma schon einmal am Rande des Konkurses gewesen. Er mache mit seiner Handelstätigkeit so wenig Gewinn, dass das ihr übergebene Haushaltsgeld nie ausreiche. Und jetzt, wo sie ausnahmsweise nach Wien mitgekommen war, könne sie sich hier nicht einmal eine neue Frühjahrsgarderobe schneidern lassen. Nur weil er ein so gutmütiger Depp sei, der nicht gescheit kalkulieren könne und der sich zusätzlich noch von Kunden über den Tisch ziehen lasse. Der Mann hatte jegliche Gegenwehr aufgegeben. Mit gesenktem Kopf ließ er die Vorwürfe auf sich niederprasseln. Schließlich stand er auf und ging wortlos in Richtung WC. Die Frau erhob sich ebenfalls und holte sich vom Zeitungsständer die neuesten Klatschblätter. Auf dem nun unbeaufsichtigten Tischchen lag eine offene Ledermappe mit mehreren Preislisten sowie einem kleinen Stoß Visitenkarten. Plötzlich hatte Budka eine Idee! Blitzschnell stand er auf, ging am Nebentisch vorbei und schnappte sich, verdeckt durch die Zeitung, die er in der linken Hand hielt, eine Preisliste sowie einige Geschäftskarten. Beides verschwand blitzartig in der Innentasche seines Sakkos. Dann ging er ebenfalls aufs WC. Dort sperrte er sich in eines der Kabäuschen ein, setzte sich bequem hin und sichtete das Diebesgut. Es waren Unterlagen der Firma Giuseppe Hmelak, Delikatessen-, Konserven- u. frische Meeresfische-, Kolonialwaren-, Südfrüchte- und Gemüse-Handlung. Das Unternehmen war in Graz, in der Sporgasse 15, daheim. Zufrieden grinsend betrachtete er seine Beute. Jetzt wusste er, wie er den Herrn Direktor Hubendorfer kennen lernen würde. Als er an seinen Kaffeehaustisch zurückgekehrt war, rief er dem Ober »Zahlen!« zu. Er packte seinen Mantel, schlüpfte voll Elan hinein, setzte den Hut auf, musterte zufrieden seine adrette Erscheinung in einem Spiegel, zahlte und ging. Die Vereinskanzlei des Ersten Wiener Consum-Vereins befand sich mehr oder minder um die Ecke vom Café Prückl: in der Stubenbastei 12. Er betrat das Haus, ging zum Portier und sagte würdevoll:
»Gott zum Gruße! Mein Name ist Giuseppe Hmelak, ich komme aus Graz und habe einen Termin beim Herrn Direktor Hubendorfer.«
Der Portier schickte ihn in den ersten Stock zum Sekretariat des Herrn Direktor. Nach zaghaftem Klopfen trat er ein und wurde von dem fragenden Blick eines mittelalten, dicklichen Bürofräuleins empfangen. Elegant lüftete er seinen Hut und stellte sich aufs Neue vor. Die Vorzimmerdame machte große, kugelrunde Augen und stammelte:
»Aber mir is’ nix bekannt, dass der Herr Direktor heute einen Termin mit Ihnen hat…«
Er verbeugte sich noch einmal, lächelte charmant, aber auch ein bisschen traurig und sagte leise:
»Das ist aber schade. Da bin ich extra aus Graz angereist… Und jetzt hat der Herr Direktor keine Zeit für mich. Das ist bedauerlich. Wo ich meinen Besuch doch telefonisch angekündigt habe…«
»So? Telefonisch haben S’ ihn angekündigt? Aber unseren Telefonapparat hebe normalerweise ich ab. Und ich kann mich nicht erinnern… Obwohl, ich war jetzt ein paar Tage krank, da ist vielleicht irgendetwas nicht weitergeleitet worden. Wissen S’ was, nehmen S’ doch einfach Platz. Ich werde schaun, was sich machen lässt. Schließlich sind S’ ja einen weiten Weg von Graz zu uns her gekommen…«
Sie stand auf, klopfte an eine Tür und verschwand dann im Nebenraum. Kurz darauf kam sie mit einem schlanken Bürschlein ins Zimmer zurück. ›Das kann aber nicht der Hubendorfer sein‹, dachte sich Budka. Und so war es auch. Der Jüngling wurde ihm als der Sekretär des Herrn Direktor vorgestellt. Er würde sich mit dem Anliegen des Besuchers aus Graz befassen. Eine gewaltige Wut stieg in Budka auf. So knapp vorm Ziel scheiterte er an einem Lausbuben, der sich hier als Sekretär gebärdete. Jetzt half nichts anderes als ein Frontalangriff! Unvermittelt brüllte er los:
»Das ist eine unglaubliche Unverschämtheit! Da kommt man extra aus Graz nach Wien und wird dann nicht empfangen. Obwohl man einen Termin vereinbart hatte! Nein, das kann man mit mir, mit Giuseppe Hmelak, nicht machen!«
Und damit schob er den Sekretär zur Seite, öffnete die Tür zum Nebenzimmer, das nichts weiter als ein kleines Kammerl mit einem großen Schreibtisch war. Dahinter gab es eine weitere Tür. Er schritt entschlossen auf sie zu, klopfte und öffnete energisch, ohne eine Antwort abzuwarten. Hinter ihm folgten in einem Respektabstand der Sekretärsjüngling und die Vorzimmerdame. Und plötzlich stand er Aug in Aug mit einem würdevoll aussehenden Herrn mit dichtem, an den Schläfen grau werdendem blondem Haar und sorgfältig gestutztem Oberlippenbart.
»Was ist das für ein Aufruhr? Was geht hier vor?«
»Herr Direktor Hubendorfer?«
Der Angesprochene nickte und runzelte die Augenbrauen. Budka aber verbeugte sich und sagte:
»Giuseppe Hmelak, Delikatessen-, Konserven-, frische Meeresfische-, Kolonialwaren-, Südfrüchte- und Gemüse-Händler aus Graz. Habe telefonisch einen Termin für heute Nachmittag mit Ihrem Sekretariat vereinbart. Aber anscheinend wurde da irgendetwas verwechselt…«
Die strenge Miene Hubendorfers entspannte sich. Ein mildes, verzeihendes Lächeln erschien stattdessen auf seinem Gesicht.
»Te-le-fonisch… haben Sie den Termin vereinbart? Ach, wissen Sie, die moderne Technik…«, er machte eine wegwerfende Handbewegung, »…auf die ist doch kein Verlass. Von wo kommen Sie? Von Graz? Na, das ist ja ein ganz schön weiter Weg, nicht wahr? Da werden wir Sie jetzt nicht wieder wegschicken. Kommen S’, nehmen S’ Platz und erzählen S’ mir, was Sie so alles in Ihrem Sortiment haben. Haben S’ vielleicht auch eine Preisliste mit?«
Budka setzte sich, überreichte die Preisliste und plauderte mit Hubendorfer eine Zeit lang. Plötzlich sah der Direktor auf die Uhr, sprang auf und entschuldigte sich, dass er nun gehen müsse. Eine dringende Verabredung. Budka bedankte sich bei Hubendorfer für das Gespräch und dieser versicherte ihm, seinerseits die Angebote und Preise zu prüfen. Vielleicht werde man miteinander ins Geschäft kommen…
Einem Gefühl folgend, wartete Budka vis-à-vis des Hauses, bis kurze Zeit später auch Hubendorfer das Gebäude verließ. Vielleicht hatte er jetzt eine Verabredung mit seinem Pantscherl28, mit der Friederike Nemec? Irgendwie war Hubendorfer freudig erregt gewesen, als er vorhin von seinem ›Termin‹ gesprochen hatte. Budka folgte dem Direktor unauffällig, als dieser von der Stubenbastei zur nächsten Stadtbahnstation ging und von dort bis zur Pilgramgasse fuhr. Im Verschleißmagazin des Ersten Österreichischen Consum-Vereins in der Pilgramgasse 16 holte er eine junge, sehr fesche Verkäuferin ab. Mit ihr ging er in das Gasthaus ›Zur Goldenen Glocke‹, wo sich die beiden in ein dunkles Eck setzten und verliebt Händchen hielten. Budka, der sich im Lokal ein Plätzchen ausgesucht hatte, wo er die beiden aus sicherer Entfernung beobachten konnte, trank zufrieden sein Bier und grinste: Innerhalb weniger Stunden hatte er nun beide Mordopfer kennengelernt. Sozusagen zwei Fliegen mit einem Schlag erwischt.