XIII/2.
»Was für ein grauenhafter Schitoch! Man muss sich andauernd für dich genieren!«, keifte Leo Goldblatts Frau Mama. Mit energischen Handgriffen rollte sie die Zeitung, in der sich ein Artikel ihres Sohnes über den Gewaltverbrecher Budka befand, zusammen und schlug damit auf den neben ihr sitzenden Goldblatt ein. Abwehrend hob dieser einen Arm, während sie fortfuhr:
»Vor drei Jahren hast du den Schmonzes139 vom Kannibalismus in Wien verfasst. Heuer im Frühjahr dann ›Der Feuerteufel und die Feuerreinigung‹ und jetzt schreibst du von einem ›wahrscheinlichen‹ Gewaltverbrecher. Entweder ist einer ein Gewaltverbrecher oder nicht. ›Wahrscheinlich‹ gibt’s da nicht. ›Wahrscheinlich‹ ist meschugge140!«
Goldblatt hatte einen roten Kopf bekommen. Mit zitternder Hand führte er die Kaffeeschale zum Mund. Ängstlich schielte er hinüber zu seiner Mutter, ob sie ihn abermals mit der Zeitung schlagen würde. Doch die alte Dame war erschöpft. Sie hatte sich an die Rückwand des Sofas gelehnt, wobei ihre kurzen, krummen Beine nun nicht mehr den Boden erreichten. Mit geschlossenen Augen und leiserer Stimme fuhr sie fort:
»Andauernd nur genieren muss man sich für dich! Kannst du dich noch an deine Tante Lea erinnern? Meine Schwester, die mit Onkel Leo verheiratet ist?«
Goldblatt nickte und sagte: »Den hab ich heuer im Frühjahr…«
»Unterbrich mich nicht!«, herrschte ihn die alte Dame an. »Also, deine Tante Lea, die bei Gott eine treue Seele ist, hat mich heuer ihm Frühjahr, als du das mit dem Feuerteufel erfunden hast, gefragt, ob du Bettnässer bist…«
»Also Mama! Das ist doch…«
»Unterbrich mich nicht schon wieder! Sie hat ja recht gehabt mit ihrer Vermutung. Weil als Kind warst du tatsächlich Bettnässer. Und man sagt ja, dass alle, die gerne zündeln, ins Bett machen. Das hab ich ihr auch gesagt…«
»Mama, du kannst mich doch nicht als Bettnässer…«
»Halt den Mund!«, giftete sie. »Freilich hast du ins Bett gemacht. Ich erinnere mich genau! Ich hab ja immer den Schlamassel gehabt mit deiner Bettwäsche. Das hab ich Lea erzählt. Sie besucht mich übrigens zwei Mal in der Woche. Und nicht so wie du, zwei Mal im Jahr!«
Goldblatts Mutter schüttelte ihr von spärlichem Haar bedecktes Haupt und fuhr seufzend fort:
»Mein Gott… Ich hätte zustimmen sollen, als dich dein Vater damals in die Militärkadettenschule stecken wollte. Ich hab das verhindert, weil du so ein zarter Jingl warst. Völlig ungeeignet für’s Militär… Aber nebbich! Was ist schlussendlich aus dir geworden? Ein Schmieranski… Und ein Schmock! Der seine alte Mutter nie besucht…«
Als Leo Goldblatt die Wohnung seiner Mutter verließ, schwor er sich, frühestens in einem Jahr wieder bei ihr vorbeizuschauen. Ihn vor der Verwandtschaft als Bettnässer hinzustellen! So eine Gemeinheit! Voll Zorn durchwühlte er seine Taschen und fand schließlich ein zerknülltes Zigarettenpäckchen, aus dem er sich einen windschiefen Tschick141 herausfischte und anzündete. Mit noch immer zitternden Fingern inhalierte er tief. Plötzlich wurde ihm ganz komisch. Verdammt! Er hatte heute außer einem schwarzen Kaffee noch nichts zu sich genommen! Die Zigarette wegwerfend, überquerte er die Ferdinandsbrücke142 und stieg in einen Ringwagen. Als er beim Café Landtmann ausstieg, war ihm ziemlich übel. Im Kaffeehaus ging er wie in Trance zu seiner Loge, ließ sich auf die Fensterbank fallen und atmete tief durch. Endlich wieder in vertrauten Gefilden. Mit vor Hunger laut knurrendem Magen bestellte er ein Schinkenomelett sowie zur Stärkung und Beruhigung seiner Magennerven ein kleines Bier. Zum Bier, das er in kleinen Schlucken trank, verschlang er ein knuspriges Kaisersemmerl. Ein Hochgenuss! Und auch das Omelett, zu dem er zwei weitere Kaisersemmeln verzehrte, war köstlich. Als er satt und zufrieden dasaß, an einem ›Goldblatt‹ nippte und mit Wohlgefallen feststellte, wie der Treberne seinem Magen die gierig runtergeschlungenen Speisen aufs Angenehmste verdauen half, erschien Nechyba. Müde und abgespannt ließ er sich vis-à-vis von Goldblatt auf die Sitzbank fallen. Der Redakteur, dem es nun wieder glänzend ging, konnte sich folgende Bemerkung nicht verkneifen:
»Nechyba, wie schau’n Sie denn aus? Ist ein Konvoi von Fiakern über Sie drübergefahren?«
»Ihre blöden Scherze können Sie sich sparen… Mein Tag war schlimm genug. Das vergönn’ ich meinem schlimmsten Feind nicht.«
»Ich war vorher gerade bei meiner Mama. Das war auch nicht lustig…«
Nechyba bestellte sich beim Ober einen großen Mokka und ein Stück Mohnstrudel, dann fragte er beiläufig:
»Hat Sie Ihnen vorgeworfen, dass Sie sie viel zu selten besuchen?«
»Das auch. Aber, Nechyba, viel schlimmer ist, dass sie meiner gesamten Verwandtschaft erzählt hat, ich sei Bettnässer.«
Nechyba musste lachen.
»Nicht bös’ sein, aber Ihre alte Dame hat schon Humor…«
»Was heißt Humor? Die meint das ernst!«
»Und?«
»Und, was?«
»Sind Sie Bettnässer?«
»Natürlich nicht!«, murmelte Goldblatt. Er nippte an seinem Kaffee und starrte eine Zeit lang wortlos in seine nunmehr fast leere Schale. Schließlich sagte er leise und mit traurigem Gesicht:
»Als Kind war ich tatsächlich Bettnässer. In meiner Schulklasse bin ich der Kleinste und Schwächste gewesen… Da haben sich alle anderen immer an mir abreagiert: Wenn’s schlechte Noten, ein Nachsitzen oder sonst eine Disziplinarmaßnahme gab… Immer musste ich die Wut meiner Mitschüler ausbaden. Oft hab’ ich mir am Morgen überlegt, ob ich überhaupt noch in die Schule gehen soll. Manchmal bin ich dann lieber zur Ferdinandsbrücke gegangen… Dort bin ich dann g’standen und hab mir überlegt, runterzuspringen in die kalten, braunen Fluten des Donaukanals. Damit ich endlich a Ruh’ hab…«
Nechyba war plötzlich ernst. Leise sagte er:
»Hören Sie, Goldblatt: Ich wollt Ihnen nicht zu nahe treten. Meine blöden Bemerkungen tun mir leid.«
Und nach einiger Zeit des gemeinsamen Schweigens fügte er hinzu:
»Von Ihrer Frau Mama ist das übrigens auch nicht nett, dass sie bei Ihnen alte Wunden aufreißt…«
Goldblatt seufzte:
»Ja, ja,… die Mama…«
Goldblatt betrachtete, ganz in sich versunken, wie Nechyba seinen Mohnstrudel aß. Dann räusperte sich sein Gegenüber und wechselte das Thema:
»Ich hab’ heute ein paar Sachen herausgefunden, die werden Sie interessieren.«
Goldblatt wachte aus seiner Lethargie auf und fragte interessiert:
»Betrifft das den Budka?«
»Nicht nur. Aber alles der Reihe nach…«
Nechyba bestellte sich ebenfalls einen ›Goldblatt‹ und begann von seinen Ermittlungen im Hotel Hungaria und dem Gespräch mit Schottek zu erzählen. Dann schilderte er dem Redakteur, dass er sich nachmittags ins Verschleißmagazin des Ersten Wiener Consum-Vereins in der Pilgramgasse begeben hatte. Nun zündete sich Nechyba mit Bedacht eine Virginier an. Goldblatt drängte:
»Und was haben Sie dort über die Friederike Nemec herausgefunden?«
»Eine ganze Menge… Zum Beispiel, dass sie zwei Pantscherln143 gehabt hat…«
»Gleichzeitig?«
»Ja, gleichzeitig. Das erste war so ein klassisches ›Süßes Mädel-Verhältnis‹ mit dem Herrn Direktor Hubendorfer!«
»Der, den man in einem Stiegenhaus beim Nordbahnhof erschlagen aufgefunden hat? Und mit dessen Frau Sie dann…?«
»Pssst! Goldblatt, ich will nichts davon hören! Das hab ich Ihnen in einem schwachen Moment erzählt!«
»T’schuldigung. Ich möchte nur die Zusammenhänge richtig verstehen.«
Nechyba holte tief Luft:
»Ja, mit dem! Und außerdem, Sie werden es nicht glauben, mit dem Budka. Das hat allerdings erst heuer im März ang’fangen. Die Nemec war richtig verliebt in den. Das hat mir eine ihrer Kolleginnen erzählt, bei der die Fritzi Nemec immer ihr Herz ausgeschüttet hat. Dem Hubendorfer konnte sie nicht den Weisel144 geben, weil der sie finanziell unterstützt hat und weil er außerdem ein hohes Tier im Ersten Wiener Consum-Verein war. Aber den Budka, den hat’s richtig gern g’habt.«
»Na, das ist ja pikant… was ist eigentlich mit der Fritzi Nemec geworden? Lebt die noch?«
»Geh, wo denn! Das ist ja das Merkwürdige an der ganzen G’schicht. Eine Reihe von Personen, die dem Budka nahegestanden sind oder mit ihm bekannt waren, sind tot. Die Fritzi Nemec, der Direktor Hubendorfer und auch der Oprschalek. Die Nemec ist beim Baden in der Alten Donau ersoffen. Kurz bevor der Hubendorfer erschlagen worden ist. Lauter merkwürdige Zufälle… In Budkas Brieftasche, auf der sich übrigens die Initialen E.H., was Engelbert Hubendorfer bedeuten könnte, befinden, hab’ ich einen Zettel gefunden. Da steht drauf, dass die Fritzi Nemec ebenfalls sterben muss. Ebenfalls!«
Goldblatt nahm den Zettel, den ihm Nechyba reichte und studierte ihn. Er runzelte die Stirne und pfiff leise durch die Zähne.
»Ein Mordauftrag… Für Budka. Aber von wem?« Goldblatt kratzte sich am Schädel und fügte hinzu: »Die klassische Variante wäre die eifersüchtige Ehefrau. Das würde, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, auch das Intermezzo mit Ihnen erklären. Sie wollte Sie ablenken und bestechen. Mit Naturalien gewissermaßen…«