XX.
Zischend ergoss sich das kochende Wasser in das Spülbecken. »Pass auf, dass du dich net verbrühst!«, rief Aurelia Nechyba. Doch das hätte sie sich sparen können. Denn schon hörte sie ein klägliches »Au!«, das sie den Kopf schütteln ließ. Wie oft hatte sie der Gerti schon gesagt, dass sie beim Abseihen des Erdäpfelwassers besser aufpassen solle? Aurelia seufzte und nahm zur Kenntnis, dass das wohl das dümmste Dienstmädel war, das sie in ihrer Laufbahn als Köchin je erlebt hatte. Noch einmal seufzte sie, als ihr die kleine Mizzi einfiel, die genau das Gegenteil gewesen war. Erst unlängst hatte sie gemeinsam mit Nechyba an einem Sonntagnachmittag Mizzis Grab besucht. Als sie still davor gestanden waren, hatten sie beide Tränen in den Augen gehabt. Später hatte ihr Mann dann gebrummt, dass es ihn bis heute schwanzte88, dass er damals Mizzis Mörder nicht verhaften konnte89. Sie schreckte aus ihren trüben Gedanken auf, als sie neuerlich einen Schmerzensschrei hörte. Gerti hatte sich beim Erdäpfelschälen in den Daumen geschnitten. Aurelia nahm dem an ihrem Daumen lutschenden Dienstmädel das Messer aus der Hand und gab ihr eine Ohrfeige.
Gerti fing zu heulen an, was die Köchin noch wütender machte.
»Du bist der patschertste90 Trampel, der mir je übern Weg g’laufen ist. Hör auf mit der Daumenlutscherei, lass lieber kaltes Wasser drüberrinnen! Dann nimmst den Alaunstein, der neben dem Messerblock liegt und streichst damit über die Wunde. Das stillt die Blutung. Im Kastl rechts oben sind alte Tücher. Da reißt du dir eines auseinander und machst dir einen Verband. Schau net so langsam! Gemma! Mach weiter!« Und während Gerti ihren Anweisungen folgte, setzte sich die Köchin hin und schälte die Erdäpfel selber. Die Schalen ließ sie auf eine mehrere Tage alte Ausgabe der ›Neuen Freien Presse‹ fallen. Dabei sah sie den Leitartikel der am Tag vor den Reichstagswahlen erschienenen Zeitung. Mein Gott, am Dienstag hatte ja die Stichwahl stattgefunden! Nechyba war auch wählen gegangen. Eine steile Falte des Unmutes bildete sich auf ihrer Stirne. Dass ihr Mann sowohl beim ersten Wahldurchgang als auch bei der Stichwahl für die Sozialdemokraten gestimmt hatte, war ihr ein Dorn im Auge. Andererseits wusste sie, dass ihr Mann Lueger und dessen Christlichsoziale Partei mit aller Entschiedenheit ablehnte. Deren fremdenfeindliche und antisemitische Agitationen waren ihm seit jeher zuwider. Auch die Parteibuchwirtschaft und die Korruption, die in Wien während Luegers Amtszeit als Bürgermeister um sich gegriffen hatte, missbilligte er. Was er ihr da manchmal für Geschichten erzählte… Und unter Luegers Nachfolger Josef Neumayer hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil: Das alte Sprichwort, dass nie etwas Besseres nachkomme, hatte sich wieder einmal bewahrheitet. Plötzlich sprang ihr ein Absatz aus dem Leitartikel der unter den Erdäpfelschalen halb verborgenen Zeitung ins Auge:
Wähler von Wien und Niederösterreich! Ihr seid lange getäuscht worden. Die Christlichsozialen haben die Stadt, das Land und das Reich umgarnt, das deutsche Volk zum Gespött von Europa gemacht, die Würde dieses Staates herabgedrückt, die Entwicklung verhindert, das geistige und materielle Leben durch Gehässigkeit, Einschüchterung und Bedrängnis verödet. Wähler von Wien und Niederösterreich! Wenn es gelingen sollte, das christlichsoziale Joch vom Nacken abzuwerfen, so wird es besser werden in Wien und in ganz Oesterreich!
Aurelia Nechyba seufzte. Das alles war nicht unrichtig. Trotzdem hätte sie als gläubiger Mensch wahrscheinlich christlichsozial gewählt. Da jedoch Frauen bei diesen Wahlen sowieso nicht wahlberechtigt waren, beschloss sie, sich darüber nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Sie konzentrierte sich nun wieder darauf, dass in der Küche nichts schiefging. Sie befahl der Gerti, den Stefaniebraten, der im Rohr brutzelte, zu übergießen, am Herd Milch zu wärmen und Holzscheiter in den Küchenofen nachzulegen. Sie selber seufzte leise beim Schälen der heißen Erdäpfel. Eine unangenehme Arbeit, aber für die Zubereitung eines Pürees mussten die Erdäpfel heiß sein. Als diese Arbeit schließlich erledigt war, drückte sie Gerti mit den Worten »Das kannst auch mit deinem verletzten Daumen machen« den Stampfer in die Hand. Schnaufend verarbeitete Gerti die Erdäpfel zu einem zähen Brei. Die Köchin fügte Butter und warme Milch hinzu, dann würzte sie das Erdäpfelpüree91 mit Salz und geriebener Muskatnuss. Und während Gerti nun die Masse kräftig verrührte und dabei ganz schön ins Schwitzen kam, kümmerte sich die Köchin um den Germteig, den sie an einem geschützten Ort hatte ruhen lassen. Er war wunderbar aufgegangen, sodass sie ihn nun ausrollen und in handliche Quadrate schneiden konnte. Jedes dieser Quadrate bestrich sie mit Powidl92 sowie mit einer Mohn- und einer Topfenmasse, dann klappte sie die Ecken zur Mitte zusammen. Die solchermaßen entstandenen böhmischen Golatschen kamen auf ein mit Butter bestrichenes Backblech, das Aurelia Nechyba in das zweite Backrohr des großen, mit Keramikkacheln verkleideten Herdes schob. Schlussendlich kostete sie noch die Brennnesselsuppe, die schon fix und fertig am Herd zum Warmhalten stand. In einer Pfanne zerließ sie etwas Butter und gab frisch geschnittene Weißbrotwürfel hinein. Als diese sich in knusprige Croutons verwandelt hatten, wurden sie aus der Pfanne gehoben und in eine kleine Schüssel gegeben. Damit war das Abendessen fertig. Just in diesem Augenblick erschien die gnädige Frau in der Küche. Sie naschte von den noch ziemlich heißen Croutons, kostete mit einem Löffel von der Brennnesselsuppe und steckte schließlich einen Finger ins Püree. Ihn ablutschend schwärmte sie:
»Aurelia, was immer Sie in der Küche zaubern, es ist einfach wunderbar…«
Der Köchin waren solche Lobhudeleien seit jeher peinlich. Deshalb war sie sehr froh, dass in diesem Moment die Wohnungstür aufgesperrt wurde und Hofrat Schmerda von der Arbeit heimkam. Seine Gattin verließ die Küche, um ihn zu begrüßen. Für die Köchin und das Dienstmädel hieß es jetzt aber: So rasch wie möglich die Suppe servieren! Denn der Hofrat hatte immer einen riesigen Flammóh93.
Kurz vor acht Uhr abends war die Schlacht geschlagen. Der Hofrat hatte sich in sein Arbeitszimmer auf eine Verdauungszigarre und ein Stamperl Schnaps begeben. Die Zwillingsschwestern Bernadette und Charlotte waren von den beiden Herrn Verlobten abgeholt worden, die sie zu einer Tanzveranstaltung ausführten. Und die gnädige Frau hatte sich mit einer leichten Migräne in das eheliche Schlafzimmer zurückgezogen. Gerti trug schnaufend und schwitzend Berge von Geschirr vom Esszimmer in die Küche, wo Aurelia Nechyba die Speisereste von den Tellern entfernte und diese in ein mit brennheißem Wasser gefülltes Schaffel versenkte. Den eigentlichen Abwasch machte dann Gerti. Das sowie das Aufräumen des Esszimmers gehörten zu ihren abendlichen Pflichten. Gerade als Aurelia Nechyba ihre Kochschürze abgelegt und eine leichte Sommerjacke übergestreift hatte, läutete es an der Wohnungstür. Sie hörte, wie Gerti zur Tür ging und flötete:
»Guten Abend, Herr Inspector!«
Aurelia wunderte sich, dass ihr Mann sie heute vom Dienst abholte. Das geschah äußerst selten. Schnell warf sie einen prüfenden Blick in den kleinen Taschenspiegel, den sie hastig aus ihrer Handtasche herausgekramt hatte und rückte sich das aufgesteckte Haar zurecht. Dann stand Nechyba schon hinter ihr, drehte sie zu sich herum und küsste sie dezent auf die Wange, da das Dienstmädchen mit großen, neugierigen Augen zusah.
»Gerti, nimm zum Abtrocknen ein frisches Geschirrtuch. Das alte riecht schon komisch. Und morgen Früh gehst gleich nach dem Aufstehen in den Hof hinunter und heizt den Kessel in der Waschküche an! Morgen werden die Tischwäsche und das Bettzeug der Herrschaft gewaschen.«
»Jawohl, Frau Aurelia. Wünsche einen schönen Abend, Frau Aurelia!«
Als sie sich unten auf der Straße in ihren Mann einhängen wollte, blieb er stehen, blickte sie traurig an und sagte:
»Komm, gib mir ein Busserl.«
»Was? Vor allen Leuten…?«
Da sie merkte, wie viel ihm daran gelegen war, küsste sie ihn schnell und etwas verschämt. Er lächelte, nahm sie beim Arm und murmelte:
»Gemma ein Bier trinken…«
Und so landeten die Eheleute nach einem kleinen Spaziergang im Gasthaus ›Zur Goldenen Glocke‹, wo sie zwei Krügeln Bier bestellten. Aurelia hatte nach der schweißtreibenden Küchenarbeit großen Durst und trank mit einem kräftigen Zug gut ein Drittel des Glases leer. Sie bemerkte, wie ihr Mann sie liebevoll beobachtete. Dann bestellte er, ohne sie zu fragen, zweimal Herrengulasch.
»Beim Trinken hast du einen Zug wie ein Mannsbild. Deshalb brauchst du auch was G’scheites zum Essen. Ein Herrengulasch ist da grad das Richtige…«
Sie liebte seine Fürsorglichkeit. Trotzdem war da etwas, was ihr heute an ihm seltsam vorkam. Ihr Ehemann zwirbelte gedankenverloren an seinem Schnurrbart und starrte wortlos ins Bierglas.
»Na, sag schon, Nechyba. Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Als er von seinem Bier aufblickte, standen Tränen in seinen Augen. Er räusperte sich und krächzte, da ihm die Stimme fast versagte:
»Gestern Nacht ist unser Zentralinspector, der Roman Fuchs, gestorben… Herzversagen… Ein Jahr jünger war er als ich… Gemeinsam hamma am Kommissariat Josefstadt gearbeitet, fast 30 Jahre hamma uns gekannt… Ich hab mit seiner Witwe gesprochen… Seine letzten Worte waren: ›Mir ist so schwer auf der Brust… Nur nicht sterben!‹… Dann ist er umgekippt und war tot.«