VIII/2.

Ein freundlich heller Sommermorgen blinzelte zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Sich zufrieden streckend, warf Aurelia Nechyba einen verschlafenen Blick auf die Standuhr, die die Kommode zierte. Sie registrierte mit Genugtuung, dass es bereits viertel sieben war. ›Um diese Zeit bereite ich normalerweise schon das Frühstück für die Familie Schmerda zu. Es ist wirklich ein Segen, dass ich sonntags nicht arbeiten muss‹, dachte sie sich, gähnte und kuschelte sich an den mächtigen Leib des neben ihr liegenden Joseph Maria. Der reagierte mit einem schnaubenden Schnarchgeräusch, tastete nach ihrer Hand und drehte sich ein Stück zu ihr. Nun lag er, ihre Hand haltend, auf dem Rücken und begann lauthals zu schnarchen. Aurelia beobachtete ihren Mann und musste schmunzeln. Wie ein Kaiser lag er da. Eine imposante Erscheinung: mit halb aufgerichtetem Oberkörper auf mehreren Polstern thronend, den Schnauzbart mit einer Bartbinde hochgebunden und mit einem entspannt zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Da Aurelia nun Gusto auf Kaffee bekam, löste sie vorsichtig ihre Hand aus der seinen, was Nechyba mit einem geschnaubten Schnarcher quittierte. Behutsam schlüpfte sie aus dem Ehebett, zog die Schlapfen und den Morgenrock an und ging nach nebenan in die Küche, nicht ohne die Verbindungstür zum Schlafzimmer leise zu schließen. Von der Bassena am Gang holte sie in einem Krug frisches Wasser und bereitete sich dann in einer Kupferkanne einen Türkischen zu. Als sie den gemahlenen Bohnenkaffee mit Zucker anröstete und dabei intensiver Kaffeegeruch aufstieg, überrieselte sie ein Schauer von Glück. Denn Bohnenkaffee war für sie nach wie vor ein Luxus. Jahrzehntelang hatte sie nur Malz- oder Zichorienkaffee getrunken. Doch nun, bei ihrem Nechyba, gab es selbstverständlich echten Bohnenkaffee. Und zwar so viel sie wollte! Denn bei gewissen Dingen sparte Nechyba grundsätzlich nicht. Dies betraf den Bohnenkaffee genauso wie alles andere, das mit Essen, Trinken und Genießen zu tun hatte. Zum Frühstück strich sie sich ein Brot mit dick Butter drauf. Dabei erinnerte sie sich an ihre früheren, einsamen Sonntage ohne Nechyba, an denen sie immer in die Frühmesse in die Karlskirche gegangen war. Danach hatte sie meist einen kleinen Spaziergang durch die Innenstadt gemacht, bei dem sie die sonntäglich gekleideten Damen und Herren, die zum Gottesdienst, zu Verwandten oder in eines der noblen Restaurants gingen, beobachtet hatte. Wenn ihr damals ein besonders stattliches Paar aufgefallen war, hatte sie sich immer in die Rolle der Frau hineingeträumt. Wie sie von ihrem Gatten umsorgt, umhegt und auch geliebt würde. Aurelia seufzte. Damals, im Alter von über 30 Jahren, hatte sie kaum mehr Hoffnung gehabt, einen Mann zu finden und unter die Haube zu kommen. Dass ihr schließlich der Nechyba über den Weg gelaufen war, war eine Fügung Gottes. Abermals seufzte sie. Diesmal aufgrund ihres schlechten Gewissens. Seit sie mit Nechyba zusammenlebte, besuchte sie kaum mehr den sonntäglichen Gottesdienst. Denn ihr Gatte war an den freien Sonntagen einfach zu faul und darüber hinaus auch völlig unwillig, die knapp bemessene, gemeinsame Zeit in einer Kirche zu verbringen. Nicht, dass er nicht an Gott glaubte… Er wollte halt nur mit dem Katholizismus so wenig wie möglich zu tun haben. Dies erklärte sich daher, weil viele Priester fanatische christlichsoziale Parteigänger und Funktionäre waren und diese geweihten Männer hemmungslos Juden- und Fremdenhass predigten. Nechyba war dies zutiefst zuwider. Deshalb mied er katholische Gotteshäuser. Aber, und nun lächelte Aurelia, vielleicht würde sie es heute im Zuge ihres geplanten Ausflugs auf den Bisamberg schaffen, Nechyba in die Stammersdorfer Kirche zu bringen. Dazu musste sie ihn jetzt aufwecken, denn sonst würde sich das alles nicht mehr ausgehen…

 

Aus den Augenwinkeln beobachtete Aurelia, wie Nechyba ziemlich tramhapert133 neben ihr hertrottete. Sie waren bei der Kettenbrückengasse in die Stadtbahn eingestiegen und bis zur Station Schottenring gefahren. Als sie die Stiegen der Stadtbahnstation emporkeuchten, kam ihnen ein Mann entgegen, den Aurelia zu kennen glaubte. Sie starrte ihn mit offenem Mund an, konnte ihn aber im Moment nicht zuordnen. Auch er bemerkte sie. Seine harten Augen fixierten sie, sodass es ihr eiskalt über den Buckel runterlief. Instinktiv klammerte sie sich an Nechyba, der sie erstaunt ansah und brummte:

»Was is denn los, Schatzi? Warum zwickst mich in den Arm?«

Sie neigte sich zu ihm und flüsterte:

»Du, den Kerl kenn i… den hab i schon wo g’sehn.«

»Na, das macht ja nix. Das kann schon vorkommen…«

»Aber der hat mich so komisch ang’schaut. Wie wenn er mir was antun wollte…«

»Geh, Schatzi! Ich bin doch bei dir. Wer sollte dir da was antun?«

Auf der Augartenbrücke sahen sie, dass sich am jenseitigen Donaukanalufer ein Zug der Dampftramway unmittelbar vor der Abfahrt befand: Dicke Dampfwolken stiegen aus dem Triebwagen auf, zahlreiche Leute eilten zu den Waggons. Auch Nechyba hatte es plötzlich eilig. Er packte Aurelia bei der Hand und sie liefen los. Keuchend und schnaufend erwischten sie im allerletzten Moment den Zug.

 

In Stammersdorf angekommen, blies ihnen ein recht kühler Wind um die Ohren. Aurelia schmiegte sich eng an ihren Nechyba, der eine angenehme Körperwärme ausstrahlte. Und so spazierten sie flotten Schrittes durch den langgezogenen Ort. Auf Höhe der Stammersdorfer Pfarrkirche drang ein aus kräftigen Kehlen gesungenes Kirchenlied an ihre Ohren. Aurelia hielt inne und sah Nechyba fragend an. Der brummte:

»Willst wieder einmal einen Gottesdienst besuchen?«

Als sie lächelnd nickte, seufzte er:

»Na, von mir aus…«

Im Inneren des Gotteshauses registrierte Aurelia mit Erleichterung, dass die Predigt bereits vorbei war. Es bestand also keine Gefahr, dass sich Nechyba über irgendwelche Äußerungen des Pfarrers ärgern musste. Nach dem Gottesdienst fühlte Aurelia eine tiefe Zufriedenheit mit sich, Gott, der Welt und Nechyba. Welche Frau hatte schon so einen Mann? Einen Ehemann, der auf seine Frau hörte. Eine Seltenheit war das… Diese Mannsbilder! Die meisten glaubten ja tatsächlich, dass sie die Weisheit mit dem Löffel gefressen hätten und dass deshalb alles nach ihrem Schädel gehen musste. So einen hätte sie nie geheiratet! Und plötzlich fiel ihr wieder der Kerl von vorhin ein, der sie mit gemeinen, kalten Augen angestarrt hatte. Neuerlich erschauerte sie. Nechyba, dem beim Aufstieg durch die steile Kellergasse bereits ziemlich warm geworden war, zog sein Sakko aus und hängte es ihr um die Schultern. Eingehüllt in das warme Tuch, dem noch dazu der Körpergeruch ihres Mannes anhaftete, fühlte sich Aurelia rundum geborgen. Ihr Weg führte sie über das Steinerne Kreuz in eine weitere, schmälere Kellergasse. Ständig ging es bergauf, links und rechts die in die Böschung gegrabenen Weinkeller und dahinter ansteigende Weingärten. Am Ende dieser Gasse bogen sie links ab und erreichten nach einem kurzen Aufstieg ein gemütliches Wegerl, das sie entlang von Wiesen und Baumgruppen führte. Von hier oben eröffneten sich atemberaubende Ausblicke auf die weite Ebene des Marchfeldes sowie auf die in der Ferne liegende Stadt. Etwas weiter bergauf erreichten sie die Meierei Magdalenenhof. Neben einer neu errichteten Villa führte ihr Weg hinauf zur Eichendorffhöhe, wo der Dichter angeblich vor vielen Jahren ausgeruht und auf den Leopoldsberg, den Donaustrom und die Vororte von Wien geblickt hatte. Hier rasteten sie ebenfalls eine Zeit lang, genossen die Aussicht und tranken einige Schlucke Wasser. Da Aurelia noch keinen Hunger hatte, beschlossen sie, den Rundweg zu vollenden.

 

Müde, hungrig und natürlich auch durstig kehrten sie eine dreiviertel Stunde später in einen gemütlichen Weinkeller in der Stammersdorfer Kellergasse ein. Sie tranken einen reschen Grünen Veltliner und verzehrten die Butterbrote, Paradeiser und grünen Paprika, die Aurelia daheim in den Picknickkorb gepackt hatte. Zu Aurelias und Nechybas Überraschung bot ihnen der Winzer eine Portion Räucherspeck an, den er von seiner Schwägerin, die mehrere Schweine im Stall hatte, bekommen hatte. Eine Delikatesse in Zeiten des Fleischmangels! Zufrieden und entspannt, wie sie sich nun fühlte, sprach Aurelia recht kräftig dem Wein zu. Als sich schließlich in ihrem Kopf alles ein bisschen drehte, lehnte sie sich an Nechyba. Sie kaute langsam und genussvoll an einer Speckscheibe und hatte plötzlich die Erleuchtung:

»Nechyba! Jetzt weiß ich endlich, wer der Kerl war, der mich in der Früh so bös ang’schaut hat. Das war der, den ich unlängst gemeinsam mit dem Oprschalek vor’m Café Dobner g’sehen hab…«