KAPITEL 22

Ein Kritiker des Seattle Weekly hatte Chris’ Weinlokal Sangiovese als moltissimo rustico bezeichnet und genauso war es auch. Man kam sich vor wie in einem toskanischen Bauernhaus: Wände mit senffarbenem Rauputz, Balken unter den geraden Decken, unglasierte Bodenfliesen in stumpfem Rosa und schlichte Stühle, Hocker und Tische aus massivem, dunklem Holz. Für Licht sorgten nach oben gerichtete Wandleuchten, die die Putzstruktur betonten. Eine Ausstellung gab es zurzeit nicht, deshalb bestand die Wanddekoration nur aus ein paar handbemalten Tellern.

Es war elf Uhr morgens und es war nur ein Angestellter da, der hinter der Theke herumwirkte und Flaschen und Gläser zurechtrückte, ansonsten hatten Chris und Alix, die an einem Tisch in der hintersten Ecke saßen, den Laden für sich allein. Alix war am Vorabend nach Seattle zurückgekommen und hatte gerade Chris auf den neusten Stand gebracht.

»Unfassbar«, sagte Chris, »einfach unfassbar. Aber eins verstehe ich immer noch nicht. Wenn es zu ihrer Masche gehörte, nur an Ausländer zu verkaufen, warum wollte sie das Bild dann ausgerechnet mir verkaufen?«

»Darüber habe ich auch nachgedacht, Chris. Ich denke, Liz saß ziemlich in der Klemme. Sie hatte das ganze Geld von Sytex durchgebracht und hatte große Geldsorgen, nicht wahr? Du bist zur gleichen Zeit bei der Firma ausgestiegen, hast aber dein Geld vorsichtig angelegt und dir geht’s jetzt gut. Sogar prächtig. So wie ich sie einschätze, hatte sie daran ziemlich zu knabbern. Ich glaube, sie wollte dir eins auswischen, dir einen Dämpfer verpassen. Was meinst du?«

»Ach, das kann ich mir nicht …«

»Vor allem, wo sie in letzter Zeit … na ja, ständig vom Alkohol benebelt war.«

Chris rutschte unangenehm berührt hin und her. »Nun ja, vielleicht«, gestand sie ein. »Und dann hatte ich auch noch die Bilder ihres Freundes abgelehnt. Willy Moe irgendwas.«

»Cody Mack.«

»Richtig, Cody Mack irgendwas. Wer weiß, vielleicht war das einfach zu viel.« Sie seufzte. »Unfassbar«, sagte sie wieder. »Aber das ist alles Schnee von gestern. Ich habe eine viel wichtigere Frage.« Sie zog ihren Stuhl näher zu Alix und sah ihr bang in die Augen, ihre Gesichter auf gleicher Höhe, nur dreißig Zentimeter voneinander entfernt. »Also, wie sehe ich aus? Ganz ehrlich.«

»Chris, der Unfall ist erst drei Tage her. Du kannst nicht erwarten …«

Chris stöhnte theatralisch. »Oh Gott, du musst gar nichts sagen! Ich sehe furchtbar aus, was? Was soll ich nur machen? Craig kommt morgen. Vielleicht sollte ich absagen, mir irgendeine Ausrede einfallen lassen. Wundbrand oder so was.«

»Sei nicht albern. Er hat dich doch kurz nach dem Unfall schon gesehen und das hat ihn auch nicht abgeschreckt, oder? Und jetzt siehst du viel besser aus. Viel, viel besser.«

Chris sah sie zweifelnd an. »Wirklich?«

»Natürlich. Deine Nase ist abgeschwollen, deine Haare sehen toll …«

»Aber ich sehe immer noch wie ein Waschbär aus:«

»Chris, du siehst überhaupt nicht wie ein Waschbär aus! Glaub mir, ich würde dich nicht anlügen«

Ein Hoffnungsschimmer. »Ehrlich nicht?«

»Nein, überhaupt nicht.« Aber dann konnte sie nicht anders. »Waschbären haben schwarze Ringe um die Augen, deine sind mittlerweile grün.«

Chris sah sie einen Moment böse an, aber dann brachen beide in Gelächter aus.

»Deine Augenringe sind jetzt viel attraktiver«, brachte Alix heraus, bevor sie wieder lachen mussten.

»Ach, hör auf«, sagte Chris, die immer noch lachte und sich die Tränen wegwischte. »Ich muss jetzt arbeiten.«

Alix stand auf. »Bis später dann. Um sechs im Salmon Cooker?«

»Gut, dann können wir meine neuste Anschaffung feiern. Vor dir sitzt die stolze Besitzerin von Felsen auf der Ghost Ranch

Baff ließ sich Alix zurück auf ihren Stuhl fallen. »Du hast es tatsächlich gekauft

Chris lächelte zufrieden. »Bis heute konnte ich die Sache noch abblasen. Also habe ich Liz’ Nachlassverwalter angerufen und ihm gesagt, dass ich vom Kauf zurücktrete, da es eine Fälschung ist und ich ganz sicher keine drei Millionen dafür hinlegen würde. Dann haben wir uns eine Weile unterhalten und schließlich hat er gefragt: ›Wie viel würden Sie denn dafür hinlegen?‹ Und ich: ›Wie wär’s mit dreitausend?‹ Und er hat gesagt: ›Abgemacht!‹« Sie schmunzelte. »Na ja, wer könnte schon einem Preisnachlass von neunundneunzig Komma neun Prozent widerstehen? Zumal mir das Bild wirklich gefällt. Also sobald die Polizei es freigibt, gehört es mir. Ein tolles Andenken.«

»Andenken? An dein Nahtoderlebnis in der Wildnis von New Mexico?«

»An ein aufregendes Abenteuer«, sagte sie mit einem breiten Lächeln, »und den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

Image

Alix ging nicht sofort nach Hause, sondern lief hinunter zur First Avenue und nahm dort die Buslinie 24 zum East Marginal Way South, mitten in Seattles rauem Industriegebiet, ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dann zog sie einen ausgedruckten Google-Straßenplan zurate und lief zwei Block Richtung Osten, vorbei an Wellblechschuppen und alten Backsteinlagerhäusern, bis sie 51 South Hinds Street fand, einen schäbigen braunen Ziegelbau, der sich nicht groß von den Gebäuden ringsum unterschied. Es gab nur einen Eingang von der Straße her, eine pockennarbige Stahltür mit abblätterndem gelben Anstrich und einer verblichenen Aufschrift in einstmals blauen Lettern: Handelsgesellschaft Venezia.

Hinter der Tür befand sich ein kurzer Gang, Wände und Boden aus ungestrichenem Beton. Bis auf einen schmuddeligen grauen Läufer, zwei nackte Glühbirnen an der Decke und ein paar sich aufrollende, fliegendreckfleckige Bescheinigungen der Bauaufsicht, mit Klebeband an der Wand befestigt, gab es hier nichts. Von dem kahlen Beton ging ein kalter, deprimierender Geruch aus, der ihr Schauer über den Rücken jagte, und sie überlegte, ob es zu spät war umzukehren. Sie stand einen Moment lang unentschlossen da, drückte dann ihr Rückgrat durch und ging weiter.

Am Ende des Flurs befanden sich zwei Holztüren mit Milchglasscheiben und neuen selbstklebenden Schildern. Auf dem einen stand »Verkaufsraum«, auf dem anderen »Büros«. Sie nahm die Letztere und kam in eine Art Großraumbüro mit einem halben Dutzend kleiner Kabinen mit Glastrennwänden und hinten einer größeren für den Chef. Die kleinen waren alle leer – nicht verwunderlich, denn es war Mittag –, aber ob Mittag oder nicht, der Chef war da und arbeitete konzentriert an einem hölzernen Schreibtisch.

Ihr wurde ganz eng ums Herz. Er sah so alt aus! Er war siebzig, das wusste sie natürlich, aber sie hatte sich von seiner Stimme am Telefon täuschen lassen, die genauso klang wie die des fröhlichen, lebhaften Geoff ihrer Kindheit. Sie konnte sehen, dass die Jahre im Gefängnis und die damit einhergegangene Demütigung ihren Tribut gefordert hatten. Die kräftigen, weichen Schultern, an denen sie einst auf ihren langen Autofahrten so bequem geschlafen hatte, waren nun gebeugt. Seine ganze Gestalt schien geschrumpft und in sich zusammengefallen. Niemand würde ihn jetzt noch »knuddelig« nennen. Oder von seinem »rauen Charme« sprechen. Er war blass und ausgezehrt. Sein gestutzter weißer Bart (Geoff mit weißem Bart!) konnte seine eingefallenen, tief gefurchten Wangen kaum verbergen. Als er in mittleren Jahren und noch Kurator gewesen war, hatte man ihn häufig gebeten, einen weißen Bart anzulegen und bei Bürofeiern den Weihnachtsmann zu spielen. Nun, da er einen echten weißen Bart hatte, würde ihn wohl niemand mehr darum bitten.

Sie war schon fast an der türlosen Kabine, ohne das er sie bemerkt hatte.

»Hallo Geoff«, sagte sie leise.

Er zuckte zusammen. Sie meinte auch zu hören, wie er leise die Luft einzog. Aber er zögerte ein paar Sekunden und schaute nicht hoch. Was sollte sie davon halten? Vielleicht war dieser Besuch doch keine so tolle Idee.

Schließlich legte er seinen Füller hin (er hatte Kugelschreiber nie gemocht; wenigstens das hatte sich nicht geändert) und sah sie an.

»Hallo, mein Liebes«, sagte er und seine gewohnt heitere Stimme beruhigte sie. Der Geoff, den sie kannte, war noch da drin – und zwar quicklebendig. Er sah vielleicht nicht mehr aus wie der Weihnachtsmann, aber er klang so – wie eine britische Version zumindest.

Sie kam näher und stellte sich in den Türrahmen. »Ich, äh, war zufällig in der Gegend …«

Diese wenig überzeugende Lüge quittierte er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen und plötzlich sah sie ihn ganz anders, als hätte sie wieder den alten Geoff vor sich.

»… und ich dachte, wir könnten irgendwo zusammen was essen.«

Er sah sie fest an. Das einzige Anzeichen einer Gefühlsregung war ein leichtes Beben seiner Oberlippe, das er schnell unter Kontrolle brachte.

»Ich glaube, das lässt sich zeitlich einrichten.«

Ende