KAPITEL 6
Die Canyon Road war vor Urzeiten mal ein Indianerweg gewesen, der die Pueblos des Rio Grande mit denen des Pecos verband. Später kamen nacheinander Spanien, Mexiko und die Konföderierten Staaten mit ihren Armeen. Dann, als Frieden einkehrte, verkam der Weg zu einem Eselspfad, der nur gelegentlich von der Landbevölkerung genutzt wurde, die in den mit Kiefern bestandenen Hügeln jagte und Holz sammelte. Im achtzehnten Jahrhundert entstanden unter den Pappeln die ersten bescheidenen Lehmziegelhäuser. Zweihundert Jahre später folgten weit weniger bescheidene Lehmziegelhäuser.
Nun krochen, wo einst Konquistadoren marschierten, dunkel schimmernde Mercedes und Porsches mit schnurrenden Motoren im Tempo der alten Eselkarren dahin. Wer schneller fuhr, riskierte, einen der Touristen zu überfahren, die, mit Kamera um den sonnenverbrannten Hals, die Straße, eine der Hauptattraktionen Santa Fes, entlangschlenderten und schwatzten und dabei immer wieder, ohne es zu merken, auf die Fahrbahn gerieten.
Mit ihren Dutzenden von Edelgalerien, etliche in renovierten, zweihundert Jahre alten Lehmbauten untergebracht, wo edle Kunstwerke zu entsprechenden Preisen angeboten wurden, war die Canyon Road sicher die protzigste Galeriemeile Amerikas (obwohl die alte Garde diesen Rang noch immer der West 57th Street in Manhattan zusprach) und ohne Zweifel die hübscheste. Sicher, man konnte hier auch billigen Ramsch finden, aber wenn man so etwas suchte – mit Kojoten bedruckte T-Shirts, winzige Kakteen in Fingerhüten und erotische Kunst mit schwulen Cowboys (ja, die gab’s wirklich) –, dann war man in den Läden auf der Palace Avenue oder dem Old Santa Fe Trail in der Innenstadt besser bedient.
An diesem freundlichen Oktobernachmittag war die Straße bereits für den berühmten Freitagabend-Kunstbummel gesperrt worden, und die Galerien mit neuen Ausstellungen hatten Schilder hinausgestellt, aber die Besuchermassen waren noch nicht eingetroffen. Ein paar Grüppchen von Frühankömmlingen schlenderten durch die Straße, darunter auch Alix London und Chris LeMay. Sie waren relativ zügig vom Hotel hergelaufen und hatten noch eine halbe Stunde bis zu ihrer Verabredung mit Liz, also machten sie bei ein paar Galerien halt und flanierten durch attraktive Innenhöfe mit üppigen, duftenden Pflanzenarrangements, Bronzeskulpturen und plätschernden maurischen Brunnen. Alles war sogar noch schöner, als Alix erwartet hatte.
Liz’ Galerie war in einem der moderneren Gebäude untergebracht, aber die Architektur fügte sich harmonisch in die Umgebung mit ihren jahrhundertealten Lehmbauten ein. Beim Betreten des Hauptausstellungsraums fiel Alix sofort angenehm auf, wie professionell und schlicht die Exponate präsentiert wurden. Nur das Nebeneinander von Western-Bronzen, zeitgenössischer europäischer Malerei, japanischer Keramik, Navajo-Sandbildern und amerikanischen Trompe-l’œuil-Gemälden verursachte ihr ein unangenehmes Kribbeln. Niemand konnte sich wirklich mit dieser Bandbreite von Kunst auskennen und schon gar nicht Liz Coane. Außerdem wusste Alix, dass betrügerische Kunsthändler solche Sammelsurien manchmal zu ihrer Verteidigung anführten, wenn gegen sie ermittelt wurde. Woher sollte ich denn wissen, dass es eine Fälschung war? Woher sollte ich wissen, dass es gestohlen wurde? Sie können doch unmöglich erwarten, dass ich mich mit all diesen Kunstsparten auskenne.
Nein, Moment mal, das war nicht fair. Sie hatte Liz von Anfang an nicht gemocht und was Chris erzählte hatte, hatte diese Antipathie nur verstärkt. Deshalb war sie auch von vornherein misstrauisch gegenüber Liz, ihrer Galerie und dem O’Keeffe-Bild. Aber nun reichte es, ermahnte sie sich selbst. Sie musste doch wohl in der Lage sein, das Bild vollkommen unvoreingenommen zu beurteilen. Jedenfalls hatte sie das vor.
Sie sagten einem der Assistenten, dass sie mit Liz verabredet waren, und er führte sie zu einer Tür im hinteren Bereich der Galerie. Er klopfte zweimal und stieß die Tür auf. Alix stach sofort das Bild ins Auge, das auf einer Staffelei seitlich an der Wand stand – das für Chris bestimmte O’Keeffe-Gemälde. Liz saß an ihrem Schreibtisch und unterhielt sich mit einem dunkelhaarigen Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß. Auf dem Schreibtisch standen zwei halb leere Champagnergläser, eins davon mit Lippenstift verschmiert. Mein Gott, dachte Alix, die Frau scheint nur von Alkohol zu leben.
Liz, die sich bequem auf ihrem braunen Lederstuhl zurückgelehnt hatte, setzte sich abrupt auf und starrte die beiden an. »Was machen Sie denn hier?«
»Es ist halb fünf«, sagte Chris. »Wir wollten uns doch das Bild ansehen. Aber wie’s aussieht, kommen wir ungelegen …«
»Ach was, ist es wirklich schon halb fünf?« Perplex und mit leicht getrübtem Blick sah sie auf ihre Uhr. »Mein Gott, tatsächlich! Ich muss … ich meine … Ach Gott, es tut mir leid …«
»Ich fürchte, das ist meine Schuld.« Höflich stand der Mann auf. Alix’ spontane Reaktion war: Kleiderständer. Seine Kleidung war sportlich-elegant, aber mit Bedacht ausgewählt. Dieser Mensch zog sich nicht wahllos irgendwelche Klamotten über, er plante sein Outfit und brauchte wahrscheinlich eine Stunde, um sich zwischen goldenen und silbernen Manschettenknöpfen zu entscheiden. Auch seinen Haarschnitt hatte ihm nicht der Billigfrisör an der Ecke verpasst. Nein, vor ihr stand ein Mann, der viel Zeit auf sein Aussehen verwandte. Und eine Menge Geld. Zum zweiten Mal an diesem Tag traf Alix jemanden, den sie auf Anhieb unsympathisch fand, was eher untypisch für sie war. Vielleicht lag es nur an ihrer Stimmung. Wenn man gerade nur knapp einer Explosion entronnen war, sah man die Welt sicher eine Zeit lang mit anderen Augen.
»Ich bin einfach ohne Termin bei Ms Coane reingeplatzt«, war seine schmierige, offensichtlich nicht ernst gemeinte Entschuldigung. »Ich weiß, ich hätte einen Termin für morgen machen sollen, aber die Gelegenheit …«
Während er redete, war Liz auch aufgestanden. »Nein, es ist meine Schuld. Ich habe einfach die Zeit vergessen. Das ist Roland …«
»Rollie«, korrigierte er sie.
»… Rollie de Beauvais, ein renommierter Kunsthändler aus Boston. Er hat gehofft, ich könnte ihm helfen, ein paar Sachen für seine Kunden zu finden. Er war übrigens ziemlich an deinem O’Keeffe-Bild interessiert, Chris, aber zu seinem Pech …«
»Ihr O’Keeffe-Bild?«, sagte de Beauvais zu Chris mit sichtlich wachsendem Interesse. »Also Sie sind die Glückliche. Gratulation, es ist ein außergewöhnliches Bild.«
»Ja«, sagte Chris zwar ein wenig schüchtern, aber ungewollt klang auch etwas Selbstzufriedenheit mit durch. »Ich bin in der Stadt, um es mir genau anzusehen. Oh, Verzeihung, ich bin Chris LeMay.« Sie streckte ihre Hand aus. »Aus Seattle.«
»Ach, sieh mal an«, sagte de Beauvais mit einem, wie Alix fand, besonders öligen Lächeln, als er Chris die Hand schüttelte. Zu Alix’ Verärgerung schmolz Chris regelrecht dahin.
Aha, dachte der FBI-Agent, also du bist die geheimnisvolle Käuferin. Dann ist deine Freundin hier wohl diese London. Was für ein glücklicher Zufall. Die Sache wurde von Minute zu Minute interessanter.
Mit geschultem Blick schätzte er Alix in Sekundenschnelle ab und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Na ja, in dem Sinn gefiel sie ihm schon. Sie war sicher ganz attraktiv: hellbraunes Haar mit rötlichen Strähnchen, schön geschnitten, sodass es ihr hübsches Gesicht einrahmte; schlanke, sportliche Figur, schlichte, elegante Kleidung, einfacher Schmuck … Aber er mochte sie einfach nicht. Nicht dass sie ihm wie eine Betrügerin vorkam, was er eigentlich erwartet hatte, sondern ganz im Gegenteil. Sie sah aus wie das Mädchen von nebenan – wenn nebenan eine Zweieinhalbtausend-Quadratmeter-Villa am Strand von East Hampton bedeutete. Arrogant, herablassend, verwöhnt, eingebildet … All diese Eigenschaften standen ihr regelrecht in ihr makelloses Gesicht geschrieben. Alles an ihr – ihre Haltung, ihr Aussehen, ihre spürbare Selbstgefälligkeit – wies auf eine privilegierte Kindheit hin, die sie den Betrügereien ihres Vaters zu verdanken hatte.
Falls hier eine Gaunerei vor sich ging und sie darin verwickelt war, würde er sie mit dem größten Vergnügen hochgehen lassen. Er schlüpfte wieder in seine Rolle, lächelte sie an und ließ seinen ganzen geschliffenen Charme spielen (der aber zumindest auf Alix abstoßend wirkte). »Und Sie? Verraten Sie mir auch, wer Sie sind?«
»Alix London«, sagte sie brüsk und sah ihn kaum an. Sie wandte ihren Blick dem O’Keeffe-Bild zu.
Ted war zwar ein Profi, aber er war auch ein Mann, und sein männlicher Stolz hatte gerade einen Schlag erlitten. Er mochte es gar nicht, wenn man ihm die kalte Schulter zeigte, und war es auch nicht gewohnt, weder als Ted noch als Rollie. Aber ob als Mann oder als Profi, so schnell gab er sich nicht geschlagen.
»Ich habe mir gedacht …«, wandte er sich an Chris.
In dem Moment erschien ein gestresst wirkender junger Mann in der Tür. »Liz, Gregor ist da und er ist ziemlich unzufrieden.«
Liz atmete hörbar aus, mit deutlicher Fahne. »Was ist denn jetzt schon wieder, verdammt?«
»Ihm gefällt die Beleuchtung nicht. Zu sanft, sagt er. Er will schärfere Schatten.«
»Nun, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Er hätte früher was sagen sollen.«
»Und er sagt, Wet Dream Number 3 hängt falsch herum.«
Liz verdrehte die Augen. »Ja, klar. Als wenn das irgendjemand merken würde. Okay, okay, ich kümmere mich um ihn. Tut mir leid, Chris, es passt jetzt wirklich nicht. Meine Schuld. Vielleicht nach der Vernissage? Gegen acht? In der Zwischenzeit könntet ihr euch die Ausstellung ansehen, am Kunstbummel teilnehmen und vielleicht was essen oder so.«
»In Ordnung«, sagte Chris. »Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Mr de Beauvais. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«
»Danke. Äh … ich habe mir gedacht … falls Sie beide Zeit und Lust haben, könnten wir zusammen etwas trinken und vielleicht einen Happen essen. Ich würde mich sehr freuen.«
»Nun, das wäre …«, begann Chris.
»Wir haben zu tun«, sagte Alix barsch. »Bis später, Liz.« Und schon ging sie davon, ohne Ted eines Blickes zu würdigen, und Chris blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.