KAPITEL 7
»Was um Himmels willen sollte das denn?«, fragte Chris perplex, als sie Alix im Flur auf dem Weg zum Ausstellungsraum einholte. »Was hat der arme Kerl Ihnen denn getan?«
»Ach, er hat mir gar nichts getan«, knurrte Alix. »Er ist nur … Ich kann ihn nur … Ich weiß auch nicht. Ich kann ihn nicht ausstehen. Argh!«
»Aber warum denn nicht? Ich fand ihn cool.«
»Das konnte man sehen«, sagte Alix mit einem Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht so genau, was mich an ihm gestört hat, Chris.« Sie waren am Eingang zur Ausstellung stehen geblieben und standen jetzt seitlich davon, um die langsam eintrudelnden Besucher vorbeizulassen. »Doch, ich weiß. Es war dieses schmierige Getue, so als müssten wir ihn alle anschmachten. Eingebildet, arrogant, verwöhnt, egozentrisch …«
Chris sah sie nur an und lachte. »Das haben Sie alles in fünf Sekunden mitgekriegt? Der Typ hat doch kaum was gesagt.«
Alix grinste. »Das ist mein berühmter Kennerblick«, sagte sie und entspannte sich. »Chris, es tut mir leid, dass ich Sie einfach so übergangen habe. Aber um es auf den Punkt zu bringen: Er hat mich zu sehr an meinen Ex-Mann erinnert.«
Chris sah sie erstaunt an. »Sie waren schon mal verheiratet?«
»Ja, warum überrascht Sie das?«
»Ich weiß auch nicht … Ich dachte nur …. Also ich weiß nicht, Sie haben es nie erwähnt. Ich habe wohl angenommen …«
»Da haben Sie was Falsches angenommen. Ja, ich war wirklich schon mal verheiratet. Ganze zehn Tage lang war ich Mrs Paynton Whipple-Pruitt.«
Chris machte große Augen. »Meinen Sie etwa die Whipple-Pruitts?«
Alix nickte. »Aus Boston, Watch Hill und Palm Beach. Allesamt Kunstmäzene, Klatschspaltenfutter, Stilikonen und Trendsetter.«
»Wow, alle Achtung.« Chris zog Alix in einen Nebenraum voller Verpackungsmaterial. »Mrs Paynton Whipple-Pruitt«, wiederholte sie. »Das ist ja … Moment, habe ich richtig gehört? Zehn Tage?«
»Fast elf.«
»Ach, elf. Das ist natürlich was ganz anderes.«
Jetzt konnte Alix darüber lachen, aber damals war es alles andere als amüsant gewesen. Sie war zwei Monate mit Paynton verlobt gewesen, als ihr Vater so unerwartet und so spektakulär unterging und ihre Welt auf den Kopf stellte. Im Grunde hatte sie da schon ernsthafte Zweifel gehabt, was ihren Verlobten anging. Je länger sie ihn kannte, desto mehr wurde ihr klar, dass er ein echter Spross der Whipple-Pruitt-Dynastie war: eingebildet, versnobt und hochnäsig. Und großkotzig. Und nicht sehr helle. Aber dennoch, als er immer noch bereit war, sie trotz des unverhohlenen Verdrusses seiner Familie zu heiraten, hatte sie dankbar eingewilligt. Überaus dankbar, denn sie kam sich vor wie ein Passagier auf der Titanic und er bot ihr einen Platz in seinem privaten, äußerst komfortablen Rettungsboot an.
Natürlich hätte sie erkennen müssen, dass die Aussichten nicht allzu rosig waren, als seine Familie auf einem Ehevertrag bestand, demzufolge sie leer ausging, falls die Verbindung weniger als ein Jahr hielt. Aber sie stand wegen der Blamage durch ihren Vater noch unter Schock – und um ganz ehrlich zu sein, auch wegen ihrer Finanznöte –, also stürzte sie sich in die Ehe. Vier Tage nach der Hochzeit drang die Wahrheit endlich zu ihr durch und sie begriff, dass sie einen katastrophalen Fehler begangen hatte.
Das Ganze beruhte anscheinend auf einem Missverständnis. Der arme Paynton hatte das Angebot, sie trotz allem zu heiraten, nur aus falsch verstandenem Pflichtgefühl gemacht. Er war eigentlich selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie unter diesen Voraussetzungen das einzig Richtige tun und ablehnen würde. Als sie einwilligte, tat Paynton, nun seinerseits unter Schock, was ihm seine Mannesehre gebot: Er biss die Zähne zusammen und zog es durch. Als Alix das begriff, war die Ehe natürlich vorbei. Am fünften Tag ihres Lebens als Mann und Frau trennten sie sich ganz offiziell und am elften Tag reichten sie die Scheidung ein. Den Kollektivseufzer der Erleichterung, den Paynton und seine Familie ausstießen, konnte man bis nach West-Connecticut hören.
Aber sie wollte jetzt nicht mit Chris darüber reden. Vielleicht später einmal. »Und die elf Tage zogen sich ziemlich hin«, war alles, was sie sagte.
»Aha, verstehe. Und Rollie de Beauvais erinnert Sie an Ihren Verflossenen. Aber um ganz ehrlich zu sein«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns, »mit einem Kerl, der aussieht wie dieser de Beauvais und so viel Geld hat wie die Whipple-Pruitts, könnte ich es viel länger aushalten als elf Tage.«
»Ja, schon, aber Paynton hatte diese Art, diese Gewohnheit zu …« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht leicht zu erklären. Es war nur …«
Chris hob sachte die Hand. »Tut mir leid, dass ich so verdammt neugierig bin, Alix. Hören Sie, wenn Sie irgendwann mal das Bedürfnis haben, drüber zu reden, haben Sie in mir eine geduldige Zuhörerin. Bis dahin reden wir nicht mehr drüber, okay?«
»Einverstanden«, sagte Alix dankbar. »Hören Sie, ich hätte vorhin nicht so überheblich sein dürfen. Ich hätte einfach sagen sollen, dass ich keine Lust habe, etwas mit ihm zu trinken. Ich hätte Sie nicht mit einbeziehen sollen. Wir könnten doch einfach zurückgehen. Falls er noch da ist, können Sie …«
»Nein, auf gar keinen Fall. Wenn ich recht darüber nachdenke, war er vielleicht ein bisschen zu cool. Oder zu schmierig. Oder zu irgendwas. Kommen Sie, sehen wir uns die Ausstellung an. Vielleicht finde ich ja noch was, was ich kaufen möchte. Es ist immer aufregend zu …« Sie unterbrach sich und blinzelte, als sie den Raum betraten. »Hups! Nein, eher nicht. Scheibenkleister!«
Allerdings Scheibenkleister, dachte Alix. Die Schöpfungen des »genialen jungen Gregor Gorzynski« gehörten zu dem, was ihr Vater verächtlich »europäischen Kunst-Trash« nannte: absurd, prätentiös und pseudointellektuell, meist Werke von Anarcho-Jünglingen, die mehr Interesse daran hatten, einen reichen Mäzen aufzutun – oder besser noch eine naive, nicht mehr ganz junge, aber zuwendungsbedürftige Mäzenin –, als sich wirklich ihrer »Kunst« zu widmen. Mitten im Raum stand Gorzynski selbst in abgewetzter Lederjacke und kunstvoll zerrissenen Jeans und ließ sich lebhaft, mit theatralischem Gehabe und starkem Akzent, über die subtilen Vorzüge seiner Werke aus: überdimensionale, ungerahmte und ungleichmäßige Leinwände mit ausgefransten Rändern, mit lang gezogenen, spiraligen Klebstoffklecksen, Bindfäden und, wie’s schien, M&M’s bedeckt. Hie und da standen Skulpturen (im weitesten Sinne): notdürftig zusammengenagelte Kanthölzer, mit Schnüren, Frühstücksflocken und zerfaserten Seilen dekoriert. Über die Schnüre waren, ganz daliesk, schlaff aussehende, aber gehärtete Stränge von durchsichtigen Reisnudeln drapiert.
»Ehrlich gesagt«, meinte Chris, »ich kann mir nicht vorstellen, mir so was jemals ins Haus zu holen, selbst wenn die Preise nicht so absurd hoch wären. Oder was sagt meine neue Kunstberaterin dazu?«
»Ihre neue Kunstberaterin ist ganz Ihrer Meinung.«, flüsterte Alix. »Ihre neue Kunstberaterin verrät Ihnen eine einfache Regel, die Sie immer beherzigen sollten: Hängen Sie sich nie was an die Wand, das biologisch abbaubar ist.«
»Wollen Sie etwa sagen, M&M’s seien biologisch abbaubar?«, sagte Chris lachend. »Wer hätte das gedacht?«
Neben ihnen standen ein jüngerer Mann mit blondem Bart und eine Frau, die andächtig eine Komposition aus Bindfaden, Klebstoff und M&M’s auf einer leuchtend blau bemalten Sperrholzplatte betrachteten. »Ich finde gut«, sagte die Frau, »dass er die kleinen M draufgelassen hat, als wollte er die Grenzen zwischen der Realität und der Idee der Realität, wie sie in der Kunst Ausdruck findet, verwischen.«
»Ja«, antwortete er nach kurzem Nachdenken. »Ist dir auch aufgefallen, wie er die blaue Fläche als das einzig verbindende Element einsetzt, das Rationalität und Ordnung schafft, sodass nicht nur formell-strukturelle Aspekte hervorgehoben werden, sondern auch die symbolische Bedeutung?«
Chris und Alix sahen sich an. »Glauben die diesen Quatsch wirklich«, flüsterte Chris aus dem Mundwinkel, »oder wollen die nur angeben?«
Alix lächelte. »Das erinnert mich an etwas, das mein Vater immer gesagt hat. Er meinte, es würde deshalb so viel unverständliches Zeugs über die sogenannte Kunst von heute geschrieben und gefaselt, weil man sie sonst nicht von Müll unterscheiden könnte.«
»Kluger Mann, Ihr Vater«, sagte Chris.
Alix wollte gerade antworten, da wurde sie von Liz’ schriller Stimme unterbrochen, die praktisch in ihr rechtes Ohr schrie. »Cl-lyde! Kommen Sie rein, Cl-lyde. Schauen Sie sich um und trinken Sie ein Glas Champagner.«
»Keinen Champagner für mich, danke«, sagte der Angesprochene zimperlich. »Ich bin nur gekommen, um ein paar Kataloge mitzunehmen. Wie Sie mittlerweile wissen müssten, trinke ich keinen Alkohol.«
Der gereizt wirkende Mann mit Halbglatze war der erste Mensch im Anzug, den Alix in Santa Fe sah, und noch dazu mit Fliege, und zwar mit Zebramuster – eine fertig gebundene, die man mit einer Spange befestigt, aber immerhin eine Fliege.
»Ganz wie Sie wollen«, sagte Liz. »Clyde, das ist Chris LeMay, eine alte Freundin von mir. Sie will sich eine Kunstsammlung aufbauen und ist diejenige, die das O’Keeffe-Bild ersteht, mit dem Sie mir behilflich waren. Und das hier ist ihre Beraterin, Alix London. Ladys, darf ich euch meinen geschätzten Freund und Geschäftspartner Clyde Moody vorstellen? Clyde ist Bibliothekar im Twentieth Century.«
Mit »Twentieth Century« war natürlich das renommierte Southwest Museum of Twentieth-Century American Art gemeint, das ein paar Blocks von Santa Fes zentralem Platz entfernt lag.
»Archivar«, korrigierte Moody sie ein wenig schroff. »Und zu den zahlreichen und vielfältigen Pflichten meiner Position gehört es«, erklärte er Chris und Alix, »Kataloge aus den wichtigsten Galerien New Mexicos zu archivieren, selbst wenn die Ausstellung meiner unmaßgeblichen Meinung nach …«, er ließ seinen Blick bedeutungsvoll durch den Raum schweifen, »… so viel mit Kunst zu tun hat wie Garfield mit der Mona Lisa.«
Daraufhin brach Liz in trunkenes Gelächter aus, was ihr böse Blicke, an die Lippen gehobene Zeigefinger und sogar hie und da ein Psst! von Besuchern einbrachte, die keine Ahnung hatten, dass die laute Frau mit dem ordinären Lachen ihre Gastgeberin war und die Leckereien besorgt hatte, die sie verputzten. Liz merkte von alledem nichts. Sie legte einen Arm um Moodys schmale Schulter, dem diese Vertraulichkeit ganz offensichtlich unangenehm war. »Dieser Mann wirkt nur so miesepetrig. Unter der rauen Schale verbirgt sich …«
»Ja, ich weiß«, sagte Moody und versuchte erfolglos, sich unter ihrem kräftigen Arm herauszuwinden. »Ein Herz aus Gold, rein und unverfälscht. Elizabeth, bitte, ich bin nur wegen des Katalogs hier, wenn ich also …«
»Dieser Mann …«, sagte Liz und drückte ihm freundschaftlich die Schulter, »dieser Mann wirkt vielleicht unscheinbar, aber in seinem kleinen Spitzkopf steckt das Hirn eines Giganten. Er ist ein wandelndes Lexikon. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn anfangen würde. Ihr würdet staunen, was man in seinem schimmligen, alten Archiv so alles findet. Ihr würdet staunen.« Sie warf ihm einen kokett verschwörerischen Blick zu. »Ich könnte euch Geschichten erzählen …«
Aber Moody war es schließlich gelungen, sich zu befreien, und er eilte bereits zur Tür. »Bye, Cl-lyde«, rief ihm Liz lachend hinterher und schwebte davon, um Gorzynski anzuhimmeln, hakte sich bei ihm ein und sonnte sich in seinem Ruhm.
»Also meinetwegen können wir gehen«, sagte Alix. »Ich habe alles gesehen, was ich wollte.«
»Mehr als ich wollte«, sagte Chris. »Hauen wir ab.«
Da sie noch fast drei Stunden Zeit hatten, bis sie sich das O’Keeffe-Bild ansehen sollten, schlug Chris vor, essen zu gehen. Aber Alix erhob Einspruch. Erstens litten ihre Nerven noch unter den Nachwirkungen der Explosion und sie hatte überhaupt keinen Appetit. Zweitens hatte sie schon seit Jahren so viel über die Canyon Road und den berühmten Kunstbummel am Freitag gehört, und da sie auf dem Weg zur Blue Coyote Gallery nur einen kleinen Vorgeschmack bekommen hatte, wollte sie jetzt mehr sehen.
»Wissen Sie was«, sagte Chris, als sie hinausgingen. »Am Ende der Straße ist ein Restaurant, El Farol. Gehen wir doch in die Richtung und sehen uns unterwegs alles an. Ich esse dann dort eine Kleinigkeit. Sie bummeln nach Herzenslust weiter und kommen gegen Viertel nach sieben zurück zum Restaurant, wir trinken noch ein Glas Wein und kommen dann zurück hierher. Wie hört sich das an?«
»Perfekt, aber auf Wein habe ich im Moment keine Lust. Höchstens Kaffee.«
Sie blieben einen Moment auf der Ziegelterrasse vor der Galerie stehen, um sich zu orientieren. Die Sonne stand niedrig am Horizont und die Pappeln warfen lange Schatten auf die von Lehmbauten gesäumte Kunstmeile, auf der jetzt kleinere und größere Gruppen hin- und herschlenderten und sich schwatzend in Galerien schoben oder wieder hinaus. Alix war von der ganzen Atmosphäre begeistert: der berauschenden Luft des Wüstenhochlands, den malerischen, gewundenen Straßen (oder eher Gassen), den Leuten und dem selbst in der Abenddämmerung noch wunderbar klaren Licht.
Sie machten ab und zu bei einer Galerie halt und so brauchten sie eine Stunde bis zum Restaurant. Da Alix unbedingt noch mehr sehen wollte, ließ sie Chris dort zurück und zog allein weiter, während es langsam dunkel wurde und die Straßenlaternen angingen. Als sie an einer Galerie mit zeitgenössischer Kunst vorbeikam, sah sie einen Mann in mittleren Jahren und ein hübsches zehn- oder elfjähriges Mädchen herauskommen, die sich an den Händen hielten und plauderten. Beide lachten vergnügt und hatten nur Augen füreinander. Das Mädchen sah den Mann voller Bewunderung an und sein Blick war so von Stolz und Zärtlichkeit erfüllt, dass es Alix den Atem verschlug.
Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Als hätte jemand ihr Herz gepackt und würde zudrücken. Sie wurde stocksteif, urplötzlich von Gefühlen übermannt. Geoff und sie hatten so oft wie diese beiden lachend und sich an den Händen haltend Galerien und Museen durchstreift … und einander dabei ebenso liebevoll angesehen.
Das Mädchen und sein Vater gingen an der regungslosen Alix vorbei, ohne sie zu bemerken. »Das war so lustig, Daddy!«, sagte die Kleine kichernd. Auch Geoff hatte diese wunderbare Gabe gehabt, sie zum Lachen zu bringen – mit seinen albernen Witzen, Rätseln und Nonsensreimen. An ein Gedicht konnte sie sich noch erinnern, bei dem sie sich immer vor Lachen geschüttelt hatte, auch wenn er es noch so oft aufsagte: »Dunkel war’s, der Mond schien helle, grün war die beschneite Flur, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die runde Ecke fuhr …« Auch jetzt reizte es sie zum Kichern, aber gleichzeitig verspürte sie solche Verbitterung, dass es ihr die Brust zuschnürte.
»Alles in Ordnung, Miss?«, fragte ein älterer Herr. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Oh … nein, mir geht’s gut, danke. Ich war nur … in Gedanken.« Langsam lief sie weiter, verirrt im Labyrinth ihrer Erinnerungen, von widersprüchlichen Gefühlen geplagt. Fast als wäre es ohne ihr Zutun dorthin gelangt, hielt sie plötzlich ihr Handy in der Hand. Wie wär’s, ihn jetzt anzurufen? Genau in diesem Augenblick? Da fiel ihr etwas auf: Der Morgen, an dem er angerufen hatte – nach ihrem Treffen mit Chris –, als sie sich geweigert hatte, mit Tiny zu sprechen, und ärgerlich aufgelegt hatte … Das war sein letzter Anruf gewesen und schon drei Tage her. Ziemlich lang für ihn. Sie war so sehr mit Georgia O’Keeffe und ihren Reisevorbereitungen beschäftigt gewesen, dass es ihr gar nicht aufgefallen war. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte bewusst jeden Gedanken an ihn verdrängt und beschlossen, später ernsthaft über alles nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen.
Hatte er aufgegeben? Hatte er ihr abweisendes Verhalten gegenüber Tiny als endgültige Aufforderung aufgefasst, sich zu verdünnisieren? Sie ein für alle Mal in Ruhe zu lassen? Sie wusste zwar nicht, was sie wollte, aber jedenfalls wollte sie nicht, dass mit diesem fürchterlichen Telefongespräch der Kontakt zwischen ihnen abbrach.
Sie löste sich aus der Fußgängermasse und setzt sich auf eine Lehmmauer, klappte ihr Handy auf und wollte gerade mit zitternden Fingern seine Nummer wählen, da hielt sie plötzlich inne. Sie konnte ihn nicht anrufen. Sie hatte seine Nummer gar nicht. Seine Adresse hatte sie auch nicht. Sich beides aufzuschreiben, hätte ihrer Ansicht nach bedeutet, ihm eine Tür zu öffnen. Damit hätte sie zugestanden, dass irgendwann in Zukunft wieder eine Beziehung zwischen ihnen möglich war.
Sie blieb erst mal sitzen, in einem Morast widersprüchlicher Gefühle. War sie enttäuscht oder erleichtert, dass sie nicht anrufen konnte? Sie wusste es wirklich nicht. Das Ganze war wie ein Gefühlskrampf, ein Anfall, eine Nostalgieattacke, ausgelöst vom Anblick des Vaters mit seiner Tochter. Aber mittlerweile waren die beiden schon einen Block entfernt, außer Sicht- und Hörweite. Sie konnte regelrecht fühlen, wie sich wieder Kälte um ihr Herz legte, und sie war dankbar dafür. Die alten Zeiten waren zwar wunderbar gewesen – er war wunderbar gewesen, das ließ sich nicht abstreiten. Aber all die märchenhaften Kindheitserinnerungen verblassten gegenüber der Tatsache, dass er alles riskiert hatte – seinen mühsam erkämpften Ruf, seine Freiheit und das Wohl seiner Tochter – und sein seltenes, gottgegebenes Talent für Gaunereien missbraucht hatte. Er war schlicht und einfach ein Schwindler, ein Nassauer.
Vielleicht konnte sie das alles ja irgendwann einmal hinter sich lassen. Aber jetzt jedenfalls nicht. Noch nicht. Vielleicht auch nie.
Sie stand langsam auf, steckte ihr Handy weg und hatte das Gefühl, beinah einen Fehler begangen zu haben. Außerdem fühlte sie sich wie durch die Mangel gedreht. Ein Glas Wein mit Chris würde ihr jetzt doch ganz guttun.