KAPITEL 10

Zwanzig Minuten später, als Ted im El Cañon, dem Coffeeshop des Hilton, saß, hatte er immer noch dieses Stirnrunzeln im Gesicht. Vor ihm stand unberührt ein großer Cappuccino, der langsam kalt wurde. Er trommelte sachte mit den Fingern auf dem Tisch herum, während er seine Einschätzung überdachte, von deren Richtigkeit er bis vor einer Stunde überzeugt gewesen war.

Die Begegnung in der Asservatenkammer hatte alles auf den Kopf gestellt. Er hatte von Anfang an vermutet, dass es sich bei dem Bild um eine Fälschung handelte, und seine Ahnung wurde zur felsenfesten Überzeugung, als er erfuhr, dass diese London in die Sache verwickelt war. Er hatte das Bild zwar am Vortag kurz in Liz’ Büro gesehen, das hatte jedoch nichts an seiner Meinung geändert. Aber an diesem Morgen hatte er die Gelegenheit gehabt, das Bild eingehend zu untersuchen, und da war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher gewesen. Das Gemälde war besser, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte: Es war auf faszinierende Weise atmosphärisch und besaß die unverwechselbare Handschrift, die, wie er bei einem früheren Fall gelernt hatte, nur die von Georgia O’Keeffe sein konnte. Von keinem anderen.

War es also doch echt? Obwohl die London das Gegenteil behauptete, neigte er jetzt dazu, an die Echtheit des Bildes zu glauben. Es spielte aber auf jeden Fall eine Rolle bei irgendeinem krummen Geschäft, so viel war klar. Aber was Liz auch im Schilde geführt hatte, dieses Bild zumindest – davon war er immer fester überzeugt – war authentisch. War es als Köder gedacht? Sollte es Käufer für weitere O’Keeffe-Bilder anlocken, die »noch zu entdecken« waren? Ein echtes, um zehn Fälschungen zu verkaufen? Schon möglich, das war eine uralte Masche.

Abwesend rührte er den Milchschaum in den Kaffee, nahm seinen ersten großen Schluck und seufzte. Diese London, die machte ihm auch zu schaffen. Jamies Anruf an diesem Morgen, bei dem sie ihm berichtet hatte, dass Alix’ krimineller Vater hinter den Kulissen mitmischte, hatte seinen Verdacht nur bekräftigt, dass da irgendein krummes Ding lief und Alix bis über beide Ohren mit drinsteckte.

Aber …

Wenn sie in den Schwindel eingeweiht war, warum hatte sie dann nicht die Echtheit des Bildes bestätigt? Was brachte es, das Bild als Fälschung zu bezeichnen? Hatte er sich auch in ihr geirrt? War sie vielleicht doch eine ehrliche Haut? Und wenn ja, hatte sie recht, was das Bild anging?

Er schüttelte den Kopf. »Mann«, murmelte er recht laut.

Und dann war da noch die seltsame Sache mit dem explodierten Bungalow. Sie hatte Mendoza erzählt, dass sie glaubte, Liz steckte dahinter. Aber falls es ein Anschlag war und kein Unfall, was war der Grund?

Er nahm noch einen Schluck Kaffee und schüttelte wieder den Kopf. Seine anfangs so geradlinige Betrugsermittlung führte ihn plötzlich auf eine unsichere Bahn, die reichlich Kurven aufwies.

Letzteres könnte man auch über Alix London sagen, dachte er mit einem Lächeln, das dann aber schnell einem düsteren Blick wich.

Daran darf ich nicht mal denken.

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Während Ted im Hilton in seinen Cappuccino starrte und versuchte, aus der ganzen Sache schlau zu werden, saß Alix drei Blocks weiter im La Plazuela, einem der Restaurants des La Fonda, der imposanten, achtzig Jahre alten Grande Dame unter den Hotels von Santa Fe. Auch Alix stierte in ihren Kaffee, während sie versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Der ursprüngliche Innenhof des Hotels war durch ein Dach mit Oberlichtern in einen hübschen Speisesaal mit gefiltertem Sonnenlicht verwandelt worden, der auch nach Granada gepasst hätte: rote Bodenplatten, rustikale, handgeschnitzte Tische und Stühle, zwei Kübel mit ausgewachsenen Birkenfeigen, ein sanft gurgelnder, gefliester Springbrunnen in der Mitte … Aber Alix nahm nichts von alledem wahr. Sie war vielleicht noch verwirrter als Ted.

Es war einfach unglaublich! In den vergangenen vierundzwanzig Stunden – nein, nicht einmal so lange, denn sie war ja am Vortag erst nachmittags angekommen – wäre sie um ein Haar in die Luft geflogen, sie und Chris waren von einem Dieb und Mörder auf der Flucht umgerannt worden, sie hatte eine Leiche entdeckt, sie war von der Polizei in die Mangel genommen worden und – Ironie des Schicksals – vor wenigen Minuten war sie zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem Gemälde, das die Ursache für alles zu sein schien, um eine miese Fälschung handelte. Nun gut, keine miese Fälschung, ein gute, aber gefälscht ist gefälscht.

Es gab so viele offene Fragen: Hatte Liz gewusst, dass es eine Fälschung war, oder war sie selbst reingelegt worden? War die Explosion wirklich ein Attentat auf Alix? (Ja!, verkündete eine innere Stimme.) Und wenn es so war, hatte Liz dahintergesteckt? (Wieder ein schallendes Ja!) Aber falls Liz wirklich versucht hatte, sie umzubringen, wer hatte dann Liz auf dem Gewissen? Oder bestand vielleicht gar keine Verbindung zwischen diesen beiden Vorfällen? Spielten sich hier zwei voneinander unabhängige Szenarien ab?

Das war scheinbar auch Lieutenant Mendozas Theorie: Liz hatte nur sterben müssen, weil sie zu ihrem Unglück den Dieb erwischt hatte. Weil sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Nach seiner zweiten Theorie war der Mörder einer von Liz’ abservierten Künstler-Liebhabern oder ein Kollege, dem sie übel mitgespielt hatte, und der Diebstahl hatte entweder gar nichts damit zu tun oder diente nur als Ablenkungsmanöver. Zu der Gasexplosion hatte Mendoza keine Meinung geäußert, aber ihre Theorie des Mordversuchs nahm er offensichtlich nicht ganz ernst.

Alix war ganz anderer Ansicht als der Lieutenant. Sie glaubte schon an Zufälle, aber nicht in dieser Häufung. Die Explosion, der Mord an Liz, der Diebstahl des Bildes, die Tatsache – falls es denn so war –, dass das Bild gefälscht war – zwischen all dem bestand eine Verbindung. Und dass dann auf einmal dieser durchtriebene Schleimer Roland de Beauvais auftauchte, war auch kein Zufall. Und im Mittelpunkt des Ganzen, dessen war sie sich so sicher wie nie, stand das O’Keeffe-Gemälde. Es war das Bindeglied zwischen all diesen Vorfällen.

Das Bild … dieses verdammte Bild … War es tatsächlich eine Fälschung? Sie war sich nicht mehr so hundertprozentig sicher wie auf der Polizeiwache, aber das lag nicht an dem Bild selbst, sondern an dem Etikett der Galería Xanadu auf der Rückseite. Es wies darauf hin, dass das Bild eine (vermutlich) legitime Galerie in Albuquerque durchlaufen hatte und dort wahrscheinlich auch verkauft worden war. Es war doch damals sicher auch einer Echtheitsprüfung unterzogen worden. Die musste es wohl bestanden haben. Das stimmte sie nachdenklich. Hatte sie ihr sonst so zuverlässiger Kennerblick diesmal im Stich gelassen?

Andererseits war auch eine angesehene Galerie keine Garantie für die Echtheit eines Bildes, schon gar nicht im Fall von Georgia O’Keeffe. Es war gar nicht so lange her, dass ein bekannter, sehr renommierter Kunsthändler dem Philanthropen R. Crosby Kemper aus Kansas City für fünf Millionen Dollar vierundzwanzig von achtundzwanzig »neu entdeckten« Aquarellen der Malerin verkauft hatte. Zuvor waren sie von verschiedenen Experten mit wissenschaftlichen Methoden auf ihre Echtheit geprüft worden und hatten sogar zwei Jahre lang als sogenannte Canyon Suite einen Ehrenplatz in der National Gallery gehabt. Trotzdem stellten sie sich zu guter Letzt als Fälschungen heraus. Alles ein Riesenschwindel.

In gewisser Weise war es die Schuld der Künstlerin selbst, dass so etwas passieren konnte. Sie war bekanntermaßen sehr verschlossen gewesen. Niemand durfte ihr Atelier besuchen oder ihr bei der Arbeit zusehen. Deshalb wusste auch niemand, ob sie irgendwo insgeheim Bilder verstaut hatte und wenn ja, wie viele. Nach ihrem Tod fand man eine gigantische Zahl von Werken in ihrem Atelier: weit über tausend Bilder. Aber gab es außer diesen Neuentdeckungen noch andere, von denen niemand etwas wusste? Bilder, die sie vielleicht ihren wenigen Freunden und Verwandten geschenkt oder selbst verkauft hatte? Niemand wusste, wie viele ihrer Gemälde darauf harrten, »neu entdeckt« zu werden, und wo man danach suchen sollte.

Deshalb bot das Werk der Künstlerin ein lohnendes Betätigungsfeld für fleißige Fälscher. Und die Experten, darunter auch eine gewisse Alix London, mussten möglichst unvoreingenommen an bis dahin undokumentierte O’Keeffe-Bilder herangehen. Spontanurteile waren vielleicht doch keine so gute Idee.

Aber all das war nicht der Grund für die dumpfen Schmerzen in ihren Schläfen und das leere Gefühl in ihrer Brust. Vielmehr war es ihre sogenannte Karriere, die ihr Sorgen machte und sie verwirrte. Wie konnte sich dieser tolle Auftrag, den ihr der Himmel geschickt zu haben schien, nur als ein solcher Albtraum entpuppen? Sie hatte gehofft, dies wäre ein erster Schritt dahin, endlich das mit ihrem Nachnamen verbundene Stigma loszuwerden. Stattdessen wurde sie in einen Mordfall verwickelt und das Opfer war auch noch eine bekannte Galeristin. Das würde auf jeden Fall in der Kunstszene für Aufsehen sorgen und vielleicht sogar landesweit Schlagzeilen machen. Als ob ein Mord nicht schon genug wäre, hatte sie es jetzt auch noch mit einem gefälschten O’Keeffe-Bild zu tun. Bald würden sich Leute im Kunstbetrieb überall im Land mit hochgezogenen Augenbrauen ansehen und sagen: »Also das überrascht mich überhaupt nicht. Sie wissen doch sicher, wer der Vater ist …?«

Und dann würden sich die Klatschtanten und Gerüchteköche auf die Geschichte stürzen, um das zu tun, was sie immer taten: ausschmücken, aufblasen und andeuten. Dann konnte sie sich von ihrer gerade erst aufkeimenden Karriere verabschieden. Wenn die mit ihr fertig waren, würde sie keiner mehr mit der Kneifzange anfassen. Schließlich heißt es, so würde man sagen, wo Rauch ist …

Sie schloss die Augen und massierte mit sanften, kreisförmigen Bewegungen ihre Schläfen. Viel half es nicht. Wahrscheinlich zerriss man sich jetzt schon die Mäuler über sie.

Sollen sie doch! Sie konnte auch nichts daran ändern. Sie nahm an, die Polizei würde die ganze Sache irgendwann aufklären, aber »irgendwann« konnte noch eine Ewigkeit hin sein, wenn sie erst ihre Hypothese vom verdrossenen Ex und die vom düpierten Kollegen durchackern mussten.

Sie seufzte. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer, fast so schlimm, dass sie etwas einnehmen wollte, aber ansonsten genoss sie es, einfach an einem warmen, lichtdurchfluteten Ort zu sitzen, insbesondere nach den letzten trüb-grauen Tagen in Seattle. War sie wirklich einen Tag vorher um die gleiche Zeit noch in Seattle gewesen – unschuldig, aufgeregt und glücklich? Unvorstellbar. Sie schloss die Augen, um besser dem sanft-melodischen Plätschern des Brunnens lauschen zu können …

Dann schreckte sie plötzlich auf. Moment mal! Wer sagte denn, dass sie nichts tun konnte? So schnell würde sie sich nicht geschlagen geben. Und wer sagte, dass sie die Ermittlungen ganz allein der Polizei überlassen musste? Das wäre keine gute Lösung. Erstens hatten die Scheuklappen auf und zweitens hatten sie null Ahnung, wie man Nachforschungen über ein Bild anstellt. Außerdem war es ihnen auch vollkommen egal. Aber sie hatte Ahnung und ihr war’s nicht egal und sie konnte ihre Fähigkeiten einsetzen. Falls das Bild der Grund für alles war, wer wäre besser geeignet zu ermitteln als Alix London?

Am besten fing sie direkt an diesem Morgen hier in Santa Fe an – und zwar im Archiv des Southwest Museum of Twentieth-Century American Art, das ganz in der Nähe lag. Clyde Moody, der Archivar des Museums, hatte beim Empfang am Vorabend erwähnt, dass dort Ausstellungskataloge von bedeutenden Galerien aus ganz New Mexico aufbewahrt wurden. Wenn die Galería Xanadu mit einem O’Keeffe-Bild gehandelt hatte, war sie doch per Definition bedeutend, und aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Bild in einem ihrer Kataloge aufgeführt. Dort würden auch Hintergrundinformationen zu finden sein, und je mehr sie über das Bild erfuhr, desto zuverlässiger könnte sie ihre Intuition einsetzen. Aber wie lange reichte das Archiv zurück und wann war das Gemälde in der Galería Xanadu ausgestellt worden? Vor 1964 konnte es nicht gewesen sein, denn das war das vermeintliche Entstehungsjahr des Bildes. Andererseits …

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum saß sie grübelnd hier herum, wenn sie nur anrufen musste, um alles aus erster Hand zu erfahren? Sie ließ ihren kaum angerührten Kaffee stehen, ging in die Lobby, suchte die Telefonnummer des Museums heraus, gab sie in ihr Handy ein und ließ sich mit dem Archiv verbinden.

Moody ging selbst dran. »Archiv.« Er klang besorgt, geistesabwesend und als wäre er verärgert, dass man ihn bei irgendeiner nervtötenden Archivarbeit störte.

»Mr Moody? Hier ist Alix London. Wir haben gestern kurz in der Blue Coyote Gallery miteinander geredet.«

Sie machte eine Pause, damit er sagen konnte: »Ach ja, wie geht’s denn so?«, oder etwas in der Art, aber er blieb stumm. Sie konnte das Kratzen eines Stifts hören. Er arbeitete offensichtlich beim Telefonieren weiter.

»Ich bin Kunstberaterin«, sagte sie (zum ersten Mal in ihrem Leben und wahrscheinlich auch zum letzten), »und ich würde heute gern ins Archiv kommen, wenn das geht. Ich arbeite für Ms LeMay, die Sie gestern Abend auch kennengelernt haben. Sie wollte das O’Keeffe-Bild von Liz Coane kaufen. Ich dachte, ich frage besser erst mal telefonisch nach, ob …Mr Moody, sind Sie noch dran?«

»Ich bin noch dran, ja«, sagte er. Sie konnte sein genervtes Stöhnen und das Klappern seines hingeworfenen Stifts hören. »Ms London, was genau kann ich für Sie tun?«

Alix musste ihren eigenen Ärger hinunterschlucken. Sie war schon öfter Leuten wie dem reizbaren Mr Moody begegnet, Museumsarchivaren und Kunstbibliothekaren, die die ihrer Obhut anvertrauten Objekte als ihr persönliches Eigentum betrachteten und richtig ärgerlich wurden, wenn Fachleute (für die diese Sammlungen doch eigentlich bestimmt waren) doch tatsächlich die Stirn hatten, sie bei ihren banalen, aber penibel ausgeführten kleinen Routinearbeiten zu unterbrechen, und darum baten, das Archiv nutzen zu können.

Manche Leute …, dachte sie. »Ich interessiere mich für alles«, sagte sie möglichst freundlich, »was mit der Galería Xanadu in Albuquerque zu tun hat …«

»Ich kenne mich mit den Galerien in Albuquerque bestens aus und da gibt’s keine Galería Xanadu.«

»Vielleicht nicht mehr …«

»Ganz sicher nicht mehr, falls es sie je gegeben hat.«

»… aber ich habe gehofft, das Archiv würde so weit zurückreichen, dass die Galerie noch zu finden ist.«

»Das Archiv geht zurück bis ins Jahr 1932.« Dann machte er eine Pause. »Ich allerdings nicht.«

Versuchte er etwa, witzig zu sein? Sie kicherte zaghaft.

Das schien ihn tatsächlich ein wenig sanfter zu stimmen. »Also gut, ich überprüfe die Indexdateien«, sagte er etwas freundlicher. »Galería Xanadu? Wie im Spanischen?«

»Ich weiß nicht, wie man auf Spanisch Xanadu schreibt«, sagte sie, denn sie dachte, ein kleiner Scherz ihrerseits könnte die Sache noch erleichtern, und tatsächlich vernahm sie einen sprödes Geräusch, vielleicht seine Art zu kichern. Oder auch nicht. »Ja«, fügte sie eilig hinzu, »Galería mit ›a‹ am Ende.«

Eine Minute Schweigen und dann: »Wir haben tatsächlich Material von dieser Galerie.« Er schien überrascht. »Anscheinend wurde sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren betrieben. Wir haben vier … fünf … sechs Kataloge.«

»Großartig!«, rief sie ganz aufgeregt. »Kann ich heute Morgen noch vorbeikommen und sie mir ansehen? So gegen elf?«

»Viertel nach elf passt besser. Dann dürfte ich Zeit haben.«

»Also viertel nach. Vielen Dank. Bis gleich.«

»In Ordnung. Ich lege die Kataloge für Sie raus. Ms London, habe ich richtig verstanden? Sie waren mit Elizabeth befreundet? Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen? Was für eine furchtbare Geschichte.«

»Nein, wir waren nicht befreundet. Ich habe sie erst gestern kennengelernt.«

»Ach so. Na ja, trotzdem herzliches Beileid.«