KAPITEL 2

Das Seattle Art Museum oder SAM, wie die Einheimischen es nannten, war einer von Alix’ Lieblingsorten. Da sie keine Stifterin war, war sie auch noch nie bei einem Stifterempfang gewesen, aber sie war Mitglied (sie hatte die billigste Mitgliedschaftsart gewählt), und da das Museum nur einen kurzen Fußweg von der Wohnung entfernt lag, ging sie mehrmals wöchentlich hin, entweder um die Bibliothek zu benutzen oder um glücklich und zufrieden die Sammlungen zu durchstreifen. Nur das große Atrium hätte sie niemals freiwillig betreten, aber leider ließ es sich nicht vermeiden. Sie musste da durch, um die Ausstellungsräume zu erreichen, raste aber immer in Lichtgeschwindigkeit durch, ohne nach links und rechts zu schauen und vor allem nicht nach oben.

Denn wenn man durchs Atrium ging, musste man unter der zweifellos spektakulärsten Installation des Museums durchlaufen. Sie hieß Inopportune: Stage One, und obwohl sie nicht ganz verstand, was das bedeuten sollte, fand sie den Titel doch äußerst passend. Inopportune: Stage One bestand aus neun Ford Taurus, die kaskadenförmig taumelnd mit beängstigend dünnen Stahlstangen an der Decke befestigt waren, die ihrer Ansicht nach für diesen Zweck vollkommen ungeeignet waren. Die Autos stiegen im Brotman Forum an einem Ende des Atriums in die Höhe und kamen in der Südhalle am anderen Ende wieder herunter. Man hatte den Eindruck, die Autos würden hüpfen, rotieren oder abstürzen, und jedes versprühte farbige Lichter, sodass es aussah, als würden sie explodieren. Sie hatte auch gelesen, dass sie neun einzelne Filmbilder eines einzigen explodierenden Autos darstellen sollten. Außerdem habe der chinesische Künstler Cai Guo-Qiang dabei an Autobomben und Terrorismus gedacht und daran, wie wir alle trotzdem ganz gelassen unseren Alltagsgeschäften nachgehen.

Es war aber nicht das Thema, das sie davon abhielt, sich lange im Atrium aufzuhalten. Moderne Kunst war ziemlich eklektisch und auch wenn nicht alles nach ihrem Geschmack war, so akzeptierte sie es doch. Nein, es war einfach der Gedanke, länger als unbedingt nötig unter einer Traube tonnenschwerer Autos zu stehen, die drohend zwölf Meter über ihrem Kopf baumelten, noch dazu in einem Erdbebengebiet. Alix war nicht besonders ängstlich, aber beim Gedanken an Erdbeben wurde ihr schon ein bisschen mulmig. Sie stammte aus dem Staat New York und außer vereinzelten Hurrikanen, die in abgeschwächter Form von Süden heraufzogen, gab es nur die winterlichen Nor’easters, Stürme, die aus Neuengland herüberbliesen. Aber im Unterschied zu Erdbeben waren diese Stürme, solange man schön zu Hause blieb, nicht lebensgefährlich.

Aber nun stand sie vor einem Dilemma. Einerseits war da das mulmige Gefühl wegen der Autos, andererseits war das Büfett genau darunter aufgebaut. Außerdem sah das Essen fantastisch aus. Und sie hatte plötzlich einen Riesenhunger. Ganz abgesehen davon, dass sie ihr Lebensmittelbudget für die ganze Woche schon Montag gesprengt hatte, weil sie ein bisschen deprimiert gewesen war und sich als Trost zum Mittagessen Dungeness-Krebs gegönnt hatte. Deswegen würde ihr Abendessen zu Hause nur aus Linsensuppe aus der Dose und einem Käsetoast bestehen.

Wenn sie also von den lecker aussehenden, mit Lachs gefüllten Chicoréeblättern kosten wollte oder von den mit Frischkäse gefüllten Kaiserschoten, den Terriyaki-Hähnchenspießen oder – ganz besonders verführerisch – dem brie en croûte (sie konnte den Käse schon riechen!), dann musste sie es einfach riskieren. Oder weiter Hunger schieben …

Aber dem brie en croûte konnte sie nicht widerstehen. Ach, was soll’s, man lebt ja sowieso nicht ewig, dachte sie, und wenn sonst nichts dabei herumkam, hatte sie zumindest gut gegessen. Mutig schritt sie auf das Büfett zu und begann, sich Leckereien auf den Teller zu häufen: jeweils zwei von den köstlichen Käseblätterteigtaschen, Frühlingsrollen und einer Art Spinattörtchen. Sie wollte sich gerade eine Serviette nehmen, da brüllte ihr jemand ins Ohr …

»Sie sind Alix London, habe ich mir sagen lassen.« Eine ausgestreckte Hand tauchte vor ihr auf. »Hallo, ich bin Chris LeMay.«

Alix sah sich um und sah eine kräftige, knochige Frau Ende dreißig in schwarzem Rollkragenpulli und weiter, schwarzer Hose, einen auffallend gelb-schwarz gestreiften Schal um ihren Hals drapiert. Alix hatte sie schon vorher bemerkt, wie sie überschwänglich einige Freunde oder Geschäftspartner begrüßte und einem Mann so kräftig auf den Rücken schlug, dass die Olive, die er sich gerade in den Mund gesteckt hatte, wieder herausgeflogen kam. Sie war Alix nicht nur wegen ihrer lebhaften Art aufgefallen, sondern auch, weil sie die größte Frau im Saal war: an die eins fünfundachtzig, und das in flachen Schuhen. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass es sich bei dieser heiteren und imposanten Erscheinung um die Christine LeMay handeln könnte, nach der sie Ausschau hielt, denn an der Ostküste sahen Kunstsammlerinnen einfach anders aus. Die hungerten sich auf eine erschreckend kleine (manche würden sagen, schicke) Konfektionsgröße zweiunddreißig runter. Von der Sorte hätte man in Chris’ Outfit, Größe sechsundvierzig, mindestens zwei unterbringen können.

Mit ihren eins dreiundsiebzig und den acht Zentimeter hohen Absätzen war Alix nicht gewohnt, zu anderen Frauen aufzuschauen, aber sofern sie nicht auf einen Tisch kletterte, blieb ihr bei Chris nichts anderes übrig.

Sie stellte ihren Teller ab, nahm die ausgestreckte Hand und machte sich auf einen schmerzhaften Händedruck gefasst, aber Chris schonte sie. »Ich freue mich so, Sie kennenzulernen, Chris. Und danke, dass Sie mir eine Einladung besorgt haben.«

Chris winkte ab.

»Hmm, was ist das? Egal, es sieht auf jeden Fall köstlich aus.« Ihre Stimme hatte etwas ungewöhnlich Kehliges, Heiseres an sich – böse Zungen hätten behauptet, sie krächzte –, aber sie klang trotzdem angenehm, so als würde Chris ein Lachen unterdrücken und nur auf eine Gelegenheit warten loszuprusten. »Ich besorge mir einen Teller, lade ihn voll und dann gehen wir irgendwohin, um uns zu unterhalten …« Chris sah hoch zu den aufgehängten Autos. »… Bevor das nächste Erdbeben kommt.«

Alix musste grinsen. Die Frau gefiel ihr jetzt schon. »Ich bin so froh, dass Sie das sagen. Ich dachte, ich wäre die Einzige. Ich bin aus New York. Mit dem Gedanken an Erdbeben habe ich mich noch nicht anfreunden können.«

»Ich möchte den kennenlernen, der sich damit anfreunden kann«, sagte Chris, während sie Appetithäppchen auf ihren Teller stapelte. »Sehen Sie mal, ist das Champagner?« Sie hatte einen Kellner erspäht, der sich seitwärts durch Menschentrauben hindurchschlängelte und dabei sein Tablett mit Sektkelchen hoch in der Luft hielt. Mit Alex im Schlepptau steuerte Chris geradewegs auf ihn zu und nahm sich zwei Gläser. »Setzen wir uns da vorne hin«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe kleiner Tische an einer Wand. »Ich glaube, da fallen uns keine Autos auf den Kopf.«

Sie bahnten sich ihren Weg durch die lärmende, immer noch anwachsende Masse größtenteils gut gekleideter Leute, von denen viele Chris offenbar kannten und sie grüßten. Aber der letzte freie Tisch wurde ihnen vor der Nase weggeschnappt.

»Na ja, sieht so aus, als müssten wir die Teller in der Hand halten«, sagte Chris. »Tja, das Leben spielt einem manchmal übel mit, nicht wahr?« Sie fanden eine Marmorfensterbank, die ihnen als Tisch diente, und Chris spießte mit einem Zahnstocher ein Törtchen auf, steckte es in den Mund, verdrehte genussvoll die Augen, nahm einen Schluck Champagner und sah Alix unverwandt an. »Sie sind Geoffrey Londons Tochter, stimmt’s?«

Alix’ Kehle wurde plötzlich staubtrocken. Das war praktisch das Erste, was diese Frau sagte, und worum ging’s? Worum schon? Um ihren Vater. Würde er ewig ein Mühlstein um ihren Hals sein, wohin sie auch ging, wie weit sie Manhattan auch hinter sich ließ? Im Google-Zeitalter, wo Informationen immer und überall verfügbar waren, lautete die Antwort wohl ja.

»Ja, stimmt«, antwortete sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie merkte, wie sie automatisch ihre Lippen zusammenpresste und sich ihre Kiefermuskeln verkrampften.

Ihre Gefühle zu verbergen, war nicht gerade ihre Stärke, und Chris war von der plötzlichen Stimmungsänderung verdutzt. »He, habe ich was Falsches gesagt? Ich wollte nur … Ich wollte nur sagen … Also, ich bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Geschick und ich bin wohl mal wieder ins Fettnäpfchen getreten. Puh …« Sie machte eine Atempause. »Okay, noch mal von vorn. Ich wollte nur sagen, Sie sind zwar irgendwie vorbelastet, aber lassen Sie sich davon nicht aufhalten. Sie sind jetzt im Wilden Westen, Schätzchen, in Seattle, und hier läuft’s anders als im Osten. Familiennamen, Familiengeschichte … so was zählt hier nicht viel. Hier zählen vor allem Ihre Fähigkeiten, nicht wer Ihr Vater ist.« Sie lachte. »Das ist auch gut so, denn bei meiner verkorksten Familie würde ich hier sonst mit einem Tablett auf der Schulter rumlaufen.«

Alix spürte, wie sie rot wurde. »Danke, Chris. Es tut mir leid, es war einfach ein Missverständnis. Ich … Ich glaube, ich bin ein bisschen …«

»Sehen Sie mal«, sagte Chris, »ganz hinten in der Ecke ist ein freier Tisch. Schnappen wir uns den, bevor jemand anderes kommt. Sie gehen direkt zum Tisch und ich halte Ihnen den Rücken frei.«

Andere hatten den gleichen Gedanken, kamen aber nicht an Chris’ stattlicher Figur vorbei, und so erreichten die beiden als Erste den Tisch. »Cheers«, sagte Chris und hob ihr Glas, als sie es sich bequem machten.

»Cheers«, erwiderte Alix und stieß mit ihr an. Aber nach einem Höflichkeitsschluck stellte sie ihr Glas ab. »Hören Sie, Chris, es tut mir wirklich leid, dass ich so …«

Chris winkte ab. »Ach, kommen Sie, Sie müssen sich nicht entschuldigen.«

»Danke, aber … es ist schon seltsam.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist fast neun Jahre her, seit Geoff mein Leben ruiniert hat – und sein eigenes – und seitdem habe ich es ganz allein ziemlich weit gebracht und eigentlich müsste ich doch mittlerweile drüber hinweg sein. Man hat mir geraten, meinen Namen zu ändern, aber das will ich einfach nicht, verstehen Sie? Ich hänge dran.«

»Natürlich. Und außerdem hätte es Ihnen wahrscheinlich auf die Dauer auch nichts genutzt, jedenfalls nicht, wenn Sie weiter in dieser Branche arbeiten. Wir leben in einer neuen Zeit, Schätzchen, und früher oder später würde es über irgendwelche Links oder Suchmaschinen oder so was doch rauskommen. Außerdem«, sagte sie mit einem kurzen Anflug von Wärme, »haben Sie sich ja nichts zuschulden kommen lassen, sondern er.«

Sie machte eine Redepause, um geziert eine Kaiserschote mit Frischkäse zu naschen und sich dann ziemlich ungeziert Käse von den Fingerspitzen zu lecken. »Wissen Sie, um ehrlich zu sein, beneide ich Sie sogar ein bisschen um Ihren Vater. Der ist wenigstens interessant. Mein Vater war Bauunternehmer.« Dann schüttelte sie ungehalten ihren Kopf. »Ach, so ein Quatsch. Warum mache ich das nur immer? Mein Vater war Stuckateur, mehr nicht, und nicht mal ein besonders guter, jedenfalls nicht, wenn er einen im Karren hatte, was meistens der Fall war.« Sie verdrehte wieder die Augen, aber diesmal nicht vor Genuss. »Sehen Sie, Sie sind nicht die Einzige mit einem peinlichen Vater.«

Alix lächelte. »Na ja, Geoff ist sicher interessant. Das lässt sich nicht abstreiten.«

»Glauben Sie mir, ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für Sie war. Es wurde ja überall darüber berichtet. Da hätte man schon auf dem Mars wohnen müssen, um nicht von der Sache zu hören. Ich meine: ›Prominenter Experte des Metropolitan Museum angeklagt …‹« Sie verzog das Gesicht. »Ups, schon wieder. Sehen Sie, was ich meine? Mpfh …« Sie machte eine Geste, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluss verschließen.

»Nein, ist schon in Ordnung, ehrlich«, sagte Alix lachend. »Aber meinetwegen können wir gern das Thema wechseln. Wie haben Sie mich gefunden? Über meine Anzeige im Gallery Directory?«

»Äh-äh. Einer meiner Gäste – ich habe ein kleines Weinlokal – ist Christopher Norgren …« Chris ging wohl davon aus, dass ihr der Name etwas sagte. Alix schüttelte nur den Kopf.

»Der ist hier im Museum für Barock und Renaissance zuständig.«

Sie schüttelte wieder mit dem Kopf. »Den kenne ich nicht.«

»Na, der kennt Sie aber oder er weiß zumindest, wer Sie sind. Er hat gesagt, Sie seien hervorragend und hätten jahrelang bei Fabrizio Santullo in Rom studiert. Sogar ich weiß, dass es keinen besseren als Santullo gibt. Und als ich ihn angerufen habe, hat er Sie wärmstens empfohlen.«

»Sie haben tatsächlich mit Fabrizio gesprochen?«

»Oh ja, gut zehn Minuten. Er hat Sie über den grünen Klee gelobt. Ihre natürliche Begabung, Ihre Kenntnis der Techniken und Materialien, Ihr Verständnis für Stilrichtungen und Malweisen … außergewöhnlich.«

»Hat er das wirklich gesagt?«, fragte Alix angenehm berührt. »Er war ein sehr anspruchsvoller Lehrmeister. Er hat mich nicht gerade mit Lob überschüttet.«

»Ach, das ist doch ein ganz Lieber. Er hat übrigens geradezu ehrfürchtig erwähnt, dass Sie den absoluten Kennerblick hätten. Dass Sie einen besseren Blick für Kunst hätten als sonst jemand, den er kennt. Und wenn Fabrizio Santullo so etwas sagt, muss ich Sie natürlich engagieren.«

»Ach, Kennerblick ist nur so ein Ausdruck, der besagen soll …«

»Schon gut, erklären Sie’s mir ein andermal. Wie wär’s, wenn wir direkt zur Sache kommen? Erst mal … Ich freue mich sehr, dass Sie für mich arbeiten werden, Alix.«

Werde ich das?, dachte Alix. Heißt das, ich bin engagiert? Sie hoffte nur, dass ihr ihre Aufregung nicht anzumerken war, jedenfalls nicht so deutlich wie ihre Verärgerung, als ihr Vater erwähnt wurde.

»Ich würde gern so schnell wie möglich loslegen«, fuhr Chris fort. »Falls es nicht zu viel verlangt ist, könnten Sie sich in Ihrem Terminkalender dieses Wochenende freihalten? Dann könnten wir nach Santa Fe fahren. Wenn das nicht möglich ist, könnten wir vielleicht …«

Alix hätte beinah losgelacht. Was für ein Terminkalender? Da gab’s natürlich die Restaurierungsarbeiten für Katryn, aber es wäre eigentlich ganz gut, mal ein Wochenende zu pausieren. Trotzdem tat sie so, als ginge sie im Geiste ihre Termine durch, während sie innerlich den Gedanken genoss, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie hatte einen Job. Sie war auf dem Weg nach oben. »Nein, ich glaube, das geht in Ordnung«, sagte sie, als hätte sie es abwägen müssen. »Dieses Wochenende passt.«

»Und wie hoch ist Ihr Honorar?«

»Mein Honorar …«, sagte Alix und räusperte sich. »Also mein Honorar … Das hängt natürlich von, ähm …«

Chris rettete sie. »Das Ganze würde so zwei bis drei Tage in Anspruch nehmen. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, deshalb dachte ich … Also, wären Sie mit tausend Dollar pro Tag einverstanden? Zuzüglich Spesen, versteht sich.«

Alix hatte schon allen Mut zusammennehmen und fünfhundert Dollar am Tag verlangen wollen, was für diese Art Job ziemlich wenig gewesen wäre, aber sie war nun einmal keine erfahrene Expertin mit einer ellenlangen Liste von Referenzen. »Ach nein, das wäre etwas übertrieben, Chris. Ich bin doch nur eine Anfängerin. Fünfhundert wären völlig ausreichend.«

»Nein, ich habe tausend dafür veranschlagt und deshalb zahle ich auch tausend.«

»Nun gut, sagen wir siebenhundertfünfzig. Das ist mehr als genug.«

»Auf gar keinen Fall. Achthundertfünfzig, keinen Cent weniger. Schließlich …«

Beide brachen gleichzeitig in prustendes Gelächter aus. »Ich glaube, gute Verhandlungstechnik sieht anders aus«, sagte Alix.

»Ach, was soll’s? Verhandlungen hin oder her. Tausend am Tag und damit basta!«

Alix gab sich mit einem Lächeln geschlagen. »Na gut, ich akzeptiere.«

Chris beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Nun, da das geklärt ist, erzähle ich Ihnen, worum’s geht. Meine Freundin Liz Coane hat eine Galerie in Santa Fe. Bis vor fünf Jahren konnte ich einen Picasso nicht von einer Pizza unterscheiden, aber Liz hat sich schon immer für Kunst interessiert. Also, wir haben bei demselben Technologieunternehmen gearbeitet, Sytex, und sie hat immer davon geredet, dass sie, wenn sie genug Geld zusammenkriegt, eine Galerie in Santa Fe oder Taos oder so eröffnen und eine ganz große Nummer in der Kunstszene da unten werden wollte. Sie wollte sich auch ein paar jugendliche Liebhaber kaufen, die ihr das Alter versüßen sollten. Oder eher mieten, nehme ich an«, sagte sie und lachte ihr seltsames Lachen, das wie der Schrei einer Wildgans klang.

»Und hat sie es getan?«

»Und ob. Als Sytex an die Börse ging und unsere Optionen fällig wurden, haben wir eine Menge Geld gemacht. Und ich meine wirklich eine Menge. Und drei Monate später hat Liz die Galerie Blue Coyote eröffnet, direkt auf der Canyon Road, wo alle angesagten Galerien von Santa Fe sind, wie Sie sicher wissen.«

»Ja, ich weiß. Ich freue mich schon darauf, das alles mit eigenen Augen zu sehen.«

»Und sie ist wirklich eine ganz große Nummer«, sagte Chris ein bisschen erstaunt. »Sie ist die treibende Kraft hinter der Konferenz über neue Richtungen in der Kunst, die jedes Jahr in Taos stattfindet. Da kommen Künstler und Händler von überallher. Äußerst renommiert.«

»Sehr eindrucksvoll. Und wie steht’s mit den jugendlichen Liebhabern?«

»Oh ja, daran arbeitet sie auch sehr hart. Immer wenn ich sie sehe, hat sie einen neuen jungen ›Künstler‹ im Schlepptau. Und immer der gleiche Typ. Eine Art Möchtegern-James-Dean, mysteriös, launisch, ernst, ein bisschen gefährlich …«

»Nicht mein Typ«, sagte Alix, obwohl sie noch nicht herausgefunden hatte, was eigentlich ihr Typ war.

»Meiner auch nicht!«, sagte Chris entschieden. »Ich mag lieber erwachsene Männer. Am liebsten welche mit Manieren. Einige von den schrägen Vögeln, mit denen Liz rumhängt … Aber was soll’s? Leben und leben lassen. Was verstehe ich schon von Männern?«

Sie schien sich wirklich kurz schmunzelnd mit dieser Frage auseinanderzusetzen, gab dann aber mit einem Schulterzucken auf und fuhr fort: »Egal, vor ein paar Jahren, als ich plötzlich diesen Haufen Geld hatte, aber nichts Rechtes mit meinem Leben anzufangen wusste, da habe ich ein kleines Weinlokal in Belltown eröffnet. Es sollte ein dezent eleganter Laden für Kunstinteressierte sein. Gesetztes Publikum, verstehen Sie? Mit richtiger Musik. Und nicht so laut, dass man schreien muss, wenn man sich unterhalten will … wo man sich gepflegt bei einem guten Glas Wein unterhalten kann. Das Lokal heißt Sangiovese. So heißt eine …«

»… rote Rebsorte aus der Toskana«, sagte Alix und bedauerte es sofort. Sie wusste nicht einmal, warum sie es gesagt hatte. Wahrscheinlich, um Chris zu zeigen, dass sie sich auskannte, aber es hatte sich sogar für sie selbst angeberisch und schlaumeierisch angehört.

Falls Chris sich daran störte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Natürlich, stimmt. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie lange Zeit in Italien zugebracht haben. Haben Sie schon mal von meinem Lokal gehört?«

»Ich glaube ja«, sagte Alix. »Stand nicht vor einiger Zeit was darüber im Weekly? Junge Künstler sollen ja über Leichen gehen, um bei Ihnen ausstellen zu dürfen.«

»Na ja, ich habe wechselnde Ausstellungen, stimmt, und ich bemühe mich, interessante Sachen zu zeigen, und die Künstler waren bis jetzt auch ganz zufrieden mit den Verkäufen. Den Gästen gefällt es anscheinend auch.«

»Ich wohne in Belltown, gar nicht weit von Ihrem Lokal, und ich wollte immer mal reinschauen, aber …« Aber bei den Preisen, die dort angeblich verlangt wurden, hätte sie für ein Glas Wein und ein bisschen Fingerfood so viel wie sonst für zwei Abendessen hingeblättert. »Na, Sie wissen ja, wie das ist«, war ihre lahme Ausrede.

»Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mal vorbeikämen, Alix. Glauben Sie mir, ich mache mir nichts vor. Ich habe keine Ahnung von Kunst und ich freue mich schon darauf, etwas von Ihnen zu lernen.«

»Sie haben sicher mehr Ahnung, als Sie glauben. Sonst wären Ihre Ausstellungen nicht so erfolgreich.«

»Na, bis jetzt habe ich Glück gehabt«, sagte Chris, »aber ich kenne mich gut genug aus, dass ich diesen Cody Mack Burley – nennen wir ihn mal Liz’ neusten Schützling – nicht bei mir ausstellen will. Sie hatte mich dazu überredet. Ich hatte nur drei Fotos von seinen Bildern gesehen, die sie mir per E-Mail geschickt hatte, und die sahen auch ganz interessant aus. Also habe ich zugesagt, schließlich ist sie eine alte Freundin. Dann hat der arme Kerl sich wohl einen Wolf gemalt und fünfzehn Bilder produziert. Die hat Liz mir geschickt. Aber die waren ganz anders als die in der E-Mail. Sie gefielen mir einfach nicht. Überhaupt nicht«, fügte sie noch betonend hinzu.

»Nicht gut gemalt?«, fragte Alix.

»Na ja, das kann ich nicht so genau beurteilen, aber sie waren, na ja, grässlich. Absichtlich grässlich, wissen Sie? Seltsam verrenkte Frauen, irgendwie von innen nach außen gestülpt, sodass man ihre Eingeweide sehen konnte.« Sie schauderte. »Arrgh.«

»Sie haben sie also nicht ausgestellt?«

»Nein, ich habe sie sofort wieder eingepackt – mir nicht mal alle angesehen – und sie am selben Tag noch zurückgeschickt. Ich wollte die Bilder nicht mal in meiner Nähe haben. Liz hat nicht viel dazu gesagt. Was sollte sie schon sagen? Es ging schließlich um mein Lokal. Aber ich weiß, sie war gekränkt, und ich wollte es irgendwie wiedergutmachen. Und dann fiel mir wieder ein, dass Blue Coyote ab und zu Bilder von Georgia O’Keeffe anbietet, und eine Künstlerin wie die könnte ich mir als Einstieg für meine Sammlung vorstellen; meine Privatsammlung meine ich. Also habe ich sie gebeten, sich für mich umzuschauen und mir Bescheid zu sagen, falls etwas angeboten wird, das mir gefallen könnte. Und letzte Woche hat sie mich angerufen und gesagt, sie hätte eins, und hat mir ein paar nette Fotos geschickt. Ob ich interessiert wäre.«

»Klar waren Sie interessiert«, sagte Alix.

»Ja, sicher.« Sie wirkte einen Moment lang verunsichert. »Ähm … oder war das falsch?«

»Nein, überhaupt nicht. Ihre Freundin Liz mag bei diesem Cody Mack vielleicht falsch liegen«, sagte sie, »aber was Georgia O’Keeffe angeht, hat sie eine gute Nase bewiesen. Wenn Sie an amerikanischer Moderne interessiert sind, dann wäre so ziemlich jedes Bild von ihr eine fantastische Ergänzung für Ihre Sammlung … für jede Sammlung. Einen besseren Einstieg gibt es kaum.«

»Wirklich?« Chris’ Gesicht hellte sich auf und ihr Stirnrunzeln verschwand. »Sehen Sie? Ich bin jetzt schon froh, dass ich Sie engagiert habe.«

»Wissen Sie, woher sie dieses Bild hat? Wer es verkaufen will?«

»Nein, Liz kann es mir nicht sagen. Es ist wohl ein Erbstück, schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie, aber jetzt haben sie Geldprobleme. Sie wollen aber nicht, dass es publik wird.«

Bei Alix klingelten die Alarmglocken. Das war eine Variante der alten Geschichte, die betrügerische Kunsthändler schon seit Jahrhunderten auftischten: Das Bild ist schon seit vielen Jahren im Besitz einer alten italienischen Familie aus einem berühmten Adelsgeschlecht. Leider macht die Familie schwere Zeiten durch und muss sich schweren Herzens von dem Bild trennen. Ihr Name muss allerdings geheim bleiben. Weil es so peinlich ist, verstehen Sie …

Chris bemerkte Alix’ veränderten Gesichtsausdruck und runzelte wieder die Stirn. »Ist das ein Problem?«

»Nicht unbedingt«, sagte Alix halbwegs ehrlich. Sie wollte Chris nicht jetzt schon Angst machen, aber ihr gefiel die Sache nicht. Georgia O’Keeffes Werk hatte viele Fälscher inspiriert. Je mehr Informationen es über dieses Bild gab, die sich auch einigermaßen gut belegen ließen, desto zufriedener würde Alix sein. Anderseits war es nicht unbedingt problematisch, dass der Name des Besitzers geheim gehalten wurde. Das kam relativ häufig vor, besonders bei Auktionen. Aber man musste es im Hinterkopf behalten, vor allem für den Fall, dass noch weitere Zweifel aufkamen. »Wie viel will sie dafür haben?«, fragte sie.

»Zwei Komma neun Millionen. Ich …« Chris unterbrach sich mit einem Schnauben, was bei ihr wohl als Kichern durchging. »Ich kann es kaum glauben. Haben Sie gemerkt, wie beiläufig ich diese Zahl erwähnt habe?« Sie spielte ein geziertes Gähnen und klopfte sich mit den Fingerspitzen auf den Mund. »Mal eben so zwei Komma neun Millionen hinlegen, wen kratzt das schon?«

»Das ist sehr viel Geld«, sagte Alix.

»Wem sagen Sie das? Ich kann mich einfach nicht dran gewöhnen, so viel Zaster zu haben.«

»Nun, jeder hat seine Probleme. Sie schaffen das schon.«

Chris grinste. »Ja, sicher. Auf jeden Fall habe ich mit der Kuratorin für moderne Kunst hier am Museum geredet. Die hat sich die Fotos angesehen und meint, auf den ersten Blick sei der Preis angemessen, sogar eher ziemlich niedrig. Also habe ich gezahlt.«

»Was, Sie haben das Bild schon gekauft? Wozu brauchen Sie mich …«

»Na ja, ich habe nicht alles bezahlt, aber ich habe es gekauft. Ich habe eine ziemlich hohe Anzahlung gemacht. Aber der Kaufvertrag hat eine Rücktrittsklausel. Ich habe zehn Tage Zeit, um mir das Bild in Santa Fe anzusehen. Wenn ich es dann nicht mehr will, wird der Verkauf rückgängig gemacht.«

»Und wann sind die zehn Tage um?«

»Nächsten Mittwoch. Deshalb will ich auch so schnell wie möglich hin. Na ja, als ich die Anzahlung hingeblättert hatte, dachte ich auf einmal: Was verstehe ich eigentlich davon? Ich brauche jemanden, der Ahnung hat, einen Experten. Und das ist Ihr Part.«

»Weiß Ihre Freundin Liz etwa nicht, dass ich komme?«

»Nein, natürlich nicht. Bis heute wusste ich es ja selbst nicht. Aber ich rufe sie vor dem Wochenende noch an. Keine Angst, ich warne sie vor.« Schon wieder dieser unsichere Gesichtsausdruck. »Habe ich was falsch gemacht? Ist der Preis zu hoch? Verdammt, ich wusste doch, dass ich Sie zuerst hätte fragen sollen, aber ich kannte Sie ja noch gar nicht und ich war so aufgeregt. Ich hatte Angst, jemand anderes würde mehr bieten und … Habe ich Mist gebaut?«

»Also der Preis klingt für ein O’Keeffe-Bild ganz gut, aber dazu müsste man es erst mal in echt sehen. Da Liz eine alte Freundin von Ihnen ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie Sie übers Ohr haut.«

»Ich habe die Fotos dabei«, sagte Chris und griff nach ihrer Handtasche, aber Alix stoppte sie.

»Nein, ich will sie nicht sehen.«

»Ach, nein?« Chris hatte die Hand noch in der Tasche.

»Nein, ich will nicht mit einer vorgefassten Meinung da rangehen. Ich warte lieber, bis ich das Bild selbst sehe.« Sie lächelte. »Das hat was mit dem besagten ›Kennerblick‹ zu tun.«

»Ganz wie Sie meinen. Sie sehen ja selbst, dass ich keine Ahnung habe, und außerdem macht mich die Sache ein bisschen nervös.«

Alix wollte gerade beruhigend auf sie einreden, aber Chris’ Laune besserte sich ganz von selbst. »Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht«, sagte sie und machte die Tasche wieder zu, »aber ich könnte noch so einen Hähnchenspieß vertragen, vielleicht auch zwei. Das wird ja ein richtiges Gelage, aber das ist bei mir immer so. Ich habe überhaupt keine Selbstdisziplin. Anschließend gehen wir mal zu Tony Whitehead da drüben, dem Museumsdirektor, um Hallo zu sagen. Und dann will ich Sie noch ein paar anderen unbedarften Sammlern vorstellen. Die würden Sie bestimmt gern kennenlernen. Und umgekehrt. Einverstanden?«

»Einverstanden wäre die Untertreibung des Jahres«, sagte Alix grinsend. »Ich würde mich riesig freuen, Chris.«

Alix folgte Chris durch die Menge und konnte nicht aufhören zu grinsen. Sie fühlte sich richtig euphorisch. Ihr Glück hatte sich endlich gewendet.

Das Leben war schön.

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Als sie in die Wohnung zurückkam, hatte sie schon wieder Hunger, und nachdem sie in ihren weiten, bequemen Jogginganzug geschlüpft war, in dem sie in letzter Zeit schlief, trottete sie in die Küche, öffnete eine Dose Linsensuppe, goss etwas in einen Becher und stellte ihn in die Mikrowelle. Während die Suppe heiß wurde, sah sie auf dem Anrufbeantworter im Wohnzimmer nach, und als es nicht blinkte, fühlte sie eine düstere Stimmung in sich aufkommen. Verwirrt, die Hand auf dem Telefon, runzelte sie die Stirn. Warum dieser Stimmungsumschwung? Von wem erwartete sie einen Anruf? Kannte sie denn jemanden außer Chris, über dessen Anruf sie sich gefreut hätte? Kannte sie überhaupt jemanden?

Ihre Euphorieblase war geplatzt und sie ging zurück in die Küche, um langsam ihre Suppe zu schlürfen. Was war ihr Problem? Einsamkeit? Durchaus möglich. Irgendwann, es war eine Ewigkeit her (neun Jahre, um genau zu sein, kurz nach Geoffs Verurteilung), da war sie mal kurz verheiratet gewesen. Eine absolute Katastrophe. Und dazu noch die Blamage durch ihren Vater. Am Ende war sie ziemlich fertig gewesen. Sie hatte sich monatelang verkrochen, sich ach so leidgetan und war anderen Menschen aus dem Weg gegangen, sogar ihren Freunden. Dann in ihrem ersten Jahr in Italien machte ihr die Sprachbarriere zu schaffen, bis sie schließlich fließend Italienisch sprechen konnte. Aber im Laufe der Zeit war sie ungewollt zur Einzelgängerin geworden. Und das mit neunundzwanzig.

Sie war jetzt schon fast acht Monate in Seattle. Wann hatte sie zum letzten Mal ein Date gehabt oder zumindest so was in der Art? Wann hatte sie zuletzt in einem Weinlokal wie dem von Chris mit einer Freundin bei einem Glas zusammengesessen und gequatscht? Wie viele echte Freunde hatte sie? Antworten: a) vor zwei Monaten; b) noch nie; c) keinen einzigen.

Niedergeschlagen, regelrecht melancholisch ging sie um zehn ins Bett. Wie seltsam, wie irrational Stimmungen doch sein konnten.

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Ausnahmsweise hatte sie einmal daran gedacht, vorm Zubettgehen den Timer der Kaffeemaschine zu stellen, deshalb wurde sie von verführerischem Duft geweckt, erholt und guter Laune. Draußen war es so neblig, dass sie das andere Ufer des Puget Sound nicht mehr ausmachen konnte, aber wen kratzte das schon? Es war ein neuer Tag und es gab viel zu tun. Ihre miese Stimmung vom Vorabend war nur auf den unvermeidlichen Adrenalinabfall nach den aufregenden Erlebnissen des Tages zurückzuführen gewesen, das war ihr jetzt klar.

Sie holte sich eine Tasse Kaffee und ging zurück ins Bett. Während sie mit einem Kissen im Rücken dasaß und das aromatische, schwarze Gebräu genoss, dachte sie zufrieden an die Ereignisse des Vorabends zurück und malte sich aus, was noch auf sie zukommen würde. Sie würde den Morgen in der Museumsbibliothek verbringen und sich eingehend mit Georgia O’Keeffe und der aktuellen Kunstszene von Santa Fe beschäftigen. Dann würde sie, um Zeit zu sparen, in der Museumscafeteria zu Mittag essen und zurück in die Bibliothek gehen …

Sie hielt schon das Telefon in der Hand, bevor sie sich überhaupt bewusst wurde, dass es geklingelt hatte. »Hallo?«

Die fröhlich glucksende Stimme rief schallend in ihr Ohr: »Guten Morgen, Schatz …«

Sie verzog das Gesicht. Ihr Vater. Wann würde sie endlich mal dran denken, die Anruferkennung zu aktivieren?

»Hallo Geoff«, murmelte sie und fiel zurück in ihr Kissen.

»Mein Liebes, ich wollte nur fragen, wie es gestern mit deiner O’Keeffe-Sammlerin gelaufen ist.«

»Ganz gut.« Sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg und sich ihre Nackenmuskeln verspannten. Wie gelang es ihm nur immer, im richtigen Moment anzurufen – oder im falschen – und ihr die Laune zu vermiesen?

»Hast du den Job gekriegt?«

»Ja.«

»Und es geht um O’Keeffe?«

»Ja. Hör mal, Geoff, ich muss …«

»Ich habe Tiny davon erzählt, Liebes, und er hat ein paar warnende Worte für dich. Er steht direkt neben mir. Tiny …«

»Nein, ich möchte jetzt lieber nicht mit ihm reden.«

Eine kurze Pause. »Kein Problem. Wenn du nicht willst.«

Sie hörte Tinys träge, gekränkte Stimme im Hintergrund. »Sie will nicht mit mir reden?«

Es zerriss ihr das Herz. Sie hatte zum ersten Mal seit über zehn Jahren »Onkel Beniaminos« Stimme gehört. Er war ein liebenswerter, dicker – um nicht zu sagen, massiver – Mann, eine Seele von Mensch, im Oberstübchen nicht allzu üppig ausgestattet, aber ein genialer Handwerker, der jeden Künstler imitieren konnte. Zu ihrem vierzehnten Geburtstag hatte er einen wunderschönen ovalen Wandspiegel für sie angefertigt, der in eine bemalte Holzplatte gefasst war, auf der Putten in Wolken herumtollten. Es sah aus wie der Hintergrund eines italienischen Renaissance-Porträts. Bei seinen Riesenpranken und Wurstfingern war das schon eine ungeheure Leistung. Bevor sie nach Italien gegangen war, um bei Santullo zu studieren, hatte sie alles verkauft, inklusive ihrer Kleidung, nur diesen Spiegel nicht.

»Nein«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich muss jetzt aufhören, Geoff.« Dann legte sie auf.

Sie kochte vor Wut. Typisch Geoff, ihr wegen Tiny ein schlechtes Gewissen zu machen. War sie Tiny irgendwas schuldig? Okay, er war nett zu ihr gewesen, als sie klein war. Das war’s aber auch. Er war ein Gauner und ein Schwindler genau wie Geoff. Der war auch ein Gauner und ein Schwindler und ein Schmarotzer obendrein. Immer wenn Tiny bei ihnen in Manhattan aufgetaucht war, gemeinsam mit den anderen »Freunden« ihres Vaters, da hatten sie sicher ausgeheckt, wie sie wieder irgendeine hilflose alte Witwe übers Ohr hauen konnten, die die Sammlung ihres Mannes geerbt hatte und vollkommen überfordert damit war.

Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, verdammt! Aber warum eigentlich sie? Warum hatte denn ihr Vater kein schlechtes Gewissen? Und überhaupt, wenn es ihn so brennend interessierte und er sich so sehr um ihr Wohlergehen sorgte, warum hatte er sich dann erst morgens nach dem Treffen erkundigt? Sie hatte ihm am Vorabend endlich etwas Persönliches anvertraut, das derzeit Wichtigste in ihrem Leben, und trotz seines angeblichen Interesses hatte er nicht mal angerufen, jedenfalls nicht vor morgens. Warum hatte er denn nicht schon abends anrufen können? Wenn sie ihm so viel bedeutete, warum hatte er keine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen …?

Moment, das ist doch lächerlich! Ich bin sauer, wenn er anruft, und wenn er nicht anruft, bin ich auch sauer? Was soll das eigentlich? Es ist fast, als ob … als ob …

Als der unliebsame Gedanke schließlich die Mauer durchbrach, mit der sie sich dagegen zu schützen versuchte, da konnte sie es einfach nicht glauben. Sie weigerte sich, es zu glauben. Aber ganz tief im Innern wusste sie, dass es stimmte.

Am Abend zuvor hatte sie sich so sehr gewünscht, eine Stimme auf dem Anrufbeantworter zu finden, die Stimme eines Menschen, der wissen wollte, wie ihr Treffen mit Chris gelaufen war … wie es ihr im Allgemeinen ging … die Stimme ihres Vaters. Aber warum sollte sie …

Da die Mauer eingerissen war, brachen plötzlich noch andere Gedanken über sie herein, unbequeme, lästige Gedanken, die lange Zeit irgendwo gelauert hatten. Was war der wahre Grund dafür gewesen, ihr Studium in Harvard aufzugeben? Hatte sie wirklich nicht weiterstudieren können, weil sie ihr Geld Geoff gegeben hatte? Hätte sie mit ihren erstklassigen Noten nicht ein Stipendium oder Darlehen beantragen können, um ihr Studium weiterzuführen? Sie wäre mittlerweile außerordentliche Professorin an einer guten Universität, hätte ein geregeltes Einkommen und Freunde. Stattdessen war sie mit fast dreißig ein Häufchen Elend, vollkommen abgebrannt, wohnte in einer fremden Eigentumswohnung und strampelte sich ab, um es in diesem harten, unsicheren Beruf zu etwas zu bringen. Falls man bei »Kunstberatung« überhaupt von Beruf reden konnte.

War das wirklich Geoffs Schuld? Hätte er das Geld überhaupt angenommen, wenn er gewusst hätte, dass es sich um Rücklagen für ihr Studium handelte? Die Antwort kannte sie natürlich. Sie hatte sie auch damals schon gekannt. Warum hätte sie sich sonst solche Mühe gegeben, es vor ihm geheim zu halten?

Es hatte so viele Scheidewege in ihrem Leben gegeben, die dorthin geführt hatten, wo sie nun war, und die absolut nichts mit Geoff zu tun hatten. Sie hatte selbst die Richtung bestimmt. Andererseits war es natürlich Geoff mit seiner Habgier und seinem Egoismus gewesen, der sie ursprünglich aus der Bahn geworfen hatte. Wenn er nicht …

Sie schüttelte den Kopf. Warum grübelte sie ausgerechnet jetzt darüber nach? Sie hatte neun lange Jahre Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen und es zu begreifen. Stattdessen hatte sie ihre Wunden geleckt und ihrem Vater die Schuld für all ihre Probleme gegeben. War sie etwa auf dem bestem Wege, einer dieser Jammerlappen zu werden, die mit vierzig oder fünfzig Jahren immer noch ihre Eltern für alles verantwortlich machten, was in ihrem Leben schieflief, weil diese sie gar nicht oder zu wenig oder zu viel geliebt hatten?

Sie schüttelte wieder den Kopf und seufzte. Eins stand fest: Es war höchste Zeit, dass sie mal mit sich selbst ins Reine kam.