KAPITEL 4

Der Tag hätte gar nicht besser anfangen können. Chris hatte Alix mit Chauffeur abgeholt und sie waren zusammen zum Flughafen gefahren, wo Chris’ schimmernder, weißer Privatjet – nun ja, ein Gulfstream G200, der ihr zu einem Sechzehntel gehörte – auf sie wartete. Aus irgendeinem Grund waren beide gut aufgelegt und in Plauderstimmung und so scherzten und lachten sie während der ganzen Fahrt. Als Alix das Flugzeug von innen sah, murmelt sie nur: »Wow.« Auf Hochglanz poliertes Mahagoni und weiches, schwarzes Leder. Als sie saßen, schlug die Stimmung aber plötzlich um. Der Pilot, Craig Soundso, kam aus dem Cockpit, um sich vorzustellen und sie zu begrüßen. Alix mochte ihn auf Anhieb. Er war groß, adrett, mit sandfarbenem Haar, einem akkurat gestutzten Schnäuzer und sanften braunen Augen. Er schien überrascht zu sein, Chris zu sehen. Er riss die Augen auf, aber strahlte sie dann sofort an. Chris’ Reaktion hätte unterschiedlicher nicht sein können. Als sie ihn sah, versteinerte ihr Gesicht.

»Oh nein«, sagte sie leise, eher zu sich selbst, aber Craig hatte sie ganz offensichtlich gehört und bemerkt, wie sie sich versteifte. Sein anfänglich schüchternes, aber freundliches Lächeln erstarrte und mit monotoner Stimme rasselte er, während er fast die ganze Zeit an die Decke starrte, Standardinformationen über Notausgänge, Schwimmwesten, Sicherheitsgurte, Toilette, Getränke und Snacks herunter.

»Was war das denn um Himmels willen?«, fragte Alix, als er ins Cockpit zurückging. »Ist er kein guter Pilot?«

»Das ist ein Blödmann«, murrte Chris. »Ein Idiot, ein Trottel, ein totaler Hohlkopf.«

»Ach so, das ist ja beruhigend«, sagte Alix. »Und ich hatte schon Angst bekommen, mit ihm zu fliegen.«

Aber der bis dahin so freundlichen, geschwätzigen Chris war die Lust auf Scherze vergangen. Sie machte schnell klar, dass sie über das Thema nicht weiter reden wollte, und war während des ganzen Flugs so gesprächig wie ein Fisch.

Und so wurde der Flug, auf den Alix sich eigentlich gefreut hatte – drei behagliche, müßige Stunden, um Chris besser kennenzulernen –, eine herbe Enttäuschung, langweilig und angespannt. Endlos. Als die Maschine endlich auf der Landebahn des kleinen Flughafens von Santa Fe aufsetzte, seufzte sie erleichtert, aber auch da wurde es nicht besser.

Im Terminal wartete Liz Coane auf sie, mit rotem Kopf und entgleisten Gesichtszügen (War sie etwa angetrunken? Es war nicht mal zwei Uhr), und verkündete überschwänglich, sie habe den von Chris georderten Wagen mit Chauffeur abbestellt und würde sie persönlich zum Hotel fahren. Als Liz den Piloten erblickte, kreischte sie vor Überraschung, warf ihre Arme um seine Schultern und gab ihm einen feuchten Kuss (mit Zunge). Der völlig perplexe Craig reagierte, als hätte ihm ein Warzenschwein die Zunge in den Hals geschoben. Unwillkürlich verzog er das Gesicht und schreckte zurück. Alix hatte den Eindruck, dass er sich am liebsten den Mund mit dem Handrücken abgewischt hätte.

Aber Liz bemerkte davon nichts. »Du brauchst doch auch eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt, Craig.« Sie ließ ihren Blick liebevoll zwischen Chris und Craig hin- und herschweifen und grinste vergnügt. Ja, sie hatte ganz sicher schon einen oder zwei intus, dachte Alix. »Stellt euch vor, wir drei wieder zusammen. Hier in Santa Fe. Das wird toll, so wie in den guten, alten Zeiten.«

»Was für gute, alte Zeiten?«, fragte Craig frostig. »Und falls du mich mitnehmen wolltest, danke, aber ich muss mich um die Maschine und die Papiere kümmern.« Er drehte sich um und ging in Richtung Terminal.

Chris war ein wenig höflicher, aber nur ein wenig. »Es war wirklich nicht nötig, uns abzuholen. Der Mietwagen hätte vollkommen gereicht.«

»Mann, liebt mich denn keiner mehr?«, fragte Liz. »Ich dachte, ich würde euch einen Gefallen tun.«

»Na ja, wir wissen das natürlich zu schätzen, Liz«, sagte Chris ein wenig freundlicher. »Es war gut gemeint.« Sie seufzte. »Also gut, danke. Wo hast du geparkt?«

Alix hätte beinah etwas gesagt. Der Gedanke, dass die nicht ganz nüchterne Liz sie chauffieren würde, beunruhigte sie, aber so wie die Stimmung war, sagte sie lieber nichts. Außerdem hatte Liz die Strecke von der Stadt zum Flughafen überlebt, deshalb standen die Chancen gut, dass sie es auch wieder zurückschaffen würde.

Liz reagierte mit einiger Verzögerung auf die frostige Begrüßung und als sie ihr Auto erreichten, war sie offenbar zu dem Schluss gekommen, dass ihre Gefühle verletzt worden seien. Deshalb war die Fahrt, glücklicherweise nur zwanzig Minuten lang, genauso schrecklich wie der Flug: Liz konzentrierte sich mürrisch auf das Fahren, während Chris aus dem Fenster starrte.

Alix saß einfach ganz still auf der Rückbank und versuchte, sich so gut wie möglich gegen die vergiftete Stimmung abzuschirmen, die die anscheinend unangenehme Erinnerung an alte Zeiten erzeugt hatte. Was auch zwischen Chris, Craig und Liz vorgefallen sein mochte, sie würde sich nicht in irgendetwas reinziehen lassen. Sie war da, um ihre Arbeit zu machen, für die sie sehr gut bezahlt wurde, und genau das würde sie auch tun und nicht mehr. Wenn aus diesem Job eine neue Freundschaft hervorging, denn danach hatte es bis zu diesem Morgen ausgesehen, dann wäre das wunderbar. Und wenn nicht, wäre das auch in Ordnung. Sie hatte genug mit den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit zu tun, um sich freiwillig mit denen anderer Leute auseinanderzusetzen.

Erst gegen Ende der Fahrt taute die Stimmung leicht auf. Liz sagte in halbwegs versöhnlichem Ton, sie würde sich freuen, wenn sie beide abends zu einer sehr interessanten Vernissage in ihre Galerie kämen. Die Ausstellung sei der amerikanische Einstand des jungen polnischen Genies Gregor Gorzynski, das frischen Wind in die Kunstszene bringen würde. »Mein Schützling.«

»Klar, das wäre nett«, sagte Chris in fast herzlichem Ton.

»Alix?«, fragte Liz.

»Natürlich, ich freu mich drauf. Können wir dann auch einen Blick auf das O’Keeffe-Gemälde werfen oder haben Sie das nicht in der Galerie?«

»Doch, es befindet sich gerade in der Galerie. Ich habe es heute Morgen für euch aus dem Tresorraum geholt. Kommt doch einfach vor dem Empfang vorbei. Sagen wir halb fünf? Dann werde ich’s bei mir im Büro haben und ihr könnt euch dran ergötzen. Ihr bekommt auch Champagner. Den guten, nicht das billige Zeug für die Eröffnung.« Sie lächelte Chris an. »Wir können auf alte Zeiten anstoßen.«

Da wurde die Stimmung wieder frostig. »Liz, wir gehen uns jetzt besser anmelden.«

Liz zuckte mit den Schultern und grinste. »Bis später, Mädels.«

»Ich hoffe nur, sie fährt auf dem Rückweg niemanden tot«, sagte Chris auf dem Weg zur Rezeption. »Sie hatte schon ganz schön Schlagseite.«

»Den Eindruck hatte ich auch. Hat sie früher auch schon getrunken?«

»Wenn, dann hat sie’s gut verheimlicht«, sagte Chris – und dann, ein wenig milder: »Sie scheint nicht sehr glücklich zu sein.«

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Die Hacienda Encantada bestand trotz ihrer zentralen Lage, nur wenige Blocks von der Plaza entfernt, aus einer gut drei Hektar großen, üppig bepflanzten Anlage, die Unterkunft sowohl im Hauptgebäude – einem zweigeschossigen, von Hollywood inspirierten »Indianer-Pueblo« – als auch in einzelnen Bungalows, Casitas genannt, bot. Die Casitas lagen an Wegen verstreut, die sich über das Grundstück schlängelten. Alix’ Stimmung hob sich. Das Hotel war wunderschön, ebenso wie die Stadt, obwohl sie noch nicht viel gesehen hatte. Nur die Wüstenluft war kälter als erwartet.

»Schön, dass Sie uns mal wieder besuchen, Ms LeMay«, sagte die junge Frau am Empfang lächelnd (»Caitlin« stand auf ihrem Messingnamensschild). »Sehen wir mal nach«, sagte sie, tippte auf der Tastatur herum und schaute auf den Bildschirm. »Wir haben Sie in der Desert Canyon Suite hier im Hauptgebäude untergebracht. Ms London, für Sie haben wir die Roadrunner Casita reserviert, eine der schönsten.«

»Habe ich nicht zwei Suiten nebeneinander gebucht?«, fragte Chris.

»Ähm … nein …«, sagte Caitlin skeptisch. »Hier steht …«

»Ach, das macht doch nichts«, sagte Alix. »Eine Casita ist doch ideal.« Mehr als ideal. Die Stimmung hatte sich immer noch nicht ganz geklärt und sie war nur allzu froh, sich ein wenig zurückziehen zu können.

»Nun gut«, sagte Chris. »Es ist vielleicht wirklich nicht so wichtig.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Viertel nach zwei. Der Canyon Drive ist keine zehn Minuten von hier entfernt. Sollen wir uns um Viertel nach vier in der Lobby treffen? Wir können hinlaufen, wenn Sie Lust haben.«

»Na klar. Ich würde mir gern die Beine vertreten.« Aber andererseits waren zwei Stunden ganz allein, um die Gemüter zu kühlen, vielleicht für beide ein bisschen viel. »Aber wie wär’s, wenn wir uns stattdessen um drei treffen? Das Georgia O’Keeffe Museum dürfte ganz in der Nähe sein …«

»Stimmt«, sagte Caitlin. »Nun, ein paar Blocks entfernt.«

»Großartig. Sollen wir uns dort mal umschauen, bevor wir uns Ihr Bild ansehen, Chris?«

»Ja, das hört sich gut an.«

Caitlin drückte auf die Klingel auf dem Empfangstresen und innerhalb von zwei Sekunden erschienen zwei Pagen. Der eine lud Chris’ Taschen (sie hatte drei dabei) auf einen Kofferkuli, während der jüngere Alix’ einsamen Koffer nach draußen trug und ihn hinten auf einem rosa Golfmobil mit Fransendach verstaute.

»Steigen Sie ein. Ich fahr Sie hin. Man verläuft sich leicht, wenn man noch nie hier war.«

Er war ein freundlicher, pummeliger Junge mit rosigen Wangen (»Tommy« stand auf seinem Namensschild), der eher auf einen Traktor irgendwo in Indiana gepasst hätte als auf ein aufgemotztes Golfmobil in Santa Fe. Es machte ihm eindeutig Spaß, mit dem Wagen herumzupreschen, aber als er merkte, dass sie zitterte, wurde er langsamer.

»Es liegt an der Höhe. Alle glauben, bei uns wäre es warm. Wie in Phoenix, wissen Sie? Aber hier ist es nicht warm. Wir sind mehr als zweitausend Meter über dem Meeresspiegel«, sagte er stolz. »Es kann hier noch viel kälter werden. Wo sind Sie her?«

»Ich?« Nicht leicht zu beantworten, dachte sie, und entschied sich einfach für: »Seattle.« Was ja auch irgendwie stimmte.

»Da regnet es oft«, bemerkte Tommy schlau.

»Stimmt«, sagte sie.

Vor der Casita sprang er vom Wagen. »Ich mache Feuer im Kamin, dann haben Sie es in null Komma nichts schön warm.«

Sie folgte ihm ins Zimmer, das ihr auf Anhieb gefiel: abgerundete Lehmwände, freigelegte Deckenbalken, rote Tonfliesen, ein gewölbter Propangas-Kamin in Lehmbauweise, Einrichtung im regionalen Stil … Plötzlich blieb sie mitten im Zimmer stehen und runzelte die Stirn. »Warten Sie mal. Können Sie das auch riechen?«

Er kniete vor dem Kamin und wollte gerade den Zündknopf umdrehen. Jetzt hielt er seine Stupsnase hoch, um zu schnuppern. »Wie ein totes Tier?«

»Eher nach faulen Eiern«, sagte sie. »Machen wir, dass wir hier rauskommen. Es riecht, als würde irgendwo Propangas austreten. Fahren wir zurück zum Empfang.«

»Nein«, sagte er. »Das kann’s nicht sein.« Er hatte immer noch die Hand am Zündknopf. »Propangas riecht nicht. Das weiß ich, weil …«

»Tommy, halt! Nicht anzünden!«, schrie sie. »Raus hier!«

Er blinzelte und nahm die Hand vom Zündknopf. »Ja, Ma’am. Ähm … soll ich Ihren Koffer nicht reinholen?«

Zur Antwort packte sie ihn mit beiden Händen fest am Kragen und zog ihn hoch. »Raus hier! Schnell!«

Im Golfmobil auf dem Weg zurück zum Empfang beruhigte sie sich langsam und fragte sich, ob sie vielleicht überreagiert hatte. »Es ist wahrscheinlich gar nichts, Tommy. Aber Sie haben zwar recht, dass Propangas geruchlos ist, aber genau deshalb wird ein Geruchsstoff zugesetzt, damit man merkt, wenn irgendwo Gas austritt. Als ich in Italien gelebt habe, da gab es diese furchtbaren kleinen Propangasflaschen, die dort bombole heißen. Sehr passend, denn wenn man nicht aufpasst …«

Plötzlich spürte sie einen heißen Luftstoß im Nacken. und bevor sie begriff, was los war, hörte sie einen Riesenknall, eine gewaltige Detonation – oder eher eine schnelle Abfolge von Detonationen wie bei an einer Schnur aufgereihten chinesischen Knallkörpern, nur dumpfer und viel heftiger.

Erschrocken trat Tommy auf die Bremse und blitzschnell drehten sie sich um. Sie konnten gerade noch sehen, wie Trümmer und Bruchstücke von Deckenbalken herunterregneten. Die Casita war nur noch ein einziges Flammenmeer, das Ruß und feurige Geysire ausspie. Die Fenster waren rausgerissen, die Tür stürzte zehn Meter entfernt ins Gras und vom Dach war nichts mehr zu sehen.

»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Tommy, ganz blass um die Nase. »Wenn Sie nicht … hätten wir … wären wir …«

»Wir wären umgekommen«, sagte sie grimmig. »Tot.«

Er nickte nur stumm und starrte auf die Ruine, aus der zischende Flammen und Rauch aufstiegen. »Absolut mausetot«, sagte er staunend.

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Cognac am Nachmittag war für Alix keine Alltäglichkeit, aber nur knapp dem Tod zu entrinnen auch nicht. Mit Hochgenuss nahm sie noch einen großen Schluck und wohlige Wärme rann ihre Kehle hinunter.

»Wie schön, noch am Leben zu sein«, sagte sie.

Chris, die sich einen Gin Tonic gönnte, nickte zustimmend. »Sehen Sie, ich habe doch gesagt, Sie brauchen einen Drink. Und ich kann auch einen vertragen.« Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Was für ein Tag! Und er ist noch nicht mal vorbei.«

Alix lächelte und nahm noch einen Schluck. »Danke, aber mir reicht die Aufregung für heute. Hoffentlich wird der Abend schön langweilig.«

Der Tumult nach der Explosion war riesig, aber beruhigend gewesen. Sirenen, Feuerwehrmänner, tüchtige, fürsorgliche Hotelmitarbeiter … Einer hatte sogar ihr Zittern bemerkt und ihr eine riesige mexikanische Decke gebracht, groß genug, um sie dreimal um ihre Schultern zu wickeln. Das alles wirkte sich beruhigend auf ihre Nerven und ihren Puls aus. Außerdem kümmerte sich Chris fast wie eine Mutter um sie und Alix ließ sich gern verhätscheln. Nach so vielen Jahren der Einsamkeit – natürlich selbst verschuldet – fand sie es erstaunlich angenehm, sich so umsorgen zu lassen.

Sie war in ein Zimmer im Hauptgebäude verlegt worden (»Selbstverständlich übernachten Sie kostenlos, Madam«), man hatte ihr Gepäck hochgetragen und sie hatten Getränke aufs Haus bekommen. Dann hatte Chris sie einfach reden lassen. Und nun saßen sie in harmonischer Stille in der menschenleeren Cottonwood Bar, die zur Hacienda gehörte. In bequeme Sessel direkt am Kamin gekuschelt – Gott sei Dank echtes, knackendes und knisterndes Holzfeuer und kein Propangas –, nippten sie an ihren Drinks und erfreuten sich daran, dass die Welt wieder ihren gewohnten Lauf nahm.

»Alix …«, sagte Chris. Zum ersten Mal bemerkte Alix so etwas wie Zögern oder Unsicherheit in ihrer Stimme. »… Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich war auf dem Flug hierher so übel gelaunt, aber das hatte wirklich nichts mit Ihnen zu tun.«

»Das habe ich auch nicht angenommen, Chris.«

»Es war nur, weil …« Sie drehte ihr Glas zwischen ihren Fingern und starrte es an. »Es war nur, weil … ach, verdammt, nur weil …«

Auch Alix zögerte. Nur eine knappe Stunde zuvor hatte sie sich selbst ermahnt, sich bloß aus den Problemen anderer Leute rauszuhalten, aber jetzt war alles anders. Sie war nur knapp dem Tod entronnen und sie betrachtete Chris immer mehr als Freundin, als echte Freundin …

Sie atmete ganz tief durch und fasste sich ein Herz. »Weil Sie und Craig, der Pilot, mal was miteinander hatten«, sagte sie. »Und Liz war irgendwie auch in die Sache verwickelt. Oder Craig und Liz hatten was miteinander und Sie waren darin verwickelt. Eine Dreiecksgeschichte jedenfalls. Etwas in der Art?«

Chris brach in Gelächter aus. »War das so offensichtlich?«

Alix lächelte. »Ich fürchte, ja. Also wie rum war’s denn jetzt?« Sie nahm noch einen Schluck Cognac. »Oder wollen Sie nicht drüber reden?«

»Doch, doch«, sagte Chris. Sie leerte ihr Glas und hielt es dem Barmann zum Nachfüllen hin. »Nicht so viel Gin diesmal«, rief sie. »Und könnten wir ein paar Chips oder so was haben?«

Chris lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Alix an. »Mit Ihrer ersten Vermutung lagen Sie richtig. Craig und ich waren mal zusammen, aber es war schon irgendwie seltsam. Ich war nämlich eine Zeit lang seine Vorgesetzte.«

»Das muss aber schwierig gewesen sein.« Als der Barmann sie fragend ansah, winkte sie ab.

»Ja, aber ganz so problematisch war’s auch nicht. Ich war nur zwei Monate lang seine Vorgesetzte. Das Projektmanagement bei Sytex war so organisiert, dass Zuständigkeitsbereiche ständig wechselten. Außerdem war die Atmosphäre ziemlich entspannt und persönliche Beziehungen zwischen Angestellten interessierten niemanden sonderlich – eigentlich gar nicht –, selbst zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern. Hauptsache, im Büro gab man sich professionell. Da wir alle wie verrückt arbeiteten, sieben Tage die Woche, machte es auch irgendwie Sinn. Wer hatte schon Zeit für einen Partner außerhalb der Firma? Ach, ich war damals übrigens auch Liz’ Vorgesetzte.«

»Langsam wird die Sache interessant«, bemerkte Alix.

»So sehr auch nicht. Danke«, sagte sie, als der Barmann einen Gin Tonic und einen unterteilten Teller mit Kartoffelchips und Nüssen auf das Beistelltischchen zwischen sie stellte. Chris nahm eine Handvoll Nüsse und einen Schluck von ihrem Drink, und während sie vor sich hin kaute, beobachtete sie Alix über ihre Brille hinweg. »Sie haben doch in Europa studiert, nicht wahr, während des Hightech-Booms?«

Alix nickte. »Ja. Natürlich habe ich damals von den neuen Technologieunternehmen gehört, von Erstemissionen und Aktienoptionen – die Italiener haben da im großen Stil mitgemischt –, aber es ging alles zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus. Ich weiß immer noch nicht, was eine Erstemission ist. Es hatte nichts mit meinem Leben zu tun. Aber mitten im Geschehen zu sein, war sicher aufregend.«

»Ja, es war wirklich unglaublich. Sytex war damals nur eins von vielen Start-up-Unternehmen, aber wir alle hatten das Gefühl, an einer Riesensache beteiligt zu sein. Deshalb war es so wahnsinnig aufregend. Die Atmosphäre war unbeschreiblich. Alles war möglich. Jedenfalls, Craig und ich, wir waren nicht verlobt oder so – wir waren alle viel zu beschäftigt, um übers Heiraten nachzudenken –, aber allen war klar, dass wir zusammen waren, oder zumindest glaubte ich das bis zu einem ganz bestimmten Samstag. Craig, Liz und ich bereiteten übers Wochenende zusammen mit ein paar anderen Mitarbeitern eine wichtige Präsentation vor. Um fünf verabschiedete ich mich, aber auf dem Heimweg fiel mir ein, dass Liz einige Unterlagen hatte, die ich vor der Besprechung am Montagmorgen noch mal durchsehen wollte. Ich gehe also in ihr Büro und …«

Bei der Erinnerung zog sie die Mundwinkel herunter. »Und die beiden … oh verdammt … die beiden treiben’s auf dem Teppich direkt vor mir, auf dem Boden … wie brünstige Tiere.«

»Oh nein!«

»Oh doch«, murmelte Chris.

»Und was haben Sie dann gemacht?«

Sie lachte freudlos. »Was schon? Ich habe auf dem Absatz kehrtgemacht. Ich war total entsetzt.«

»Natürlich. Ich meinte …«

»Ich weiß, was Sie meinten«, sagte sie leise und tonlos.

»Chris, Sie müssen nicht darüber reden, wenn Sie nicht wollen. Tut mir leid, wenn ich …«

Aber Chris fuhr verbissen fort: »Natürlich war ich auf beide stinksauer, aber Liz kam noch am gleichen Tag zu mir, total zerknirscht: Sie hätte es ja nicht geplant; es sei das erste Mal gewesen, aber Craig hätte ihr seit Wochen Zeichen gegeben – eine ›versehentliche‹ Berührung hier, ein zu langer Händedruck dort, lange, unmissverständliche Blicke – und in einem schwachen Augenblick, – er war schließlich ein attraktiver Mann – da hätten ihre Hormone die Oberhand gewonnen und sie habe einfach nachgegeben.« Chris zuckte mit den Schultern. »Sie war in Tränen aufgelöst. Sie fühlte sich schrecklich, sagte sie. Sie hätte mir so etwas nie angetan, wenn sie bei Sinnen gewesen wäre und Craig nicht so hartnäckig … und so weiter, und so weiter. Sie flehte mich an, ihr zu verzeihen.«

»Und?«

»Und ich habe ihr verziehen.« Wieder zuckte sie lethargisch mit den Schultern. »Wir sind alte Freundinnen – ich kenne sie schon viel länger als Craig – und wir hatten so viel zusammen erlebt. Craig … Craig, das war eine ganz andere Geschichte.«

Er hatte gesagt, es tue ihm leid, und er hatte es wohl auch ernst gemeint. Aber das war alles. Er hatte sich nicht gerechtfertigt, Liz’ Anschuldigungen nicht abgestritten, keine Erklärung abgegeben, nur dass es ein großer Fehler gewesen sei und es nicht wieder vorkommen sollte. Er hatte gesagt, wenn Chris ihn nicht um sich haben wollte, würde er bei Sytex kündigen und sich was anderes suchen. Sie bräuchte es nur zu sagen.

»Also habe ich es gesagt«, sagte Chris leise. »Ich war so verletzt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er mich so enttäuscht hatte. Ich wollte ihn nie wiedersehen. Es spielte wohl noch etwas anderes mit: Ich wollte, dass er dafür bezahlt. Ich war wirklich stinkwütend.« Sie lächelte. »Mann, und wie er dafür bezahlt hat! Acht Monate nach seiner Kündigung ging die Firma an die Börse, Liz und ich haben ein Vermögen gemacht und Craig war nur einer von vielen arbeitslosen Informatikern. Und als ein paar Monate später die Dotcom-Blase platzte, war er einer von vielen Informatikern ohne Hoffnung auf einen neuen Job.«

Vor Alix’ geistigem Auge huschte Craigs offenes, sympathisches Gesicht vorbei. Kaum vorzustellen, dass er sich mit der albernen, ungepflegten Frau auf dem Boden rumgewälzt hatte. Natürlich war Liz damals nicht so ungepflegt gewesen. Aber trotzdem …

»Autsch«, sagte sie nur.

»Allerdings! Liz und ich haben Millionen gemacht. Craig hat für all seine Mühe keinen Cent gekriegt. Eigentlich habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen.«

»Na ja, er nagt ja nicht gerade am Hungertuch. ShareJet-Piloten verdienen nicht schlecht.«

»Stimmt.« Dann kam wieder ein spürbares Zögern. »Er weiß nichts davon«, sagte sie mit gesenktem Blick, »aber ich habe ihm die Stelle besorgt.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Die Sache wird wirklich immer interessanter, dachte Alix.

»Also ich hatte damals beruflich mit einem Manager von ShareJet zu tun. Ich wusste, dass Craig Amateurpilot war, aber zu wenig Flugerfahrung hatte, um allein Passagierflugzeuge zu fliegen. Deshalb habe ich meinen Geschäftsfreund überredet, ihn als Kopilot einzustellen, während er seinen Berufspilotenschein machte. Natürlich hatte Craig keine Ahnung, dass ich meine Finger im Spiel hatte. Wenn er sich bewährte, sollte er auch für Soloflüge eingesetzt werden. Er hat sich bewährt und wurde fest eingestellt. – Sie sehen verwirrt aus.«

»Ich bin auch ein wenig verwirrt. Wenn Sie ihn nie wiedersehen wollten, warum fliegen Sie dann mit ShareJet und nicht mit einem anderen Unternehmen?«

»Bei Sytex haben wir schon ShareJet benutzt und ich bin einfach dabei geblieben. Eigentlich gab es eine Abmachung, dass ich nie mit Craig fliegen würde. Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist. Es ist noch nie passiert. Essen Sie gar keine Chips? Die schmecken gut – extra dick!«

Alix schüttelte den Kopf. »Ich habe noch immer ein bisschen Flattern im Bauch. Aber was Craig angeht: Sie wollen sagen, Sie haben ihn heute zum ersten Mal gesehen, seit … seit der Sache mit Liz?«

Sie nickte. »Sie können sich ja vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als er nach so langer Zeit plötzlich hereinspaziert kam. Den wollte ich nun wirklich nicht wiedersehen. Es hat mich total aus der Fassung gebracht. Ich habe einfach … Ach, Mist.« Sie blickte hinunter auf ihr Glas und verzog ihr Gesicht. »Was für eine verkorkste Situation.«

Mensch, du liebst ihn immer noch, dachte Alix.

»Ich habe heute den ganzen Tag immer wieder darüber nachgedacht«, sagte Chris müde. »Habe ich es damals versaut? Hätte ich Liz nicht glauben sollen? War ich zu hart? Habe ich mich zu voreilig von Craig getrennt?«

»Mag sein«, sagte Alix. »Wir haben alle unsere schwachen Momente. Und wir machen alle Fehler.«

Chris dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf: »Nein, das war mehr als ein Fehler. Die vielsagenden Blicke, die ›versehentlichen‹ Berührungen … das ging wochenlang.«

»Das sagt Liz.«

Chris sah sie neugierig an. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Es ist eben nur Liz’ Version. Sie haben es nur von ihr gehört, nicht von Craig. Vielleicht ist das nicht die ganze Wahrheit. Oder vielleicht war’s auch umgekehrt und sie ist ihm nachgestiegen.«

»Was für einen Unterschied macht das schon, wer wem nachgestiegen ist?«

»Ja, sicher. Aber war das nicht der Grund, warum Sie weiter mit Liz befreundet sind, aber ihm den Laufpass gegeben haben?«

»Ich habe ihm nicht den Laufpass gegeben«, begann Chris und zuckte dann mit den Schultern. »Ja, okay, stimmt wohl«, sagte sie unsicher. Sie machte eine kurze Pause. »Ehrlich gesagt, ich hatte so meine Zweifel, was Liz angeht. Schon damals hatte sie so was … Aber es spielt keine Rolle mehr, Alix. Ich habe ihm eine Chance gegeben, sich zu rechtfertigen, es zu erklären und Liz die Schuld zu geben, wenn es denn so war … Tief in meinem Innern habe ich’s gehofft, aber er tat es nicht. Warum nicht?«

»Sie haben recht, es ist reine Spekulation, aber könnte es nicht sein, dass er sich nur wie ein Gentleman verhalten wollte? Vielleicht wollte er Verantwortung für sein Verhalten übernehmen? Vielleicht meinte er, Liz die Schuld in die Schuhe zu schieben, wäre nicht sehr – ich weiß nicht – galant?«

Chris lachte ihr bellendes Seehundlachen. »Galant! Das Wort hört man heutzutage aber nicht mehr sehr häufig.« Dann wurde sie wieder ernst. »Aber wissen Sie«, sagte sie wehmütig, »er ist der Typ Mann, für den so etwas tatsächlich wichtig sein könnte.«

»Sehen Sie?«

»Sehe ich was? Und wieso ergreifen Sie Partei für ihn und nicht für Liz?«

»Ich ergreife doch gar nicht …«

»Doch, tun Sie.«

»Okay, stimmt vielleicht.«

»Also?«

»Weil …« Aber sie konnte schlecht sagen, dass sie Craig auf Anhieb gemocht hatte und Liz gegenüber vom ersten Moment an nur Misstrauen und Abneigung verspürte. »Weil ich gesehen habe, wie er Sie angeschaut hat, als er aus dem Cockpit kam.«

»Wie hat er mich denn angeschaut?«

»Er hat sich gefreut, Sie zu sehen. Er war vielleicht ein wenig nervös, etwas unsicher, aber er sah geradezu begeistert aus. Wenigstens eine Sekunde lang. Aber in dieser einen Sekunde konnte ich sehen, dass er nichts dagegen hätte, sich wieder mit Ihnen anzufreunden.«

Chris war ehrlich überrascht. »Machen Sie Witze? Er hat doch nur seinen auswendig gelernten Spruch runtergerasselt – hier ist der Ausgang, da ist die Toilette – und ist zurück ins Cockpit getrottet.«

»Stimmt, aber das war, nachdem Sie irgendwas gemurrt und total dichtgemacht hatten.«

Chris runzelte nachdenklich die Stirn. »Alix, war es wirklich so? Ich habe das ganz anders in Erinnerung.«

»Genau so ist es abgelaufen, Chris.«

»Oh Gott«, seufzte Chris und sackte in ihren Sessel zurück. »Ich kann nicht mehr richtig denken. Ich muss erst mal über die ganze Sache schlafen. Aber jetzt würde ich lieber einen Blick auf mein O’Keeffe-Bild werfen, als hier rumzusitzen und zu grübeln. Haben Sie immer noch Lust auf einen Spaziergang?«

Alix war aus ihrem Sessel aufgesprungen, noch bevor die Frage ausgesprochen war. »Und wie!«, sagte sie.