KAPITEL 12
Aber zuerst muss ich meinen Vater anrufen.
Was für eine einfache, nicht weiter bemerkenswerte Aussage. War es nicht das Normalste von der Welt? Tagtäglich sagten Tausende Leute diesen Satz. Aber wann war er das letzte Mal Alix über die Lippen gekommen? Vor zehn Jahren? Mindestens.
Sie schleuderte ihre Handtasche aufs Bett, öffnete die Doppeltür zur Terrasse, wischte ein paar frisch gefallene goldene Blätter von einem Rattanstuhl, klappte ihr Handy auf, fragte die Auskunft nach der Geschäftsnummer ihres Vaters und ließ sich direkt verbinden. Am besten brachte sie es sofort hinter sich, noch bevor sie ihr Aspirin nahm. Wenn sie sich Zeit ließ, drüber nachzudenken, würde es wahrscheinlich so enden wie am Abend zuvor: Sie würde es sich anders überlegen, das Handy zuklappen und es auf ein andermal verschieben.
Das war vielleicht gar keine so schlechte Idee. Ihre Kehle war ganz trocken. Was würde es schon ausmachen …
»Handelsgesellschaft Venezia. Was kann ich für Sie tun?« Die Worte kamen schwerfällig und langsam wie von einem Kind, das etwas mühsam auswendig Gelerntes aufsagt.
Tiny.
Die Stimme wurde etwas lebendiger. »Alix? Ach, wirklich? He, mia cucciolina, wie geht’s dir denn?«
Mia cucciolina. Mein Hündchen. So hatte er sie vor tausend Jahren genannt, als er noch Onkel Beniamino war und sie so gern auf seinem Schoß gesessen, sein breites, einfältiges, aber gutmütiges Gesicht angeschaut und dabei vor sich hingeplappert hatte. Aus heiterem Himmel rannen ihr Tränen übers Gesicht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und nur mit Mühe brachte sie ein paar Wörter raus.
»Mir geht’s gut, Tiny. Und dir? Es ist so lange her.«
»Ach, du kennst mich doch, mir geht’s immer gut.«
Sie musste lachen. »Ich weiß. Tiny, ist mein Vater da? Kann ich mal mit ihm reden?«
»Na klar. Ich stelle dich durch. Wenn ich nur wüsste, welche Taste …«
»Ach, übrigens … Ich arbeite für eine Frau, die ein Bild von Georgia O’Keeffe kaufen will.«
»Ja, habe ich gehört. Das freut mich für dich.« Keine Spur von Groll, obwohl sie wusste, dass es ihn gekränkt hatte, als sie bei dem Gespräch mit Geoff seine Hilfe abgelehnt hatte. Was für ein lieber, durch und durch anständiger Kerl … Wenn man darüber hinwegsah, dass er ein Meisterfälscher war. Oder früher mal gewesen war, wenn man ihm seine derzeitige Geschichte abkaufte.
»Also ich habe da ein paar Fragen, zu denen mich deine Meinung interessieren würde. Kann ich dich deswegen in ein paar Tagen noch mal anrufen?«
Er schnurrte regelrecht: »Ich tue doch alles für dich, piccolina.«
Piccolina. Kleine. Tiny war auf der Jerome Avenue in der Bronx geboren und sprach normalerweise auch mit dem entsprechenden Akzent, aber er streute gern Wörter aus der Heimat seiner sizilianischen Vorfahren ein. Manchmal, wenn er ein paar Gläser Chianti intus hatte, hätte sie schwören können, dass er mit italienischem Akzent sprach.
»Danke, Tiny.« Sie nahm sich vor, sich ein paar Fragen für ihn auszudenken.
Dann kam ihr Vater an den Apparat. »Alix? Ich bin so froh, dass du anrufst. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Sie konnte tatsächlich die Anspannung in seiner Stimme hören. Ich bin auch froh, dass ich angerufen habe, dachte sie, aber brachte es nicht über sich, es auszusprechen. »Bei mir rufen schon den ganzen Morgen Reporter an. In was bist du denn da nur hineingeschlittert? Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, mir geht’s wunderbar, Geoff.«
Dann musste sie ein paar Minuten lang Fragen beantworten, hauptsächlich um ihn zu beruhigen, denn er war fast so gut wie sie über die Ereignisse des Vortags informiert. Sie hätte ihm fast gesagt, dass sie das Bild für eine Fälschung hielt, aber dann überlegte sie es sich anders, denn sie wusste, er hätte sich nur allzu gern eingemischt – um ihr zu helfen –, aber das wäre ihr einfach noch zu viel gewesen.
»Und was ist mit der Explosion in deiner … Wie heißt das noch? … In deiner Casita?«, fragte er. »Wollte man dich etwa auch …ich meine …?« Er machte sich tatsächlich Sorgen um sie. Es passierte nicht oft, dass Geoffrey die Worte fehlten.
»Die Polizei glaubt anscheinend, dass es nur ein Unfall war, Dad. Eine defekte Leitung.«
Dad? Hatte sie ihn gerade Dad genannt? Wie war das denn nur passiert? Schon seit ihrem zwölften Lebensjahr nannte sie ihn Geoff. Sie hatte einfach irgendwann damit angefangen; als Akt der Selbstbehauptung, und er hatte keinen Einwand erhoben. Sie betete nur, dass es ihm nicht aufgefallen war.
Anscheinend nicht. »Mir ist vollkommen egal, was die Polizei glaubt. Was glaubst du denn?«
Da half nur eine Notlüge. »Ach, wahrscheinlich hat die Polizei recht … Geoff.« Sie hatte seinen Namen nur schnell eingeworfen, um das Wort Dad aus ihrer beider Erinnerung zu löschen. »Warum sollte mir irgendjemand ans Leder wollen?«
»Trotzdem, das gefällt mir nicht«, sagte er. »Überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Liebes, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ich dich da hineinmanövriert habe.«
»Mich da reinmanövriert? Hast du doch gar nicht.«
»Oh doch, habe ich. Na ja, vielleicht nicht direkt, aber in gewisser Weise – eigentlich ziemlich eindeutig – ist es alles meine Schuld. Das heißt, äh, nicht direkt natürlich, aber … irgendwie schon. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Nein, sie verstand kein Wort und es war auch untypisch für ihn, sich zu wiederholen oder so herumzudrucksen. Ein Schauer kroch ihr den Rücken hoch und setzte sich kribbelnd in ihrem Nacken fest. »Geoff«, sagte sie zögernd, »du hast doch nicht … Du und Tiny, ihr habt doch nicht etwa irgendwann in letzter Zeit O’Keeffe-Bilder gefälscht, oder?« Es sollte sich wie ein Scherz anhören, aber ihre Stimme wurde immer schriller, bis sie am Ende praktisch quietschte.
Er grölte plötzlich vor Lachen auf und es klang überrascht und echt genug, um sie zu beruhigen. »Um Himmels willen, nein! Was für ein Gedanke! Mein armes Mädchen, ich bin ein braver Bürger geworden, wie er im Buche steht. Und Tiny auch. Wir alle.«
»Was meintest du denn dann? Wieso ist es deine Schuld?«
»Ich meinte … Ich weiß nicht so genau, was ich damit meinte. Vielleicht, wie dein Leben bisher gelaufen ist. Ohne meinen fragwürdigen Einfluss hättest du gar nichts mit Kunst zu tun. Du hättest dir einen anständigen Beruf ausgesucht. Und was noch schlimmer ist: Ohne meine Verfehlungen wärst du immer noch mit diesem netten Kerl verheiratet – wie hieß der noch? – und würdest in Beacon Hill Lunchpartys organisieren und bräuchtest gar nicht zu arbeiten. Und du hättest einen Doppelnamen, très élégant …«
Er hatte wieder diesen verschmitzten Ton in der Stimme. Sie musste lächeln und spielte mit. »Du meinst Paynton Whipple-Pruitt? Wenn ich mich recht erinnere, hast du ihn damals einen überheblichen, aufgeblasenen, egozentrischen Wichtigtuer genannt.«
»Das habe ich niemals gesagt.«
»Hast du wohl.«
»Nein, ganz sicher nicht. Ich habe ihn einen kindischen, aufgeblasenen, egozentrischen Wichtigtuer genannt.«
»Ach ja, du hast recht«, sagte Alix lachend.
»Was hast du denn jetzt vor, Alix? Kommst du zurück nach Seattle?«
»Nein, ich habe noch ein paar, äh, Zweifel, was das Bild angeht. Deshalb möchte ich mir die O’Keeffe-Landschaft mit eigenen Augen ansehen. Das würde mir sicher helfen. Ich fahre nachher dort hoch.«
»Großartige Idee, aber ganz allein in die Wüste? Nach allem, was passiert ist? Ich hätte Zeit, weißt du? Soll ich …«
»Chris LeMay kommt auch mit«, schnitt sie ihm das Wort ab. So nah hatte sie sich ihm schon lange nicht mehr gefühlt, aber ihn drei ganze Tage um sich zu haben, das war doch noch zu viel für sie. »Ich muss mich jetzt auch fertig machen.«
»Ich bin froh, dass du angerufen hast.«
»Ich melde mich bald wieder.«
»Ja bitte, mein Liebes. Bis bald und pass auf dich auf.«
Nachdenklich klappte sie ihr Handy zu. Würden andere Eltern, deren Tochter zehn Jahre lang nicht angerufen hatte, nicht darauf hinweisen und wenigstens ein bisschen Theater machen? Aber nicht Geoff. Er war einfach nur froh, endlich von ihr zu hören, und beließ es dabei.
Blätter waren auf ihren Schultern und ihrem Schoß gelandet. Sie wischte sie weg und ging hinein, um zu packen, damit sie losfahren konnten, sobald sie im Archiv fertig war.
Ihre Kopfschmerzen waren seltsamerweise verschwunden.
Einlass ins Archiv des Southwest Museum of Twentieth-Century American Art zu erhalten, war, als wollte man in die Zentrale des Luft- und Weltraum-Verteidigungskommandos. Der Raum befand sich ganz hinten im Museum hinter einer abgeschlossenen Tür. Bevor Alix Zutritt gewährt wurde, musste sie sich bei der Information melden. Dort musste sie sich mit ihrem Führerschein ausweisen, dann ein zweiseitiges Formular ausfüllen, das bei der »Privatanschrift« anfing und beim »Grund für gewünschte Archiveinsicht« endete, dann auf einem weiteren Formular mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie diverse Regeln einhalten würde (keine Scheren oder Stifte mitbringen, kein Archivmaterial entwenden), und schließlich aus Sicherheitsgründen Führerschein und Handtasche bei der Bibliothekarin abgeben.
Erst dann wurde Mr Moody angepiepst. Kurz darauf erschien er. Die Fliege und der altmodische dunkle Anzug waren offensichtlich nicht nur für gesellschaftliche Anlässe wie Vernissagen reserviert, sondern sie waren auch seine Arbeitskleidung. Ein unerwartetes humoristisches Detail seiner Fliege waren kleine Bilder vom Kojoten, der den Roadrunner jagte. Moody selbst war aber nicht zu Scherzen aufgelegt. Er grüßte sie mit einem flüchtigen Nicken. (Konnte er sich an ihre Begegnung am Vortag erinnern? Unmöglich zu sagen.) Dann führte er sie zu der verschlossenen Tür und gab auf dem Tastenfeld die Kombination ein, jedoch nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass sie nicht heimlich die Zahlen mitlas. Ihm zu Gefallen wandte sie sich ab und betrachtete scheinbar ganz fasziniert die Bücherregale hinter ihnen.
An einem Ende des Raums stand ein Schreibtisch mit Stuhl, beides aus Metall; außerdem gab es einen Lesetisch, auf dem ein Notizblock und ein paar stumpfe Bleistifte lagen, und an einer Wand sechs Stahlbücherschränke auf Rollen. Moody bedeutete ihr, sich an den Tisch zu setzen, ging zum Schreibtisch und holte einen Stehsammler mit Katalogen. »Ich habe die für Sie rausgesucht, damit Sie nicht selbst sämtliche Ordner durchforsten müssen.«
»Danke«, sagte Alix, aber sie war sicher, er hatte es nur getan, weil er den Gedanken nicht ertrug, ein Eindringling wie sie könnte nach Herzenslust in seinen Regalen herumstöbern und wer weiß was für Untaten begehen; auf dem Archivmaterial herumkritzeln vielleicht.
»Ich habe außerdem eine alte Freundin angerufen, eine Kunsthändlerin aus Albuquerque, um so viel wie möglich über diese Galerie herauszufinden. Sie bestand von zweiundsechzig oder dreiundsechzig bis circa fünfundsiebzig und soll einen guten Ruf gehabt haben. Der Besitzer hieß Henry Merriam, anscheinend eine Autorität, was Grafikkünstler aus dem Südwesten angeht. Hoffentlich hilft Ihnen das weiter.«
Es waren wirklich nützliche Informationen. »Danke«, sagte sie wieder, diesmal etwas überzeugender. Da sie nun etwas unbeholfen dastand, fügte sie hinzu: »Also ich werde dann mal …«
»Ja, ich muss auch weiterarbeiten«, sagte er, setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an, Papiere zu ordnen.
Er war von anderswo hergerufen worden, deshalb nahm sie an, er blieb nur im Raum, um sie im Auge zu behalten. Von seinem Schreibtisch aus konnte er seine Besucher unauffällig beobachten, für den Fall, dass sie plötzlich eine blitzende Schere hervorholten oder versuchten, sich irgendetwas ins Hemd zu stopfen. Aber was rümpfte sie die Nase über jemanden, der nur seine Pflicht tat? Sie versuchte, seine Seitenblicke zu ignorieren, und fing an, die Kataloge in der Hoffnung zu durchsuchen, dass irgendwo das Bild Felsen auf der Ghost Ranch erwähnt wurde. Es waren insgesamt sechs Hefte, nicht so sehr Kataloge, sondern eher teure, farbige Hochglanzbroschüren, Was geht vor in Xanadu?, die neben Informationen über Ausstellungen, Verkäufe und Vernissagen auch hie und da Beiträge von Merriam enthielten: Gedanken (und Abschweifungen) eines Dilettanten.
Sie hatte die ersten zwei Kataloge erfolglos durchgeblättert, als das Telefon auf Moodys Schreibtisch piepte, und einen Moment später rief er sie: »Es ist für Sie.« Er deutete auf einen Apparat am anderen Ende ihres Tisches. »Sie können da telefonieren.« Sowohl sein Tonfall als auch seine Handbewegung schienen auszudrücken, dass das Empfangen von Telefonaten gegen die Regeln des Archivs verstoße und es nicht wieder vorkommen dürfe. Sie bedankte sich und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Hi Alix«, sagte Chris, als sie das Telefon ans Ohr hielt. »Ich möchte gern umdisponieren und dachte, ich frage Sie lieber, bevor ich die Zimmer buche. Macht es Ihnen was aus, wenn wir die Sache umdrehen? Zuerst Ghost Ranch und dann Taos? Auf der Ghost Ranch fangen morgen die neuen Kurse an und dann ist alles belegt, aber für heute Nacht gibt’s noch Zimmer. Wir könnten dann morgen nach Taos weiterfahren. Wäre das in Ordnung?«
»Klar, kein Problem.«
»Hervorragend. Außerdem habe ich eine Überraschung für Sie. Ich habe mich über Hotels in Taos informiert und im Internet eine interessante Information gefunden. Sie waren sich doch nicht sicher, ob das Haus von Mabel Dodge Luhan noch steht. Nun, es ist noch da und die jetzigen Besitzer betreiben dort ein Retreat-Center und Bed and Breakfast.«
»Großartig!«, rief Alix. »Einfach wunderbar!«
»Allerdings findet ab morgen im Ort eine Konferenz statt und zwar im Taos Convention Center. Wer hätte gedacht, dass es so etwas in Taos gibt? Und alle Zimmer in dem Haus sind schon seit Wochen ausgebucht.«
Alix’ Begeisterung verflog. »Ach, schade. Aber wenigstens können wir …«
»Die Konferenz heißt ›Neue Richtungen 2010: Der aufstrebende Kunstmarkt der New Economy‹«, unterbrach sie Chris. »Es ist die dritte Konferenz über neue Richtungen …«
»Moment, das habe ich doch schon mal irgendwo gehört. Haben Sie nicht gesagt, Liz sei die treibende Kraft dahinter gewesen?«
»Ja, stimmt.«
»Aber wie … Ich meine, Liz ist doch gerade erst … und die Konferenz findet trotzdem statt?«
»Ja, man hat überlegt, die Sache abzublasen, aber man hätte niemals alle Leute rechtzeitig erreichen können. Dann die ganzen gebuchten Flüge und Hotels und die Einnahmen für die Stadt … Es wäre ein totales Desaster gewesen, deshalb findet die Konferenz jetzt als eine Art Gedenkfeier für Liz statt.«
»Interessant.«
»Ja, aber ich habe noch eine ganz besondere Überraschung auf Lager. Eine Reservierung fürs Luhan-Haus ist nämlich storniert worden und zwar ausgerechnet die für das schönste Zimmer, Mabels eigenes Schlafzimmer. Eher eine Suite, sagen sie. Mehr als genug Platz für zwei, und ich habe sie gebucht. Sie können also nach Herzenslust in dem Haus herumstöbern.«
Diese Nachricht munterte Alix wieder auf. »Chris, das ist einfach toll! Wer wohl in dem Zimmer übernachten … oh. Liz?«
»Ja, Liz«, bestätigte Chris. »Eine seltsame Fügung des Schicksals, finden Sie nicht? Oder heißt es Laune des Schicksals oder …?«
Alix spürte, wie sich Moodys verärgerter Blick in ihren Nacken bohrte. Zeit, Schluss zu machen. »Ich muss jetzt weiterarbeiten, Chris. Ich brauche höchstens noch eine Stunde und dann können wir direkt zur Ghost Ranch fahren. Und morgen früh machen wir uns nach Taos auf. So dürfte uns genug Zeit für beide Orte bleiben.«
»Gut. Ich reserviere dann mal und melde uns für die Konferenz an. Ach, außerdem werden Sie Augen machen, wenn Sie den Mietwagen sehen. Noch eine Überraschung. Also bis gleich.«
Sie entschuldigte sich noch einmal mit einem Schulterzucken und einem schuldbewussten Gesichtsausdruck und machte sich wieder an die Arbeit. Im vierten Newsletter, der Ausgabe vom November 1971, wurde sie schließlich fündig. Unter dem Titel Meister der Wüste gab es jeden Monat spezielle Angebote und ein großes Farbfoto des Bildes nahm einen Ehrenplatz zentral auf der linken Seite ein. Es wäre unmöglich zu übersehen gewesen, auch ohne die ausführliche Beschreibung darunter, die folgendermaßen begann:
Georgia O’Keeffe (geb.
1887)
Felsen auf der Ghost Ranch, 1964
Signatur: OK in einem Stern (Rückseite)
Öl auf Leinwand
91,4 cm x 76,2 cm
Treffer. Sie machte mit der Faust eine zaghafte Triumphgeste in der Luft. Sie hatte es gefunden! Das war ganz sicher das richtige Bild. Eifrig las sie weiter:
Privatsammlung, 1964–1971 (Geschenk der Künstlerin)
Echtheitsgarantie
Das Gemälde wurde von zwei anerkannten O’Keeffe-Experten untersucht und seine Echtheit bestätigt. Die notariell beglaubigten Gutachten werden dem Käufer ausgehändigt.
Enttäuscht schnaufte sie leise. Mist, es gab überhaupt keine Anhaltspunkte. Das Bild hatte einem privaten Sammler gehört, aber wem? Es war von »anerkannten Experten« für echt erklärt worden, aber wer waren die? Und wer hatte es 1971 gekauft? Falls es überhaupt verkauft worden war. Sie überflog den Rest der Seite, aber es war alles nur Füllmaterial: »In diesem wunderschönen Gemälde stellt die Künstlerin mit subtilen Farbnuancen in Ocker, Neapelgelb, Orange und Purpur die zerklüfteten Felsen in der Nähe ihres Hauses dar und … Variationen im Farbwert sind geprägt von den gewagten, aber subtilen Kontrasten, die ihr Werk … die erhabene Weite der Landschaft auf der Leinwand begreifbar …« Bla, bla, bla.
Nichts. Die Spur endete, wo sie begonnen hatte. Trotzdem suchte sie in den übrigen drei Newslettern weiter und hoffte, dort mehr zu erfahren, aber das Bild wurde nicht wieder erwähnt. Zwei Dinge fielen ihr in Merriams »Gedanken und Abschweifungen« allerdings auf. Erstens war am Kopf der Kolumne ein Foto des lächelnden Merriam abgedruckt, in dem er relativ jung wirkte, Anfang vierzig vielleicht. Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, er wäre damals älter gewesen, über sechzig, und damit hätte er nun sicher schon das Zeitliche gesegnet. Schließlich hatte die Galerie fünfunddreißig Jahre zuvor ihre Pforten geschlossen. Aber wenn er damals erst Anfang vierzig war, dann war er jetzt Mitte siebzig bis höchstens Anfang achtzig, kein junger Spund zwar, aber wahrscheinlich noch am Leben. Das Problem wäre nur, ihn aufzuspüren.
Die zweite Sache war der letzte Abschnitt in seiner Kolumne vom Juli 1972, wo er schrieb: »Wie immer gehen in der Galería Xanadu im August die Lichter aus und Ruthie und ich machen uns auf unsere alljährliche Pilgerfahrt zur Ghost Ranch für einen Monat der Erholung und Bildung (im ursprünglichen Sinn). Die Galerie wird in der ersten Septemberwoche mit großem Trara wieder geöffnet. Ab dem 3. September …«
Wieder die Ghost Ranch. Am Abend würden sie selbst dort sein. Merriam erwähnte seine »alljährliche Pilgerfahrt«. Das hieß doch, dass er regelmäßig da war. Dann gab es dort vielleicht – nein, wahrscheinlich – Unterlagen mit seiner Adresse oder Telefonnummer oder irgendeine andere Spur, die zu ihm führte.
»Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?«, fragte Moody von seinem Schreibtisch aus. »Kann ich noch was für Sie tun?«
»Nein, danke«, sagte sie, überlegte es sich dann aber. »Mr Moody«, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, ansprechenden Lächeln, »Ihre Freundin aus Albuquerque, weiß die vielleicht, was aus Henry Merriam geworden ist, nachdem er die Galerie aufgegeben hat? Wo er hingezogen ist?«
»Soviel ich weiß, ist er nirgendwo hingezogen. Er soll einen schweren Herzanfall gehabt haben. Darum hat er auch die Galerie geschlossen. Meine Freundin kannte ihn allerdings nicht so gut – das war vor fünfunddreißig Jahren, lange bevor sie ihre eigene Galerie eröffnet hat –, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass er kurze Zeit später gestorben ist. Auf jeden Fall hatte er nie wieder was mit dem Kunstbetrieb zu tun. Tut mir leid.«
»Ach, schon in Ordnung, Mr Moody«, sagte sie und steckte die Broschüren wieder in den Stehsammler. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Noch eine Spur, die im Sand verlief, dachte sie und seufzte. Es sah ganz so aus, als würde sie gar keine Informationen aus Sekundärquellen bekommen. Sie würde sich völlig auf ihre mysteriöse, für andere nur schwer nachvollziehbare Intuition verlassen müssen.
Das hieß, sie war genauso weit wie vorher.