KAPITEL 20
Der Kit Carson State Park mit seinen Tennis- und Baseballplätzen war eher eine Sportanlage als ein Park, aber es gab auch Bäume und weitläufige Rasenflächen. An diesem Morgen hingen die Wolken sehr niedrig und es sah nach Regen aus, deshalb hatte Alix den Park fast für sich allein. Es waren nur ein paar Jugendliche da, die Baseball spielten, zwei einsame Jogger und ein paar Spaziergänger. Sie war auf dem Joggingparcours und hielt an einer Gruppe Pappeln, um einem Geräusch zu lauschen, das sie noch nie bewusst gehört hatte: das sanfte Rascheln der trockenen, vergilbenden Pappelblätter im Wind.
Bevor sie weiterging, ließ sie einen Jogger in hautenger Sportbekleidung vorbei. Sie würde die Joggingpiste noch ein- oder zweimal umrunden, dann zum Luan House zurückgehen, um sich umzuziehen, und dann hinüber zum Konferenzzentrum gehen. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie die reguläre Frühstückszeit verschlafen und so die Gelegenheit verpasst hatte, die anderen Gäste zu belauschen, aber dafür wollte sie möglichst früh bei der Konferenz erscheinen.
»Ach, ist das nicht Ms London? Alix?«, hörte sie eine bekannte, heisere Stimme sagen und dann sah sie Clyde Moody, der in seinem riesigen Trenchcoat, der Humphrey Bogart alle Ehre gemacht hätte, ziemlich verloren aussah. Auf dem Kopf trug er eine Art übergroße griechische Fischermütze aus Jeansstoff, die er bis zu den Ohren heruntergezogen hatte. Er sah aus, als hätte er sich für einen Orkan gewappnet. Zwischen seinen Revers schaute wie immer eine Fliege hervor (an diesem Morgen kleine Pinguine und Eisberge).
»Ja, ich bin’s. Wie geht’s Ihnen, Mr Moody? Ich wollte Sie gestern Abend begrüßen, aber Sie waren von Horden von Bewunderern umgeben und haben mich nicht gesehen.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen. Das letzte Mal war ich von Bewunderern umgeben, als ich mich beim Sportunterricht in der Schule beim Versuch, einen Klimmzug zu machen, selbst k. o. geschlagen habe.«
Alix lachte. Moody war anscheinend bester Laune, jedenfalls für seine Verhältnisse. »Ach, ich wollte mit Ihnen über etwas reden«, sagte sie. »Ich habe gehört, einer der Kataloge, die ich mir angeschaut habe, ist Ihnen abhandengekommen und Sie dachten, ich könnte …«
»Sie sind alle verschwunden. Glauben Sie mir, ich wollte nicht andeuten … ich meine, natürlich haben Sie sie nicht absichtlich mitgenommen, aber vielleicht versehentlich.«
»Nein, ich habe alle Kataloge zurück in den Ordner gesteckt. Der stand mitten auf dem Tisch. Wissen Sie das nicht mehr?«
»Ja, daran konnte ich mich noch erinnern, aber der Ordner war später nicht an seinem Ort, auch nicht in der Nähe oder sonst wo. Und ich habe wirklich gründlich gesucht, das können Sie mir glauben. Na, jedenfalls habe ich gedacht, dass Sie ihn haben könnten. Es war nur so eine Hoffnung.« Resigniert zuckte er mit seinen schmalen Schultern.
»Das tut mir leid«, sagte sie mitfühlend. »Hoffentlich finden Sie ihn noch.«
»Ach, ganz bestimmt«, sagte er seufzend. »So was passiert nun mal.« Er lächelte. »Nur mir sollte so was eigentlich nicht passieren.« Sie gingen zur Seite, um einen weiteren Jogger vorbeizulassen. »Also …«, sagte er, »nett, mal wieder mit Ihnen zu plaudern. Ich bin gerade auf dem Weg, Ms Luhan die Ehre zu erweisen.« Dann lüftete er seinen Hut. Das sah man heutzutage auch nicht mehr oft.
»Ms Luhan?«, fragte Alix
»Ja, die ist hier im Park begraben. Wussten Sie das nicht?«
»Im Park?«
Er lächelte. »Nun ja, der Kit Carson State Park ist etwas ungewöhnlich, teils öffentliche Grünanlage, teils Friedhof. Der Friedhof – also der Kit Carson Memorial Park – ist eigentlich nur ein Teil der Anlage. Er ist da drüben. Sehen Sie den Zaun und die Bäume? Mr Carson liegt dort natürlich auch begraben, aber ich gehe wegen Mabel hin. Eine außergewöhnliche Persönlichkeit und eine große Förderin der Künste.«
»Ja, ich weiß.«
»Ach ja … Möchten Sie nicht mitkommen?«
Alix überlegte kurz. »Ja, gern. Ich möchte ihr auch die Ehre erweisen.« Wenigstens aus Dankbarkeit, dass Mabel nicht in ihrem Zimmer herumspukte.
Moody nickte erfreut. »Kommen Sie.«
Der Friedhof sah so aus wie die meisten Kleinstadtfriedhöfe, gepflegt, aber nicht makellos, mit spärlichem, zertretenem Gras und verwitterten, altersschiefen Grabsteinen, die nicht in Reihen, sondern kreuz und quer standen – eine Atmosphäre, die an vergangene Zeiten und verschwundene Bräuche erinnerte. Sie waren ganz allein und machten kurz an der Ruhestätte des Nationalhelden Halt, auf dessen schlichtem Grabstein, umgeben von wenigen gemeißelten Verzierungen, eine einfache Inschrift zu lesen war: Kit Carson, verstorben am 23. Mai 1868 im Alter von 59 Jahren.
Mabels Gedenkstätte war noch bescheidener, eine rechteckige Marmorplatte, nicht einmal kniehoch, auf einem flachen Sockel, mit einer ebenso kurzen Inschrift: Mabel Dodge Luhan, 26. Feb. 1879, 13. Aug.1962. Ansonsten war der Stein vollkommen schmucklos, ohne Meißelungen oder andere Verzierungen. Er stand in einer besonders trostlosen Ecke des Friedhofs, weitab von Carson und den anderen Honoratioren der Stadt.
Alix war überrascht. Nach allem, was sie über die Luhan wusste – oder über Mabel, wie sie anscheinend jeder hier nannte –, hätte Alix irgendetwas Pompöses oder Extravagantes erwartet. »Sie liegt im billigen Teil des Friedhofs, was?«, sagte sie.
»Ja, sieht ganz so aus«, sagte Moody, als sie zu beiden Seiten des Steins standen. Er schien sehr ergriffen, geradezu aufgewühlt von Mabels Präsenz. Er hatte respektvoll seine Mütze abgenommen, die er jetzt in beiden Händen wrang. »Ich meine, eine Frau, die so viel für … für …« Er presste die Lippen zusammen, schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Oh Mann, fang bloß nicht an zu heulen, dachte Alix. »Aber trotzdem«, sagte sie rasch, »es ist gut zu wissen, dass die Menschen sie nicht vergessen haben. Sehen Sie sich die ganzen Steine an.« Zum Gedenken hatten Leute Flusssteine und Kiesel auf Mabels Grabstein gelegt.
Moody nickte heftig. »Wissen Sie«, sagte er, wobei er sehr schnell sprach und sogar ein bisschen stotterte, »dieser Brauch, Steine auf Gräber zu legen, ist eine uralte jüdische Tradition. Die Leute halfen sozusagen mit, eine Gedenkstätte für den Verschiedenen zu bauen, denn damals gab es noch keine Grabsteine, wie wir sie kennen, sondern nur Steinhaufen. Aber heute, heute ist es ein Akt des … des Gedenkens, um … um …« Er verschluckte sich beinah an seinem Redeschwall.
Was ist eigentlich los?, fragte sich Alix, die immer beunruhigter wurde, während er wie irre weiterbrabbelte. Hat er einen Nervenzusammenbruch oder so was? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie vollkommen allein waren. Niemand in Sicht- oder Hörweite. Sie wich einen Schritt zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht, ganz und gar nicht …
Peng! Bei dem Geräusch zuckte sie zusammen und gleichzeitig verspürte sie einen stechenden Schmerz außen an ihrem rechten Oberschenkel. Sie schlug mit der Hand darauf, denn sie dachte, es wäre eine Biene, aber als sie Fleisch fühlte anstatt Stoff, schaute sie hinunter auf einen fünf Zentimeter langen Riss in ihrer Jeans und darunter eine oberflächliche, drei Zentimeter lange, schmierig aussehende Wunde in ihrem Bein. Während sie fassungslos darauf starrte, traten kleine Blutstropfen aus. Ein Streifschuss? Sie sah hoch zu Moody, der noch schockierter zu sein schien als sie selbst.
»Haben Sie gerade auf mich geschossen?«
»Ich … ich …«
Doch jetzt sah sie das Loch in der Mütze in seiner Hand, von der Rauch aufstieg. Panisch sah sie sich um, wollte wegrennen, sich hinter einem Baum verstecken, aber er hatte den Hut fallen lassen und zielte nun mit der Pistole direkt auf ihre Brust. Er zitterte so heftig, dass die Waffe in seiner Hand auf- und abwippte, als würde jemand mit einem Bindfaden daran ziehen, und trotzdem konnte er sie nicht verfehlen, nicht aus zwei Meter Entfernung. Sie sah, dass es sich um eine halbautomatische Waffe handelte. Das hieß, falls der Schuss doch danebenging, konnte er direkt noch mal schießen – und noch mal und noch mal, so schnell, wie er es schaffte abzudrücken.
Obwohl sie wusste, wie dumm das war, hielt sie sich die Hände vor die Augen. Etwas anderes fiel ihr in dem Moment nicht ein. »Mr Moody …«
Er streckte seinen Arm aus und zielte. »Es tut mir wirklich leid, aber Sie sind selbst schuld.«
Wie betäubt starrte sie ihn an und schüttelte den Kopf, als ob ihn das aufhalten würde. »Aber … aber warum …?
Sie wusste bereits warum. Es war ihr in dem Moment klargeworden, als sie die Frage stellte. Die Antwort war so einfach, so offensichtlich, dass sie nicht verstand, warum sie nicht früher darauf gekommen war. Der gefälschte Katalog. Moody war nicht Opfer des Betrugs, er war der Täter. Und wer weiß, wie viele Betrügereien er noch auf dem Kerbholz hatte. Alix hatte das Pech gehabt, ihn zu erwischen.
»Es tut mir leid«, sagte er wieder. »Aber ich habe keine Wahl.« Er presste die Lippen zusammen.
Und so sterbe ich also, dachte sie, während sie stocksteif dastand. Sie konnte es nicht wirklich glauben. Sollte ihr Leben wirklich hier auf diesem Provinzfriedhof enden, erschossen von einem … einem verrückten Museumsarchivar? Nein, das war einfach zu absurd. Es konnte nicht …
Und tat es auch nicht. Als er abdrückte, passierte gar nichts. Alix hatte unwillkürlich die Augen zugedrückt, aber als sie das leise Klicken hörte, riss sie sie wieder auf. Er versuchte es noch mal. Wieder ein Klicken. Er knurrte ungehalten und schüttelte die blockierte Waffe wie eine Ketchupflasche.
Da wurde Alix lebendig. Sie nahm sich einen golfballgroßen Stein von Mabels Grab, schleuderte ihn Moody an den Kopf und stürzte sich auf ihn. Moody konnte dem Stein ausweichen, aber nicht Alix. Mit gesenktem Kopf rammte sie ihn auf Hüfthöhe, legte beide Arme um ihn und stemmte sich mit den Beinen ab. Alix war nicht viel leichter als er und die Wucht ihrer Attacke ließ ihn zurücktaumeln, während sie noch immer an ihm hing wie eine Klette und sich mit den Füßen vom Boden abstieß. Neben Mabels Grab war noch ein Gedenkstein, ein schwarzer Basaltbrocken, über den er stolperte. Während Moody in hohem Bogen rückwärts über den Stein flog, wurde die Waffe zur Seite geschleudert. Moody landete auf dem Rücken, eingezwängt zwischen dem Felsbrocken und der Ecke der Einzäunung. Alix fiel der Länge nach auf ihn. Die Waffe war ganz in der Nähe gelandet.
Blitzschnell hechtete sie nach der Pistole, während er versuchte, sich aus seiner Ecke zu befreien. Er wollte sich gerade umdrehen, da sah er direkt in den Lauf der Pistole.
Zuerst zitterte er, drückte sich weiter in die Ecke und hob die Hände hoch, doch dann überlegte er sichs anders, kicherte nervös, zog die Beine an …
»Keine Bewegung, verstanden?«
… und richtete sich ganz auf. Er ließ die Hände sinken. Seltsamerweise wirkte er ohne die Waffe in der Hand viel ruhiger und selbstsicherer. »Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte er und machte einen Schritt auf sie zu. »Die klemmt. Damit können Sie mich nicht erschießen.« Dann machte er noch einen Schritt.
Alix versuchte hartnäckig, ihr eigenes Zittern zu unterdrücken, und wich nicht von der Stelle. Um das Magazin richtig reinzudrücken, schlug sie mit dem Ballen der linken Hand fest unter den Griff der Pistole, riss den Schlitten zurück und ließ ihn vorschnellen. Sie hatte gehofft, das unheimliche Ritsch-Ratsch beim Durchladen würde reichen, um ihn aufzuhalten, aber er schien es gar nicht zu hören. Er zögerte nur einen Sekundenbruchteil und kam dann noch näher auf sie zu. Sie hielt den Lauf nach oben, betete innerlich kurz und drückte ab.
Entweder lag es an ihrem Gebet oder an dem Versuch, die Kammer freizumachen, aber es ging tatsächlich ein Schuss los. Das laute Peng! war Musik in ihren Ohren, der heftige Rückstoß wie eine Liebkosung.
Moody blieb abrupt stehen und machte große Augen. »Wie haben Sie … Die war doch …«
»Reinhauen, durchladen … abdrücken«, sagte Alix so gelassen wie möglich. »Erste Hilfe für eine blockierte Halbautomatische.« Sie trug ziemlich dick auf, als wäre sie eingefleischte Waffenexpertin. Dabei hatte sie nur Jahre zuvor mal zwei Schießstunden genommen. Nach der Scheidung von Paynton hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich eine Waffe zuzulegen, und zwar genau diese Glock 30, die beliebteste Pistole der Welt. Dann hatte sie es sich aber anders überlegt und seither keine Waffe mehr angerührt. Von dem Unterricht wusste sie fast nichts mehr, nur das Mantra des Schießlehrers, »reinhauen, durchladen, abdrücken«, hatte sich ihr glücklicherweise eingeprägt.
»Ja, aber Sie schießen ja doch nicht auf mich«, sagte Moody, aber es war klar, dass sie jetzt das Sagen hatte. Er sah ängstlich aus und war ziemlich blass um die Nase. Er bluffte nur.
Das nutzte sie aus. »Und ob ich schieße«, fauchte sie und ging auf ihn zu. »Zurück oder ich knall Sie ab!« Sie fuchtelte mit der Pistole vor ihm herum. »Glauben Sie mir, es wäre mir eine wahre Freude.«
Alix bluffte auch, aber ein Bluff mit Waffe in der Hand ist allemal besser als ohne. Aber würde sie wirklich auf ihn schießen, wenn sie müsste? Ohne zu zögern, sagte sie sich und es war ihr wirklich ernst. Schließlich hatte er versucht, sie umzubringen. Offenbar sogar zweimal. Und wahrscheinlich hatte er auch Liz auf dem Gewissen. Sie würde abdrücken, ohne mit der Wimper zu zucken. Moody erkannte ihren Gemütszustand wohl an ihrem Blick, jedenfalls war er klug genug zurückzuweichen.
Sie schritt langsam auf ihn zu. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. »Sie haben auch Mr Merriam umbringen lassen, nicht wahr?«
»Ich kenne keinen …«
»Oh doch.«
Während sie redete, wurde ihr alles nach und nach klar. Nach dem, was Barb ihnen auf der Ghost Ranch erzählt hatte, fiel es nicht schwer, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren. Merriam hatte vom Sohn eines Freundes erfahren, dass Felsen auf der Ghost Ranch von der Galerie Blue Coyote in Santa Fe zum Verkauf angeboten wurde, und zu den Provenienzunterlagen des Bildes gehörte auch ein alter Katalog der Galería Xanadu, der sich nun im Museumsarchiv befand.
Ganz sicher, dieses Bild nie in seiner Galerie angeboten zu haben, hatte Merriam im Archiv angerufen, um die Sache zu klären. Er hatte mit Moody gesprochen, der wahrscheinlich aus allen Wolken gefallen war, weil Merriam nicht nur quicklebendig, sondern auch verärgert und kurz davor war, die ganze Sache platzen zu lassen. Damit hatte der alte Mann sein eigenes Todesurteil gesprochen.
»Sie waren es, mit dem er damals telefoniert hat, nicht wahr? Er wollte nach Santa Fe, um sich mit Ihnen zu treffen. Sie haben ihn an derselben Stelle des Highway umgebracht, an der Sie mich auch umbringen wollten.« Sie stieß mit der Waffe nach ihm. »Stimmt’s?«
»Ich …« Panisch riss Moody die Hände hoch und sprang zurück.
Und wieder stolperte er über denselben Basaltbrocken und fiel nach hinten zwischen Grabstein und Zaun. Er lag auf dem Rücken, in der Ecke eingezwängt, und zappelte wie ein Käfer.
»Keine Bewegung, verdammt noch mal!«, herrschte Alix ihn an.
Moody zappelte weiter und es gelang ihm, sich umzudrehen, er traute sich jedoch nicht so richtig aufzustehen.
»Ich warne Sie«, sagte Alix. »Stehen … Sie … nicht …auf.«
Aber Moody zog, ohne sie aus den Augen zu lassen, vorsichtig die Beine an und ging in die Hocke.
»Lassen Sie es nicht drauf ankommen«, sagte sie durch zusammengepresste Lippen. »Es ist mein Ernst. Runter auf den Boden.« Als er sich nicht rührte, richtete sie die Pistole auf seine Stirn, wie der Schießlehrer es ihr gezeigt hatte: Arme ausgestreckt, aber die Ellbogen nicht durchgedrückt; der Ballen der rechten Hand in der linken ruhend. Er setzte sich nicht wieder hin, aber er stand auch nicht auf, und ein paar lange Sekunden starrten sie sich nur gegenseitig an. Er versuchte, Mut zu fassen, das konnte sie sehen. Ihr Adrenalinspiegel hatte den Höhepunkt erreicht und ebbte jetzt langsam ab. Und damit auch ihr Wagemut. Was nun? Würde er wirklich aufstehen? Und dann? Wäre sie tatsächlich in der Lage, auf einen Menschen zu schießen – auch wenn er ein Mörder war? Ja, sagte sie sich wieder. Sie würde sich bemühen, ihn nicht zu töten, denn sie wollte, dass er von Polizei und FBI verhört wurde. Schließlich gab es eine Menge zu klären. Aber sie würde ihm eine Kugel ins Bein oder in den Arm oder sonst wohin jagen, da hatte sie keine Zweifel. Aber wenn eine Kugel nicht reichte, um ihn außer Gefecht zu setzen? Und wenn …? Nein. Kein Wenn und kein Aber. Sie würde tun, was sie tun musste.
Moody war da anderer Meinung. Ganz langsam, aber ohne zu zögern, richtete er sich auf.
»Setzen … Sie … sich«, sagte Alix ruhig, aber nachdrücklich. Ihre Arme wurden müde und sie hatte sie leicht gesenkt. Jetzt hob sie sie wieder an, zielte mit äußerster Präzision auf seine rechte Schulter und hielt ihre Hände ganz still. Sie machte einen Schritt nach vorn. Ihr Finger bog sich langsam um den Abzug.
Aber zu ihrer ungeheuren Erleichterung gab Moody sich geschlagen, warf die Hände in die Luft und ließ sich auf den Boden fallen. »In Ordnung, ich setze mich ja! Sehen Sie? Ich sitze!« Blanke Angst stand in seinen Augen, als er zu ihr hochsah.
Nein, sie sah er gar nicht an …
Sie drehte sich auf dem Absatz um und zu ihrer Überraschung sah sie Ted, der, noch drei Meter entfernt, langsam und bedächtig auf sie zukam, seine eigene Waffe in der Hand, aber nach unten gerichtet. »Das ist gut so. In Ordnung«, sagte er beschwichtigend zu Moody. »Alix, bleiben Sie, wo Sie sind, aber nehmen Sie die Waffe runter.«
Unendlich erleichtert ließ sie die Waffe sinken. »Mann, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte sie matt, als er bei ihr war. Sie musste all ihre Willenskraft zusammennehmen, um nicht ihrem Drang nachzugeben und dankbar an seine Brust zu sinken. Ihre Knie waren plötzlich wie Wackelpudding. »Ich kann hier wirklich ein bisschen Hilfe gebrauchen.«
Ted nahm ihr die Waffe ab – ihre Finger hatten sich so verkrampft, dass er sie kräftig umbiegen musste – und dann sah er vom kauernden Moody zu Alix und wieder zu Moody.
»Wissen Sie was, Mann?«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich glaube, Sie sind derjenige, der hier Hilfe braucht.«