KAPITEL 19
Ihre Aufregung war aber nicht so groß, dass ihr der Appetit vergangen wäre. Deshalb setzte sie sich allein in den großen Speiseraum (Frühstück wurde eigentlich erst ab acht serviert) und verputzte einen großen Teller Pfannkuchen einmal mit Ahornsirup und einmal mit Speck. Außerdem zwei gewendete Spiegeleier, auf einem zweiten Teller. Und noch mehr Kaffee. Und noch eins von den leckeren Marzipanteilchen, vielleicht auch zwei. Gesättigt und mit neuem Schwung überschüttete sie die beiden strahlenden Köchinnen mit ehrlicher Dankbarkeit und Lob, ließ sich einen Pappbecher Kaffee geben und ging hinaus in den gepflasterten Säulenvorbau. Dort stand sie eine Weile, verdaute zufrieden ihr Frühstück, trank ihren Kaffee und atmete die saubere Luft ein, die nach einem herannahenden Wüstenregen roch. Aber vor allem freute sie sich schon darauf, Ted mit dieser Neuigkeit zu überraschen. Sicher würde er sie mit Lob überschütten, wenn er erfuhr, dass sie den Fälscher von Felsen auf der Ghost Ranch identifiziert hatte, der zufällig auch der Dieb war, den Chris und sie kurz nach dem Mord überrascht hatten. Und um es dem FBI besonders leicht zu machen, stand Mr Teal hier in Taos für ein vertrauliches Gespräch zur Verfügung, wann immer es Ted passte. Alles ging wunderbar auf.
Ach, ich bin so glücklich, stellte sie fest. Die Geschehnisse dieses Morgens – das Gespräch mit Katryn, das plötzliche Verständnis für Geoffs Motive und die Entdeckung des Bildes an der Treppe –, all das ließ Selbstmitleid und Verbitterung, die sie so lange geplagt hatten, langsam von ihr abfallen. Und der lange Schlaf und das gute Frühstück taten das Ihre. Es war, als würde ihr eine schwere Last genommen und sie würde aus einem tiefen, dunklen Loch auftauchen, das sie sich selbst gegraben hatte. Es kam alles darauf an, wie man die Dinge betrachtete. Die Welt war unendlich faszinierend. Auf Schritt und Tritt begegneten einem unerwartete Wendungen, Fehlschläge und Überraschungen. Was war denn daran so schrecklich? Und wenn plötzlich die ganze Welt verrücktspielte wie in den letzten Tagen, dann konnte man nur darüber lachen.
Sie war jung, gesund und begabt. Und sie war am Leben! Worüber beschwerte sie sich eigentlich? Nun gut, ihre Karriere lief nicht wie erhofft. Na und? Sie konnte immer zurück nach Italien, ins romantische, wonnige Italien, um an der Seite des grandiosen Fabrizio Santullo zu arbeiten und zu lernen, und wie viele Leute in ihrem Alter hatten solche Möglichkeiten schon? Er hatte sie geradezu angefleht zu bleiben und würde sie mit Kusshand wieder nehmen.
Es gab da aber noch etwas, wovon ihr ganz warm ums Herz wurde, und es wurde ihr erst jetzt klar. Sie hatte Zeit gehabt zu verarbeiten, was Ted ihr erzählt hatte, dass nämlich fast alles Gute, das ihr passiert war, von ihrem Vater eingefädelt worden war, und sie sah die Dinge jetzt mit anderen Augen. Wie konnte sie ihm das nur übelnehmen? Da war Geoff, vollkommen am Ende und von der ganzen Welt gemieden (selbst von seinem einzigen Kind), der im Knast seine verbleibenden Jahre verrinnen sah, und an wen dachte er in dieser Zeit? An sie. Er hatte die wenigen beruflichen Beziehungen, die ihm noch geblieben waren, nicht für sich genutzt, sondern um Möglichkeiten für sie aufzutun. Und zwar, ohne auf Dankbarkeit oder Anerkennung zu hoffen, sondern nur aus Liebe. Sie war den Tränen nah.
Als ihr Telefon piepte, schreckte sie aus ihren Gedanken, und ihre Heulattacke war gebannt. Sie setzte sich auf eine der blauen Holzbänke unter den Säulen und klappte das Handy auf.
Es war Ted, der sich anhörte, als wäre er auch schon so lange wach wie sie. »Hi Alix, ich habe mir gedacht, wir fangen schon mal an, den Tag zu planen. Die Konferenz fängt um …«
»Moment«, sagte sie und platzte fast vor Aufregung. »Ich muss Ihnen unbedingt was erzählen und ich glaube, das wird Ihnen gefallen. Mit ist hier ein kleines Bild aufgefallen und als ich es mir näher angeschaut habe …«
Sie brauchte fünf Minuten, um ihm alles zu berichten, und er war gebührend beeindruckt, sowohl von ihrer Entdeckung als auch von ihren Schlussfolgerungen, aber seine Reaktion auf die Riesenneuigkeit an sich fiel anders aus als erwartet. Eher lauwarm. Ja, es sei sicher schön zu wissen, wer der Fälscher war, und Ted würde sich auch schon auf eine »Unterhaltung« mit ihm freuen, aber er sei nicht hinter dem Fälscher her. Teal sei wahrscheinlich nur ein kleiner Fisch, den jemand für diesen Job angeheuert hatte. Ted wollte an die Hauptakteure herankommen.
»Aber es ist doch möglich, dass Teal etwas über diese Leute weiß«, sagte Alix.
»Möglich«, erwiderte Ted zweifelnd, »aber normalerweise arbeitet so ein Ring, falls es sich um einen Ring handelt, nach dem Need-to-know-Prinzip. Das heißt, je weniger die Randfiguren wissen, desto besser. Ich nehme an, der Typ war gar nicht eingeweiht.«
»Okay, was ist mit dem Mord an Liz? Wollen Sie dem nicht …«
»Teal hat Liz nicht umgebracht«, sagte Ted.
»Was?« Sie zuckte zusammen, stieß den fast vollen Becher von der Armlehne der Bank und ihr Kaffee ergoss sich auf das Kopfsteinpflaster. »Wie können Sie da so sicher sein? Wir haben ihn gesehen, wie er aus ihrem Büro kam … gerannt kam …«
»Ja, zwei Stunden nach dem Todeseintritt.«
»Zwei Stunden?«, wiederholte sie. »Ich dachte …«
»Am Tatort hat der Gerichtsmediziner gesagt, sie sei höchstens zwei Stunden tot. Mendoza hat gestern den Obduktionsbericht bekommen. Demnach waren es ziemlich genau zwei Stunden.«
»Nun gut, aber das beweist nicht, dass er sie nicht umgebracht hat.«
»Nein, Alix, aber Mörder bleiben nicht am Tatort. Die machen sich für gewöhnlich so schnell wie möglich aus dem Staub. Überlegen Sie doch mal: Wieso sollte er denn so lange dortbleiben? Das ergibt doch keinen Sinn. Nein, jemand anders hat sie umgebracht. Teal ist später gekommen, hat die Situation ausgenutzt und sich das Bild geschnappt.«
Alix seufzte. Ted hatte recht, der Fall war noch lange nicht gelöst. »Das wirft aber eine andere Frage auf«, sagte sie nachdenklich. »Warum stiehlt er sein eigenes Bild?«
»Gute Frage«, sagte Ted. »Darauf werde ich kommen, wenn ich ihn mir vornehme. Alix, die Konferenz beginnt um zehn mit einem Brunch. Da sollten wir dabei sein. Liz wird dort sicher auch Thema sein.«
»Okay, wir treffen uns dort.«
»Nun.« Er räusperte sich. »Bis dahin sind es noch ein paar Stunden. Haben Sie schon gefrühstückt?«
Und ob! Eher Frühstück, Mittag- und Abendessen auf einmal! »Ja, ich habe eine Kleinigkeit gegessen«, antwortete sie, doch dann wurde ihr bewusst, dass es eine Einladung sein sollte. »Aber wir könnten uns auf einen Kaffee treffen«, fügte sie geistesgegenwärtig hinzu.
Aber anscheinend hatte sie zu lange gezögert. »Nein, schon in Ordnung«, sagte er. »Ich esse morgens meistens sowieso nicht viel.« Dann eine Pause. »Also was haben Sie heute Morgen vor?«
»Ich dachte, ich schaue mir die Gegend an. Die Frauen aus der Küche haben gesagt, es gebe ein Stück weiter an der Morada Lane einen schönen Park. Da gehe ich vielleicht spazieren.«
Nun war der Ball in seinem Feld – ach, da komme ich mit –, aber er stellte sich genauso dumm an wie sie. »Ja, das ist der Kit Carson State Park. Der hat hier gelebt. Kit Carson meine ich. Und ist hier auch gestorben.«
»Ach, tatsächlich?«
Es wurde einfach immer alberner. Sie schlichen umeinander herum wie zwei Sechzehnjährige, beide zu ungeschickt, den ersten Schritt zu tun. Er wusste natürlich, dass sie Single war (er wusste ja auch alles andere über sie), und ihr so berühmter Instinkt sagte ihr, dass er unverheiratet war und sie auch attraktiv fand. Oder irrte sie sich in diesem Fall? Vielleicht waren ihre Fähigkeiten, ganz wie bei D. H. Lawrence, in manchen Bereichen besser entwickelt als in anderen.
»Also, sehen wir uns dann später?«, fragte sie. Nun hatte sie ihm den Ball wieder zugespielt. Er musste nur etwas daraus machen.
Aber er wollte anscheinend nicht. Oder konnte nicht. »Alles klar«, sagte er und legte auf.
»In Ordnung«, grummelte sie in ihr Handy, obwohl er nicht mehr dran war. »Du willst also eine reine Geschäftsbeziehung? Die kannst du haben. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«
Nach diesem Gespräch hatte sie erst recht einen Spaziergang nötig, aber zuerst wollte sie sich umziehen und für den Fall, dass es regnete, die gute Hose und die relativ neuen flachen Schuhe gegen Jeans und Turnschuhe austauschen und ihre Windjacke anziehen. Aber sobald sie auf ihrem Zimmer war, fing sie an zu gähnen. Kaum zu glauben, nachdem sie so lang geschlafen hatte, aber das Bett sah sehr einladend aus. Ach, warum nicht? Bis zum Brunch war noch genug Zeit für ein Nickerchen. Sie zog Schuhe und Hose aus, schlüpfte zufrieden zwischen die Laken, seufzte einmal und schlief dann ein, ohne von Mabels Geist behelligt zu werden.
Direkt nach dem Gespräch mit Alix hatte Ted Mendoza wegen Brandon Teal angerufen und war dann runter in den Speisesaal der Casa Benavides gegangen. Es stimmte, dass er morgens wenig zu sich nahm, meistens nur einen Kaffee mit einem Bagel oder einem englischen Muffin, aber er ließ sich gern Zeit und las bei seiner zweiten Tasse Kaffee die Zeitung. An diesem Morgen hatte er zwar die aktuelle Taos News aufgeschlagen vor sich liegen, aber er las nicht wirklich. Warum war er bei der Unterhaltung mit Alix so steif gewesen? Er hatte sich so dumm angestellt. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er mochte Frauen, war gern mit ihnen zusammen, und Alix hatte etwas, das ihm ganz besonders gefiel. Aber warum hatte er sich dann so seltsam verhalten? Es lag doch nicht etwa an ihrer etwas anrüchigen Herkunft? Nein, so engstirnig war er nicht. Menschen hatten ihren eigenen Charakter, sie waren keine Abziehbilder ihrer Eltern. Er hatte zwar erst vor zwei Tagen zu Mendoza gesagt, dass er sie wegen ihres Vaters verdächtig fand, aber das stimmte nicht. Er hatte sie auf Anhieb unsympathisch gefunden und nur nach einem Grund dafür gesucht. (Wie schnell sich so was doch ändern konnte.)
Nein, sein Problem an diesem Morgen hatte nichts mit solchen Überlegungen zu tun. Es kam vom Bauch her. Er hatte den Mund nicht aufbekommen, weil er sie nicht abschrecken wollte. Er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Stattdessen hatte er es versaut, weil er völlig uninteressiert gewirkt hatte. Und uninteressant obendrein.
Als sein Handy piepte, war er dankbar für die Ablenkung. Es war Mendoza, der direkt zur Sache kam: »Teal ist tot, Ted.«
»Er ist …?« Ted schaute sich schnell um und verstummte. Er hatte seinen aufgesetzten Akzent vergessen. Nur zwei Wörter, aber wenn die Falschen mithörten, flog er auf. Jedoch schien keiner der Frühstücksgäste es bemerkt zu haben. Er stand auf, eilte hinaus in den Hof und stellte sich neben den maurischen Springbrunnen.
»Ich habe zwei Leute hingeschickt, um ihn zu verhören«, fuhr Mendoza fort. »Der Vermieter hat sie reingelassen. Sie haben ihn im Badezimmer gefunden …«
»Eduardo, meinen Sie mit tot etwa umgebracht?
»Genau das meine ich. Es sollte wie ein Unfall aussehen, als ob er ausgerutscht wäre und sich den Kopf am Waschbecken gestoßen hätte, aber es war sehr laienhaft inszeniert. Der Gerichtsmediziner brauchte nur fünf Minuten, um auf ein Tötungsdelikt zu schließen.«
»Großer Gott«, sagte Ted, »das hört ja gar nicht mehr auf.« Er schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, er ist schon mindestens zwei Tage tot, stimmt’s? Seit Samstag oder noch länger.«
»Weil seit Samstag allgemein bekannt ist, dass es sich bei dem Bild um eine Fälschung handelt. Es gibt also keinen Grund mehr, jemanden deswegen umzubringen.«
»Hmm, vielleicht doch. Der Todeseintritt liegt zwischen zwölf und zwanzig Stunden zurück. Wir werden es noch genauer erfahren …«
»Aber … aber das heißt ja, er ist erst gestern umgebracht worden!«
»Ja«, sage Mendoza zögernd, »und was genau sagt uns das?«
»Dass immer noch jemand rumläuft und Leute umbringt, obwohl mittlerweile jeder weiß, dass das O’Keeffe-Bild eine Fälschung ist!«
»Ja, sicher …«
»Das heißt, ich habe mich geirrt. Und Alix ist immer noch in Gefahr. Jemand versucht vielleicht noch mal … und ich habe sie mit hierhergeschleppt, wo sie alle versammelt sind, und lasse sie ganz allein draußen rumlaufen. Jeder von denen könnte … Oh Gott, Eduardo, in was habe ich sie da reingezogen? Ich muss sie finden!«