KAPITEL 8

Bei dem Glas Wein blieb es nicht. Dazu kamen noch eine Tasse Kaffee und zwei von den Tapas, die Chris ihr wärmstens empfahl: Chorizo mit Feigenaioli und marokkanisch gewürzte Schweinefleischspieße. Als sie beim Kaffee saßen, kam Alix ein seltsamer Gedanke.

»Chris«, sagte sie zögernd, »als wir in Liz’ Büro kamen, wissen Sie noch, was sie da gesagt hat?«

»Ja, sie hat gesagt, sie sei überrascht, uns zu sehen.«

»Nein, sie hat gesagt: ›Was machen Sie denn hier?‹«

Chris runzelte die Stirn. Sie begriff offensichtlich nicht, worauf Alix hinauswollte.

»Ist das nicht das Gleiche?«

»Nicht so ganz. Wen hat sie mit der Frage gemeint?«

»Was soll diese Frage? Uns natürlich. Alix, worauf wollen Sie …«

Alix schüttelte den Kopf. »Nein. Mir ist gerade bewusst geworden, dass sie mir dabei direkt ins Gesicht gesehen hat. Außerdem hat Ihre alte Freundin ›Sie‹ gesagt. Was machen Sie denn hier?«

»In Ordnung, und worauf wollen Sie hinaus?«

Nachdenklich spielte Alix mit ihrer Kaffeetasse und dann sagte sie: »Ich glaube, sie war vor allem überrascht, mich zu sehen, nicht uns beide.«

Chris verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Alix, ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

»War sie etwa überrascht, mich zu sehen«, sagte Alix, »weil sie dachte, ich wäre tot?«

Es dauerte eine Weile, bis Chris begriff, und dann sah sie sie überrascht an. »Sie glauben, die Explosion … Sie glauben, Liz … Sie glauben, sie hat versucht, Sie in die Luft zu jagen?« Bei den letzten Worten stieg ihre Stimme um eine Oktave.

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, aber vielleicht wollte sie mich mit Propangas vergiften, nur dass das Gasleck größer war, als sie dachte, und es zu einer Explosion kam.«

Chris machte große Augen. »Sind Sie übergeschnappt? Sie soll versucht haben, Sie umzubringen? Warum denn?«

»Damit ich mir das Bild nicht ansehen kann?«, sagte Alix in einem fragenden Ton, denn der Gedanke kam ihr mittlerweile auch lächerlich vor. »Weil das Bild gefälscht ist?«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Ich kann mir doch jemand anderen besorgen. Bringt sie den auch um? Und den Nächsten auch? Und wie soll Liz denn vor unserer Ankunft in Ihre Casita gekommen sein und an dem Gas herummanipuliert haben? Sie hat uns doch gefahren, schon vergessen? Sie war die ganze Zeit bei uns, bis wir eingecheckt haben. Und woher soll sie überhaupt wissen, in welcher Casita Sie übernachten? Und wieso sollte sie …«

»Schon gut, Sie haben recht«, sagte Alix seufzend. »Ich werde wohl langsam paranoid.«

»Na ja, nach dem, was Sie heute erlebt haben, kein Wunder. Aber da sind Sie wirklich auf dem Holzweg. Liz ist vielleicht nicht der liebenswürdigste Mensch auf der Welt, aber eine Mörderin? Nein.«

Alix nickte. »Sie haben recht«, sagte sie wieder. »Ich brauche einfach eine Mütze Schlaf. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Kommen Sie, sehen wir uns Ihr Bild an.«

Als sie an der Galerie Blue Coyote ankamen, waren schon alle Lichter aus und einer von Liz’ Assistenten schloss gerade ab. »Oh, tut mir leid, wir machen gerade zu.«

»Ich weiß. Ich bin Chris LeMay und das hier …«

»Ach so. Liz erwartet Sie, aber könnten Sie bitte zur Terrasse hinterm Haus gehen? Dort gibt’s eine Hintertür zu ihrem Büro. Die Außenbeleuchtung bleibt immer an, Sie werden es also problemlos finden.«

»Gut. Danke schön.«

»Ähm …« Der junge Mann zögerte. »Wenn sie nicht sofort aufmacht, müssen sie etwas lauter klopfen. Ich glaube, äh, sie hat sich mal kurz hingelegt, und manchmal bekommt man sie nicht so schnell wieder wach.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Chris und Alix sahen sich an. Sie hatten natürlich verstanden, was er meinte. Liz war voll.

Der Mond war von Wolken verschleiert, deshalb war die Wegbeleuchtung hilfreich. Sie gingen den gewundenen Weg entlang, vorbei an halb lebensgroßen Tierbronzen auf Sockeln: ein Wildschwein, eine Bergziege, ein sich duckender Puma … Dann kamen sie zur Hintertür.

»Es ist dunkel da drin«, sagte Alix stutzig. »Warum hat sie denn das Licht ausgemacht?«

»Wie er schon sagte, sie schläft«, sagte Chris und rüttelte am Türknopf. »Liz!«, rief sie laut wie ein Nebelhorn. »Bist du da drin?« Für alle Fälle rüttelte sie noch mal am Türknopf.

»Vielleicht sollten wir …«, begann Alix.

Die Tür flog auf und traf Chris mit voller Wucht, die mit ebensolcher Wucht gegen Alix gestoßen wurde, die nach hinten taumelte und umfiel. Und Chris landete auf Alix. In der Dunkelheit wussten sie vor lauter fuchtelnden Armen und zappelnden Beinen nicht mehr, wo oben und unten war, geschweige denn, was los war. Aber der Mann war nicht zu übersehen. Eindeutig ein Mann. Ein Riese. Er kam durch die Tür gerast und stolperte über Chris’ Fuß (Schuhgröße dreiundvierzig). Er hatte irgendetwas im Arm, das nun ein paar Meter weiter in eine Gruppe Zwergkiefern flog.

»Autsch!«, sagte Chris.

»Mist!«, sagte der Mann, der zwar auf den Füßen blieb, aber dann mit dem Kopf gegen den Puma stieß, was sich anhörte, als würde jemand mit einem Hammer auf eine dicke Glocke schlagen. »Scheiße!« Stöhnend ging er in die Knie und hielt sich mit beiden Händen die Stirn.

»He!«, schrie Chris und versuchte aufzustehen, während Alix, noch halb unter Chris’ massivem Körper begraben, Mühe hatte, sich überhaupt zu bewegen. Wie in einem Laurel-und-Hardy-Film fielen sie noch mal hin und als sie endlich ihre Gliedmaßen sortiert hatten, hatte der Mann sich schon aufgerappelt, ging taumelnd Richtung Canyon Road, wobei er sich immer noch den Kopf hielt, und verschwand schnell um die Ecke.

»Was zum Teufel …«, begann Chris, aber Alix war schon bei den Kiefernsträuchern.

»Was ich befürchtet hatte«, sagte sie, zog den Gegenstand aus den Zweigen, den sie dort hatte landen sehen, und lehnte ihn an einen Strauch. Die Wolkendecke hatte sich gelichtet und im Mondlicht war deutlich auszumachen, was es war.

»Das ist mein Bild!«, rief Chris. »Oh nein, ist es … ist es …«

»Ich kann keine Beschädigung erkennen«, sagte Alix. »Aber wir gehen besser rein ins Licht.«

»Mein Gott«, murmelte Chris wütend, als Alix das Bild vorsichtig aufhob. »Er wollte es klauen. Mein Bild. Wenn wir nicht gerade in diesem Moment gekommen wären …«

Sie verstummte plötzlich und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte Alix, dass sie beide, wenn auch mit einiger Verzögerung, den gleichen Gedanken hatten.

Liz. Wo war Liz? Was war mit ihr los? Warum hatte der Tumult sie nicht geweckt?

Sie rannten ins Büro. »Liz, bist du da? Wo bist du?«, rief Chris, während Alix an der Wand nach einem Lichtschalter tastete.

Als sie ihn gefunden hatte, gingen die grellen Leuchtstofflampen an der Decke flimmernd an und sie fanden die Antwort auf ihre Frage. An der Wand, hinter der nun leeren Staffelei, stand eine weinrote Ledercouch. Darauf ausgestreckt lag Liz mit offenem Mund, die Augen geschlossen. Arme und Beine waren unnatürlich verrenkt wie bei einer Marionette und ihr ganzer Körper war in der Hüfte stark verdreht. Auf dem Boden hinter ihrem Kopf lag ein weinrotes Kissen von der Couch.

»Liz?«, flüsterte Chris, als sie sich ihr vorsichtig näherte. Sie kniete sich neben die Couch, packte Liz bei den Schultern und schüttelte sie sachte. Dann etwas fester. »Liz!«

Alix hatte außer bei einer Beerdigung noch nie eine Leiche gesehen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass Liz tot war. Sie legte eine Hand auf Chris’ Arm. »Sie kann Sie nicht mehr hören«, sagte sie ruhig und holte ihr Handy raus. »Wir sollten die Polizei rufen.«

Image

Die nächsten zwei Stunden waren ziemlich hektisch, aber Alix nahm alles nur wie durch Watte wahr. Sie hatte kaum aufgelegt, da kam schon ein Rettungswagen der Feuerwehr und höchstens eine Minute später folgte ein Polizeiwagen mit zwei Uniformierten. Dann ein Tatortwagen und dann ein Privatfahrzeug, aus dem ein Detective Wilkin stieg, und schließlich das Auto des Gerichtsmediziners, der ins Büro eilte, um Liz’ Leiche in Augenschein zu nehmen.

Alix und Chris wurden einzeln von den beiden Streifenbeamten vernommen und dann noch einmal eingehender von dem Detective, der ihre Aussagen mit einem winzigen Kassettenrekorder aufnahm. Sie wurden zur Polizeiwache auf dem Camino Estrada gefahren, wo ein Lieutenant Mendoza sie wieder einzeln vernahm, und zwar noch gründlicher als die ersten beiden Male.

Mendozas Vernehmungstechnik war sehr ausgefeilt, und seine geschickt gestellten, bohrenden Fragen halfen Alix, sich an ein paar Einzelheiten über den Mann zu erinnern, der sie umgerannt hatte. Er war groß, mindestens eins siebenundachtzig, und stämmig. Er hatte rötliche Haare und einen gestutzten rötlichen Bart. Vielleicht war er auch blond, in der Dunkelheit schwer zu sagen. Und er war Pfeifenraucher. Ein starker Raucher. Geoff hatte auch mal intensiv Pfeife geraucht, deshalb kannte sie diesen Geruch gut. Mendoza fragte interessiert, ob sie die Tabaksorte erkannt hatte, aber sie wusste nur, dass es nicht die war, die ihr Vater geraucht hatte. Kurz nach zehn ließ man sie gehen. Chris wurde länger dabehalten, weil sie der Polizei mehr Informationen über Liz geben konnte, vermutete Alix.

Mendoza ließ sie mit einem Wagen zurück zur Hacienda bringen, aber sie stieg unterwegs am zentralen Platz aus, der um diese Zeit noch recht belebt war. Sie hoffte, es würde ihre Nerven beruhigen, normale Leute zu sehen, die über den Platz flanierten, in Restaurants aßen und ganz normale Sachen machten. Es half auch ein bisschen. Sie schlenderte zweimal um den Platz und lief dann zu Fuß die kurze Strecke zum Hotel. Dort hinterließ sie eine Nachricht für Chris, sie solle sie anrufen, falls sie vor Mitternacht zurückkäme. Als sie um halb eins immer noch nichts von ihr gehört hatte, ging sie ins Bett. Immer noch total aufgedreht, starrte sie eine Stunde lang die Deckenbalken an, bevor sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem sie immer wieder erwachte.

Image

Auch im alten Minenstädtchen Los Cerrillos an der Straße nach Albuquerque, dreißig Kilometer südlich von Santa Fe, hatte jemand Probleme mit dem Einschlafen. Brandon Teal saß im Dunkeln auf der morschen Veranda des Verwaltungsgebäudes der Silbermine Spanish Belle, nun sein Wohnhaus und Atelier, und schaukelte deprimiert hin und her. Er war Maler, noch dazu ein guter, was seine derzeitige Zwangslage – Zwangslage war maßlos untertrieben – nur umso schrecklicher machte. Trotz der vier Aspirin hatte er weiterhin pochende Kopfschmerzen und aus der notdürftig bandagierten Schnittwunde am Haaransatz sickerte noch immer Blut, aber das war seine geringste Sorge.

Fragen, auf die er keine Antwort hatte, schwirrten in seinem Kopf herum wie ein Schwarm Hornissen. Hatten sie sein Gesicht gesehen? Konnten sie ihn identifizieren? Wer waren sie überhaupt? War die Polizei bereits hinter ihm her? Sollte er für eine Weile untertauchen oder würde er damit erst recht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Und sein Bart? Sollte er den abrasieren oder nicht? Aber auf eine Frage würde er nie eine Antwort finden: Wie hatte er nur so dumm und geldgierig sein können, sich in einen solchen Schlamassel zu reiten?

Er griff nach der Halbliterflasche Wild Turkey neben sich auf dem Boden. Er hatte sie ungeöffnet aus dem Schrank genommen und jetzt war sie halb leer. Er musste würgen, als er den Whiskey hinunterschluckte. Teal trank sonst nie Alkohol. Ihm wurde nur schlecht und er konnte nicht mehr klar denken. Er braucht jemanden, und zwar dringend, der ihm sagte, was er tun sollte.

Er stolperte aus dem Atelier, fand ein Telefon und hackte mit tauben, hölzernen Fingern auf die Nummerntasten ein.